Strategie & Management

Unternehmensführung (Teil 2 von 2)

Die Rolle des CEO in der Selbstorganisation

Wird Selbstorganisation als eine Organisationsform verstanden, in der die formale Macht mit den Mitarbeitenden geteilt wird, stellt sich die Frage nach der Rolle des CEOs. Dieser zweite und letzte Teil der Serie beschreibt, welche bisherigen Führungs­auf­gaben von CEOs entfallen und welche neuen Führungskompetenzen gefragt sind.
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Der ehemalige Unternehmensberater Frédéric Laloux benennt zwei Führungsaufgaben, die für CEOs in der Selbstorganisation entfallen. Diese sind:

  • Alle Entscheidungen mit grosser Tragweite fällen.
  • Die Organisation antreiben, 
  • Druck ausüben.

Kernaufgaben entfallen

Warum diese Kernaufgaben während der Transformation zur Selbstorganisation entfallen und zu welchen Herausforderungen dies führt, zeigen nachfolgende Ausführungen.

Alle Entscheidungen mit grosser Tragweite fällen

Alle Entscheidungen mit grosser Tragweite zu fällen, ist die heutige Kernaufgabe von CEOs. Es heisst ja nicht ohne Grund «Chief Executive Officer». Der CEO bekommt Themen, Herausforderungen und eine Vielzahl an Entscheidungsvorlagen auf den Tisch, die das ganze Unternehmen betreffen, und hat zu entscheiden, was zu tun ist. Diese Rolle nimmt einen Grossteil der Arbeitszeit der heutigen CEOs in Anspruch und wird in der selbstorganisierten Organisationsform nach klaren Prinzipien von allen Mitarbeitenden in ihren Rollen übernommen. Es ist das, was Laloux mit «Distribution of Power» (Die Verteilung der Macht) meint. 

Für den CEO heisst dies in der Konsequenz, dass es ihn im Tagesgeschäft viel weniger benötigt; es verschafft ihm den Raum, neue, viel wichtigere Rollen auszuüben. Zudem führt dies dazu, dass der CEO nicht mehr unter extremer Dauerbelastung steht, die eine Folge der Gesamtverantwortung für das Wohl der Organisation ist. 

Selbstorganisation führt dazu, dass die Verantwortung für das Ganze von vielen getragen wird. Die Anforderung, die ich in meinen 20 Jahren als Berater immer wieder von Führungskräften zu hören bekam, lautet: «Unsere Mitarbeitenden sollen mehr unternehmerisch denken und handeln.» Oftmals habe ich mit der Aussage gehadert, weil dies bei unveränderten Top-down-Machtstrukturen ein Ding der Unmöglichkeit ist. 

Für diese durchaus berechtigte Anforderung benötigt es gänzlich neue Rahmenbedingungen, diese schafft die Selbst­organisation.

Der bekannte und oft gehörte Einwand bei Selbstorganisation ist: «Was passiert, wenn das Unternehmen in eine Krise schlittert, wie können dann rasch die notwendigen Entscheidungen gefällt werden, um Gröberes zu verhindern?» In den Beschreibungen der Organisationen, die Laloux untersucht hat, werden viele Beispiele aufgezeigt, die belegen, dass gerade durch die Selbstorganisation schnelles lösungsorientiertes Handeln möglich wird. Beim Automobilzulieferer Favi (Frankreich) wurde zum Beispiel innerhalb weniger Stunden eine Teilzeitbeschäftigung beschlossen, bis der Umsatzausfall infolge abgesprungener Kunden wieder durch Neu-Aufträge kompensiert werden konnte. Das kollektive Wissen der Mitarbeitenden und das unternehmerische Denken, verbunden mit dem hohen Engagement, werden genutzt, damit in der Krisensituation rasch effektive Lösungen gefunden werden können. 

Aber es bleibt eine Falle bei der Transformation zur Selbstorganisation, dass im Moment, wo es eng wird, der CEO wieder reflexartig in die alte Rolle rutscht und das Ruder übernimmt. Hier ist eine vertrauensvolle Kollaboration entscheidend, was auch beinhaltet, den Menschen und ihrem Lernprozess zu vertrauen. Es bedingt aber auch, dass der CEO Menschen um sich hat, die sich getrauen, ihm den Spiegel vorzuhalten, wenn er in alte Muster zurückfällt. 

Es ist auch zu bemerken, dass Selbstorganisation manche Mitarbeitenden, vor allem durch ihre Sozialisierung, vor grosse Herausforderungen stellt. Nicht jeder Mensch ist geschaffen für diese Transformation, das muss beachtet werden. Es gibt solche, die mit der grösseren Verantwortung aufblühen, andere folgen ihnen und wieder andere können oder wollen den Schritt nicht machen. Dort gibt es interessante Erfahrungswerte bei Unternehmen wie Spotify, die den Mitarbeitenden drei Monate verlängerte Kündigungsfristen gewährten und damit einen fairen Abgang ermöglichten, wenn sie die Reise nicht mitmachen wollten.

Die Organisation antreiben, indem der CEO Druck ausübt

Viele CEOs sehen ihre Aufgabe darin, die Mitarbeitenden regelmässig auf die Herausforderungen der Firma hinzuweisen und zu Höchstleitungen anzuspornen. In tayloristischen, Hierarchie-gestützten Organisationsformen kommt dem CEO in der Spitze der Pyramide die Aufgabe zu, Mitarbeitende über Appelle anzutreiben, zum Beispiel erfolgreicher zu sein, weniger Kosten zu verursachen, innovativer zu werden, sich unternehmerischer zu verhalten. In Krisenzeiten kann man dieses Führungsmuster verstärkt beobachten.Weil der CEO eine meist mächtige Position hat, übt er damit – ob er will oder nicht – Druck aus auf die Mitarbeitenden. In dem Sinne hat der CEO in der Rolle sinnbildlich immer die Peitsche im Sack, weil er (implizit) mit negativen Konsequenzen droht. 

Laloux bezeichnet diese traditionellen Verhaltensweisen der Machtausübung über andere als «power-over». Ich entziehe anderen Macht (Einfluss), indem ich Macht ausübe. Indem der CEO, obwohl er gegenüber Vorstand und Aktionären eindeutig die Endverantwortung trägt, dieses Muster hinter sich lässt und auf andere Weise Einfluss auf das Geschehen nimmt, kann er die Organisation in eine andere Richtung führen.

Die neuen Kompetenzen 

Nun kommt Laloux zum interessantesten Teil, den neuen Führungskompetenzen. Er beschreibt den für die Selbstorganisation notwendigen Führungsstil als «power-with». Dieser hat zum Ziel, die Macht (den Einfluss) mit anderen zu teilen, über vereinbarte Rollen. Der CEO trägt mit diesem Führungsstil Sorge, dass die Rollenträger ihren Einfluss wahrnehmen können. Dieser «power-with»-Führungsstil, den man auch als transformativ bezeichnen kann, beinhaltet vier Führungskompetenzen:

  • Den Raum halten
  • Rollen gestalten
  • Einladungen aussprechen
  • Kontexte schaffen, damit andere entscheiden können

Den Raum halten

Manche werden Mühe haben mit der Wortwahl für diese Kompetenz, sie benötigt in der Tat eine Erklärung. Der CEO hält den Raum für die Transformation hin zu einer Organisationsform, die grundlegend anders ausgerichtet ist. Verantwortlichkeit und Macht sind nicht mehr oben in der Pyramide konzentriert. Sie sind nach klaren Regeln verteilt an transparent beschriebene Rollen und Teams. 

Der CEO hält den Raum der Transformation, in dem er immer wieder an die Intentionen der Transformation erinnert und daran, welche Werte die Zusammenarbeit prägen. Diese Werte sind vereinbart und werden in einem Leitbild oder Manifest festgehalten. Vor allem dann, wenn es Tendenzen gibt, in das alte «command and control»-Paradigma zurückzufallen, zum Beispiel bei Regelverstössen oder Krisen, kann der CEO durch Interventionen diese Werte bewusst machen, um zu verhindern, dass durch einen Regelverstoss die gesamte Belegschaft unter Generalverdacht steht und das ganze Modell infrage gestellt wird.

Der CEO hält den Raum für neue Führungspraktiken, welche die Selbstorganisation ermöglichen sollen. Die Art, wie Entscheidungen gefällt werden oder Teamsitzungen ablaufen oder wie die Beurteilung des individuellen Beitrags reflektiert wird (Feedback), ist ein Beispiel dafür. «Den Raum halten» ist vor allem ein innerlicher Vorgang, in dem der CEO den Sinn und Zweck der Transformation verinnerlicht hat, ihm seine volle Aufmerksamkeit gibt und die erklärten und vereinbarten Grundprinzipien konsequent vorlebt. 

Buchautor und Berater Dr. Dean Anderson fasst dies so zusammen: «Die Transformation der Organisation steht in direkter Relation zu dem Bewusstseinsgrad des CEOs und der oberen Führungskräfte.» Es hat also viel mit Präsenz zu tun. Am Anfang hat primär der CEO diese Aufgabe des «Raumhaltens» und steht ein für den Paradigmenwechsel. Diesen Auftrag kann er sich nur selber geben. Wenn die Transformation erfolgreich sein soll, so sollten bald andere dazukommen, die ebenfalls diesen Raum halten können.
 
«Raum halten» ist nicht eine Kompetenz, die wir von heute auf morgen meistern können oder die sich mit einer Checkliste erproben lässt. Sie hängt eng zusammen mit dem inneren Reifegrad und dem Bewusstsein der Person, die den Raum hält. Wenn ich für mich und meine eigene Entwicklung den Raum halten kann, so kann ich auch den Raum halten für die Entwicklung einer Gemeinschaft von Menschen, einer Organisation. 

«Raum halten» ist die grundlegend neue Kompetenz in der Führung einer selbstorganisierten Organisation. Sie ist das Fundament, auch für die nachfolgenden Kompetenzen. Ich erhoffe mir, dass, wenn dieser Paradigmenwechsel mehr und mehr stattfindet, wir ein passendes neues Vokabular entwickeln können für diese neue Kompetenz. Bekanntlich benötigt ein neues Mindset auch eine andere Sprache, damit es verstanden werden kann. Hier wird unsere Kreativität gefordert.

Rollen gestalten

In der Selbstorganisation haben die Po­sitionen in der Organisation nach innen weniger Bedeutung. Dafür werden die verschiedenen Rollen der Beteiligten viel wichtiger. 

Neue Fragen stellen sich:

  • Wer hat welche Rollen und was heisst dies konkret bezüglich der damit einhergehenden Verantwortung? 
  • Was trage ich in meiner Rolle zum Purpose der Organisation(seinheit) bei?
  • Was heisst es im Alltag, wenn die Zusammenarbeit rollenbasiert ist und sich nicht mehr daran orientiert, wer welche Position und Macht hat? 

Alle Mitarbeiter sind ständig eingeladen, sich bewusst zu sein, aus welcher Rolle sie gerade handeln und sprechen und wann sie schweigen sollten. Rollenklärungen gehören zum Alltag der Kollaboration und bekommen Gefässe dafür (zum Beispiel Tension-Meetings). Dies verschafft Rollenklarheit und unterstützt die effektive Zusammenarbeit. Der CEO kann diesen, am Anfang aufwendigen Prozess der Rollengestaltung vorantreiben, indem er sich daran beteiligt, indem er in der Arbeit mit dem Führungsgremium (Governance) beispielhaft vorangeht und auch dort die Rollenklärungen vornimmt.

Einladungen aussprechen

Auf dem Weg der Transformation hin zu einer Selbstorganisation gibt es unzählige Themen, die neu organisiert werden müssen. Der CEO hat dabei die Aufgabe, wenn solche neuen Themen aufkommen, echte Einladungen auszusprechen, zum Beispiel indem er fragt: 

  • «Wer ist interessiert, eine neue, auf Selbstorganisation und Selbstverantwortung basierte Spesenregelung zu erarbeiten.» Oder:
  • «Wie gestalten wir den On-Boarding-Prozess auf Grundlage der Werte der Selbstorganisation neu?» Oder: 
  • «Wie können wir vollständige Transparenz für alle Mitarbeitenden schaffen in Bezug auf Wertschöpfung in der Organisation, damit alle Mitarbeitenden ihre Verantwortung wahrnehmen können?» 

Der CEO hilft, diesen Prozess zu gestalten, ohne seinen Stempel aufzudrücken. Er ist am Anfang der Treiber der Transformation, indem er, wenn Fragestellungen aufkommen, offene Einladungen ausspricht und «Ressourcen spricht». Wer die neuen Rollen dann letztendlich übernimmt, entscheidet nicht er, sondern es folgt aus dem vereinbarten Entscheidungsvorgehen.

Kontexte schaffen, damit andere entscheiden können

In der pyramidalen Organisation ist der CEO der höchste Entscheidungsträger. In der Transformation zur Selbstorganisation mit verteilter Macht benötigt es also für viele Entscheidungen einen neuen Kontext. Diese Aufgabe hat der CEO, er hilft, dass Kontexte geschaffen werden, damit Entscheide einfach und selbstorganisiert getroffen werden können. 

Der CEO unterstützt das kollektive Lernen mit anfangs ungewohnten Praktiken und ist Rollenvorbild für die praktische Umsetzung. Er unterstützt in dieser Rolle zum Beispiel die Gestaltung von neuen Formen der Entscheidungsfindung, wie dem Beratungs- oder dem Konsent-Entscheidungsprozess. Im Konsent-Entscheidungsprozess ist das Argument entscheidend und nicht die Positionsmacht. 

Der CEO «spricht kein Recht», entscheidet also nicht, wie zu handeln ist, wenn Spannungen zwischen Rollen oder Interessengruppen auftreten, sondern indem er vorlebt, wie man zu Lösungen kommt, ohne in die alten Problemlösungsmuster zurückzufallen, zum Beispiel: «Die weiter oben sollen es lösen.» Er macht dies durch verschiedenste Interventionen, indem er zum Beispiel von den Rollenverantwortlichen einfordert, dass sie selber entscheiden und nicht «nach oben» die Verantwortung delegieren.

Der CEO muss natürlich selbst mit gutem Beispiel vorangehen in der Transformation, indem er sich auch für seine eigenen Fragen und Unsicherheiten Input im Unternehmen einholt, sich Zeit nimmt für seinen eigenen Reflexions- und Lernprozess. 

Der CEO führt die Transformation an, mit all dem, was er tut und unterlässt. So lange, bis eine genügend grosse Anzahl von Mitarbeitenden an Bord ist. Um bei dem Bild zu bleiben: Wenn sich das Schiff der Transformation mehr und mehr selbst­organisiert durch die Wellen bewegt, wenn nicht mehr der Skipper alle Massnahmen ankündigt, wenn die rechte Hand weiss, was die linke Hand tut, wenn die Selbstregulation greift, dann benötigt es den CEO vor allem, um den Raum zu geben und sich selber dabei mehr und mehr zurückzunehmen. 

Dann ist die Organisation ein bewegliches und lebendiges Netzwerk am Werden, von Menschen, die miteinander Werte schaffen wollen für andere. Und dann übernimmt der CEO arbeitsteilig gewisse Verantwortungen – nicht weil er CEO ist, sondern weil er das besonders gut kann. 

Ich selber bin überzeugt, dass selbst wenn dieser Zustand erreicht ist, es eine Form von übergeordneter Führung benötigt, unter anderem durch einen CEO oder durch ein Leitungsteam im Sinne einer geteilten Führung (Governance). 

Die beschriebene grundlegende Transformation zu geteilter Macht benötigt viel Führung, auch weil die Selbstorganisation eine klarere, diszipliniertere Organisation als andere Organisationsformen ist. Aufgrund meiner Erfahrungen in der Begleitung solcher Transformationen sind die erarbeiteten Strukturen und Prozesse die neue Hierarchie in der Organisation. Solange diese nicht hinterfragt und überarbeitet werden müssen, sind diese verbindlich für alle. Wer sich nicht daran hält (der CEO inklusive), muss mit kritischem Feedback rechnen.

Fazit

Es ist kein Paradox, in der Selbstorganisation einen CEO oder ein Führungsteam zu haben. Es kommt auf das Führungsverständnis an. Selbstorganisation benötigt ein ganz anderes Führungsverständnis, mit neuen, noch wenig gelernten Führungsfähigkeiten. Alle Mitarbeitenden führen, innerhalb der vereinbarten Rollen. Jeder und jede ist Führungskraft. Ein Führungskader gehört somit zum Vokabular der Vergangenheit. Es gibt kein Unten und Oben mehr, sondern ein Miteinander: power with.

Anmerkung des Autors: Im Verlauf des Schreibens habe ich mich entschieden, fünf CEOs und einen Amtsleiter um Feedback zu bitten. Sie führen in ihren Organisationen genau diese Art von Transformation an und haben mir aus ihrer Perspektive Feedback gegeben. Ich habe dies einfliessen lassen in meinen Artikel. Mein herzlicher Dank geht an Samuel Bon (CEO Swisscontact), Laurent Decrue (CEO Movu), Hermann Arnold (VR-Präsident und CEO a.i. Haufe Umantis), Jean-Pierre Kuhn (CEO Modissa), Daniel Humbel (CEO Transa) und Frank Heinzmann (Leiter Amt für Bildung und Sport).

Porträt