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Fertigungsindustrie vor grundlegendem Umbruch

Globale Marktkräfte und technologische Innovationen werden einer Studie zufolge die Fertigung grundlegend verändern und eine kontinuierliche Weiterentwicklung ihrer Strukturen notwendig machen. Dem muss sich auch der schweizerische Mittelstand stellen.
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Die Fertigungsindustrie befindet sich in einer frühen Phase eines grundlegenden Wandels, der möglicherweise die wichtigste Umgestaltung der gängigen Geschäftsmodelle seit der industriellen Revolution darstellt. Das ist die Kernaussage einer Befragung von Oxford Economics zu den Zukunftserwartungen von 300 Führungskräften weltweit tätiger Unternehmen. Fast 70 Prozent gehen davon aus, dass die Mischung aus externen Markteinflüssen, moderner Technologie und neuen Wettbewerbern eine einschneidende «Transformation» der Geschäftsabläufe ihrer Unterneh­men innerhalb der nächsten drei Jahre erforderlich macht. Die Studie analysiert die sieben Haupteinflussfaktoren, die das globale Marktumfeld der Fertigungsindustrie in den nächsten Jahren bestimmen werden und zeigt Lösungen auf, mit welchen konkreten Strategien die internationale Wettbewerbsfähigkeit gesichert werden kann. Denn die Veränderungen hin zu neuen Prozessabläufen bergen auch Chancen mit völlig neuen Geschäftsmodellen.

Umdenken erforderlich

Die Studie «Fertigungsindustrie im Wandel – Wie in einem veränderten globa­len Marktumfeld Wettbewerbsvorteile erschlossen werden können» wurde vom britischen Marktforschungsunternehmen Oxford Economics in Zusammen­arbeit mit PTC durchgeführt. Die Online­umfrage und eine Reihe von Einzelge­­sprächen bei 300 Führungskräften er­gaben, dass «für einen effektiven, dauerhaften Wandel erstens ein Umdenken bei Strategie und Planung, zweitens eine starke Konzentration auf die Schaffung eines servicebasierten Mehrwerts sowie drittens die Einführung technologie­gesteuerter Innovationen über die herkömmliche Forschung und Entwicklung hinaus erforderlich sind.» Es gehe darum, die Gesamtsituation zu optimieren und die Prozesse zu verbessern. So kann Innovation von der Konzeptionierung bis zur Ausserbetriebnahme stattfinden.

Gut 40 Prozent der Befragten waren C-Level-Führungskräfte (CIO, CEO, CTO, CMO) und knapp 60 Prozent berichteten direkt an einen C-Level. Da nicht nur Schweizer Grossunternehmen, sondern auch KMU mit immerhin 110 Weltmarktführern (Stand 2012), den sogenannten «Hidden Champions», stark exportorientiert sind (zum Vergleich: Italien: 76, Frankreich: 75 und Grossbritannien: 67), sind die Ergebnisse der Studie gerade auch für den Schweizer Markt von besonderer Relevanz. (Daten des BMWi, unter anderem aus «German Mittelstand: Motor der deutschen Industrie»).

Sieben Trends

Diese Fakten belegen, dass sich auch der schweizerische Mittelstand in hohem Masse den globalen Marktveränderungen stellen muss, um künftig wettbewerbsfähig zu bleiben. Die Oxford-Studie ermittelt sieben Kräfte, die das Potenzial haben, grundlegende Veränderungen in der produzierenden Industrie auszulösen. Die sieben genannten Marktentwicklungen, die das globale Umfeld der Fertigungsunternehmen verändern, sind:

1. Verlagerung der Märkte

Aufgrund rezessiver Trends in den Industrieländern und der steigenden Bedeutung von wachstumsstarken Schwellenländern. Laut einer Studie von McKinsey sollen 2015 bis zu 70 Prozent der weltweiten Nachfrage aus Entwicklungsländern kommen.

2. Technologischer Wandel

Innovationen wie das Internet der Dinge (in Deutschland unter dem Begriff «Industrie 4.0» bekannt), Big Data, mobile Geräte, 3D-Druck, Social und Cloud Computing wurden als zweithäufigstes genannt. Damit zusammen hängen Trends wie etwa die weiter fortschreitende Di­gitalisierung (z. B. digitale Medien), der wachsende Softwareeinsatz auf allen Ebenen, auch in Verbindung mit «intelligenten» Produkten, sowie die sich ausbreitende Vernetzung, die eine Überwachung oder Wartung online ermöglicht.

3. Personelle Herausforderungen

Durch Fachkräftemangel in den Industriestaaten und fehlendes Management-Know-how in den Schwellenländern – vor allem in Schlüsselmärkten und -funktionen (key markets and function).

4. Komplexität der Wertschöpfungskette

Durch verteilte Beschaffung, Entwicklung und Produktion, da mehr Partner im Hinblick auf weitere Qualitäts-, Compliance- und Risikoaspekte verwaltet werden müssen.

5. Stärkerer weltweiter Wettbewerb

Sodass Unternehmen ihre inländischen Märkte gegenüber Konkurrenten aus Übersee verteidigen und gleichzeitig für langfristiges Wachstum neue Märkte erobern müssen.

6. Zunehmende Regulierung

Aufgrund von Umweltbedenken und auf Standards basierenden Faktoren wie der Einhaltung von ISO-Normen, die in einer immer stärker vernetzten Welt gelten. Die Kosten für die Einhaltung solcher Vor­gaben sollen laut einer MAPI-Studie (Manufacturers Alliance for Productivity and Innovation) erheblich schneller wachsen als die Wirtschaft insgesamt.

7. Verändertes Kundenverhalten

Zum Beispiel fragmentierte Kundennachfrage. Standardprodukte reichen für einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil nicht mehr aus, da individuelle Kundenpräferenzen immer mehr in den Vordergrund rücken. Das Ziel muss deshalb sein, skalierbare Lösungsansätze zu entwickeln, die von regionaler und marktspezifischer Anpassung bis hin zu den ganz persönlichen Wünschen und Vorlieben reichen.

Da die Auswirkungen der sieben Kräfte je nach Unternehmensgrösse, nach Branche oder Region, aber auch nach Unternehmensfunktion unterschiedlich sind, ist in jedem Unternehmen eine genaue individuelle Analyse der Einflussgrössen unerlässlich. Beispielsweise wurde die Verlagerung der Märkte von Unternehmen im Maschinen- und Anlagenbau mit 74 Prozent wesentlich wichtiger bewertet als vom Durchschnitt. Oder auch die Führungskräfte aus dem Engineeringbereich ordnen den Einflussfaktoren teilweise andere Gewichtungen zu.

Strategie & Planung optimieren

Wie wollen die Unternehmen nun diesen Herausforderungen begegnen? Welche Massnahmen und Lösungsansätze sehen die Führungskräfte, um die strategische Transformation zu mehr Wettbewerbs­fähigkeit zu vollbringen? Wie gesagt, 68 Prozent gehen davon aus, dass die Geschäftsabläufe in den nächsten drei Jahren substanziell überarbeitet werden müssen. Der wichtigste Ansatz ist dazu laut Befragung eine stärkere Konzentration und neue Koordination der Strategie- und Planungsaktivitäten für Produkte (43 Prozent), für Service (37 Prozent) und für Fertigung / Lieferantennetz (31 Prozent). Die Aufwertung von Strategie und Planung verspreche eine grössere Ertragssteigerung als eine weitere Opti­mierung der betrieblichen Fertigungs­abläufe. Denn bei den Fertigungsab­läufen sehen durch die konzentrierten Be­mühungen der letzten 50 Jahre 52 Prozent (in drei Jahren: 71 Prozent) das Einsparpotenzial bereits als ausgereizt an.

Wobei man zusätzlich anmerken kann, dass gerade auch die Vergangenheit gezeigt hat, dass der Status quo immer eine Momentaufnahme ist und technische Innovationen die Betriebsabläufe leicht auf einen neuen Effizienzlevel heben können. In jedem Fall sind für 65 Prozent (in drei Jahren 71 Prozent) der Führungskräfte optimierte Fertigungsprozesse und Betriebsabläufe eine Grundvoraussetzung, die jeder Marktteilnehmer für den erfolgreichen Markteintritt vorweisen muss. Die Betriebsabläufe bieten somit langfristig kaum noch die Möglichkeiten zur Differenzierung als Alleinstellungsmerkmal, die sie in der Vergangenheit hatten.

Eine ganze Reihe von Massnahmen werden in der Studie unter der Überschrift Strategie- und Planungsprozesse angeführt. Als Reaktion auf die Fragmen­tierung von Kundennachfragen wollen mehr als zwei Drittel der Befragten Kundenpräferenzanalysen einführen. Mehr als die Hälfte sieht die Entwicklung vernetzter beziehungsweise «intelligenter» Produkte zur Schaffung eines Feedback-Kreislaufs für die Kundendaten. Und nochmals fast die Hälfte plant sogar, zum besseren Bedienen der Anforderungen der Kunden in neuen Wachstumsmärkten eine Produktion vor Ort aufzubauen. Um proaktiv auf Markttrends reagieren zu können, wird die strategische Planung einer engeren Koordination zwischen Entwicklung, Produktion und Service in den nächsten drei Jahren auf 73 Prozent steigen. Dazu soll eine Rückkopplung aus dem Service für eine direkte Produktverbesserung eingerichtet werden (von 52 auf 65 Prozent). Als weitere Methoden für eine engere Koordination wird in den nächsten drei Jahren die globale Produktentwicklung mittels geografisch verteilter Entwicklerteams sich verdoppeln, wie ebenfalls das System-Engineering um 59 Prozent, das globale Portfolio-Management um 50 Prozent und globale Produktplattformen, bei denen eine anpassbare Produktfamilie auf einer all­gemeinen Plattform basiert, um 49 Prozent zulegen sollen.

Neue Geschäftsmodelle

Heute betrachten Fertigungsunternehmen Servicedienstleistungen wie Reparatur oder Wartung nicht mehr nur als Anhängsel des Produktverkaufs, sondern als klares Wertangebot und eigenständigen Umsatzträger. 77 Prozent der Führungskräfte sehen im Service einen Faktor für die Wettbewerbsfähigkeit – bei europäischen Unternehmen sogar 82 Prozent. 70 Prozent wollen bis 2015 die Servicedienstleistungen als Alleinstellungsmerkmal nutzen und mehr als die Hälfte plant, den Service als Profitcenter zu etablieren. Andere Strategien zur Serviceaufwertung sind leistungsbezoge­ne Wartungsverträge (70 Prozent) oder auch das Produkt als Dienstleistung zu verkaufen wie bei Rolls-Royce. Der britische Flugzeugmotorenhersteller verkauft seinen Kunden in einem speziellen Angebot nicht Motoren, sondern Nutzungszeit. Generell lebt das service­basierte Wertangebot von den Kunden­daten, deshalb sehen 60 Prozent der Befragten Fern­diagnose­verfahren auf Basis von softwareinten­siven, intelligenten und vernetzten Pro­dukten als einen wichtigen Baustein. Die stärkere Konzentration auf intelligente Produkte deutet laut einem CTO im persönlichen Interview darauf hin, dass Produktlebenszyklen und Kundenerlebnis für den Wandel wichtiger werden als das reine (Hardware)-Produkt. Damit sei Innovation die Aufgabe aller Bereiche und nicht nur der Forschungs- und Entwicklungsabteilung. Innovationen erforderten neben der technischen Herausforderung auch eine strategische Blickrichtung, um Trends zu nutzen.

Weltweit fertigen lassen

Die Unternehmen setzen branchenübergreifend mit ihren Innovationen auf Produktstrategie sowie -entwicklung (76 Prozent), Lieferkette (68 Prozent) und Service (68 Prozent – jeweils in drei Jahren). Andere Innovationstrends sind die «reverse Innovation», das heisst, dass Produkte oder Dienstleistungen für Schwellenländer entwickelt und dann in die gesättigten Märkte zurückgebracht werden (50 Prozent in drei Jahren). Ein weiterer bedeutender Trend, der in den kommenden drei Jahren um 125 Prozent steigen wird und dann 58 Prozent der Fertigungsbetriebe betreffen wird, ist, dass Unternehmen vermehrt weltweit entwickeln, fer­tigen und Serviceleistungen anbieten werden. Interessant auch die Idee eines Fallbeispiels, einen offenen Innovationsprozess über ein Innovationsportal einzurichten, damit nicht nur die hauseigenen Erfinder ihre Ideen einbringen können, sondern auch externe Mitarbeitende.

Fazit

Das Ergebnis der Studie, dass Strategie und Planung auch bei technischen Innovationen die Basis sein muss, gilt sicher auch für die forcierte Entwicklung von cyberphysischen Systemen im Rahmen von Industrie 4.0. Nur wenn revolutionäre Produktinnovationen auch auf die Managementebene getragen werden, können die dazu optimalen Geschäfts­modelle eingerichtet werden. Und die werden letzten Endes helfen, dass sich die Innovation im Unternehmen und im Markt trotz aller Widerstände, die bei Innovationen immer auftauchen, durchsetzt. Diese These belegen auch aktuelle Untersuchungen von Prof. Dr. Hans-Georg Kemper an der Universität Stuttgart, der der Frage nachgegangen ist, «ob eine industrielle Revolution allein durch die Existenz neuer Techniken ini­tiiert wird – oder letztere eher als Befähiger innovativer Geschäftsmodelle und -prozesse ihren Beitrag zu sprunghaften industriellen Fortschritten gebracht haben».

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