Perfektionismus ist eine psychologische Dimension, die das Handeln von Menschen prägt. Sie geht zwanghaft über ihre funktionale Variante, die Gewissenhaftigkeit, hinaus. Perfektionisten streben perfekte Lösungen «um jeden Preis» an, auch um den ihrer eigenen Gesundheit. Die Grenze zwischen perfekt und perfektionistisch ist fliessend. Das trifft für Menschen zu und für Organisationen.
Während «perfekt» zu hervorragenden Produkten und oft auch zu hohen Margen führt, macht Perfektionismus Menschen krank und verblödet Organisationen. Diese Erscheinungen nehmen zu. Das ist vor allem deshalb so tragisch, weil Perfektionismus eigentlich nur auf einem grossen Irrtum beruht. Trotzdem breitet er sich aus wie eine schleichende Krankheit. Aber es gibt Gegenmittel.
Unvermeidbare Fehlerquoten
Wir leben und wirtschaften in einer komplexen Welt und nichts ist berechenbar. Mit elementarer Wucht schlagen immer wieder Ereignisse in unseren Alltag, die niemand vorausgesehen hat und die, allen Vorhersagen gemäss, eigentlich gar nicht hätten passieren können. Da fällt plötzlich die Berliner Mauer, und Europa verändert sich. Fukushima löst eine abrupte 180-Grad-Drehung in der Energiepolitik mit drastischen Folgen für viele Industriezweige aus. Über Nacht stürzt die VW-Aktie wegen einer unglaublich dummen Manipulation der Abgaswerte ab. Eine Unternehmung wird in kurzer Zeit von einem Wettbewerber übernommen und in Stundenfrist müssen Mitarbeiter entlassen werden.
Schwarze Schwäne
Für solche abrupten Änderungen mit einschneidender Wirkung hat sich der Begriff «Schwarzer Schwan» eingebürgert. Aber auch bei den viel kleineren Dingen des Alltags wirkt die Komplexität und führt zu Abweichungen zwischen dem, was man möchte, sich vorgestellt oder geplant hat und dem, was dann tatsächlich eintritt. Der Plan für den Tag war perfekt, aber bereits nach der ersten Stunde läuft alles ganz anders. Das Poulet heute Mittag ist nicht so gut gelungen wie vorige Woche. Trotz der sorgfältigen Arbeit und einer Qualitätskontrolle kommen mangelhafte Artikel zur Auslieferung und müssen zurückgerufen werden. Der erfahrene Installateur hat sich alle Mühe gegeben, und trotzdem tropft der Wasserhahn nach zwei Tagen wieder.
Solche Dinge passieren täglich, wenn sie auch an der Gesamtzahl der Ereignisse einen nur geringen Anteil im Prozent- oder Promillebereich stellen. Aber: Perfektion wäre 100 Prozent. Und die wird eben nicht erreicht. Unmöglich. Es bleibt immer eine statistische Fehlerquote, die nicht unterschritten werden kann. Trotz grössten Bemühens.
Gefahr der Überforderung
Wenn das so ist, sollte das unbedingte, bedingungslose Streben mancher Menschen nach der perfekten Lösung misstrauisch machen. Solange dahinter eine Haltung von Gewissenhaftigkeit, ein hoher persönlicher Anspruch an Leistung und Organisiertheit steht, gibt es keine Einwände. Wenn jedoch die Grenze zu Zwanghaftigkeit überschritten wird, permanente Versagensängste und depressive Symptome auftreten, dann kann es kritisch werden. Man nennt diese Menschen Perfektionisten. Ihnen genügt Gewissenhaftigkeit nicht, das in der Situation Menschenmögliche zu tun. Zwanghaft treiben sie sich selbst und ihre Umgebung an, sind niemals zufrieden, tolerieren keinerlei Abweichungen, erlauben kein Nachlassen. Sie jagen einem Phantom nach.
Es ist leistungsfördernd, auch im Sinne von Unternehmen, Familien und der Gesellschaft, eine Spannung zwischen «Soll» und «Ist» aufzubauen. Das lässt uns nach Weiterentwicklung, ständiger Verbesserung streben und ist grundsätzlich gesund. Wenn allerdings aus dem «Soll» ein «Muss» wird, handelt es sich eindeutig um eine Dysfunktionalität. Der Perfektionist handelt zwanghaft, weil angstgetrieben. Er ist einem erhöhten Distress ausgesetzt. In verschiedenen klinischen Studien wurden Zusammenhänge mit kritischen Krankheitsbildern hergestellt, wie Angst- und Zwangsstörungen, Alkoholismus, Anorexia nervosa, Bulimia nervosa, Depression, sexuelle Funktionsstörungen bis hin zu Selbstmordgedanken.
In einer immer enger werdenden Welt (nicht im räumlichen Sinne, sondern unter Markt- und Wettbewerbsaspekten) wächst zwangsläufig der Arbeits- und Leistungsdruck. Zweifellos auch im Zusammenhang damit überschreiten mehr und mehr Menschen die Grenze zum Perfektionismus. Sie gefährden sich damit selbst und ihre Umgebung. Genau aus diesen Gründen wächst auch die Burnoutrate beängstigend an.