Angst wird in unserer Kultur als negative Emotion klassifiziert. Sie gilt als irrational und unprofessionell. Menschen, die Angst haben, sind schwach und unfähig. Wir glauben, dass Angst lähmt und uns erstarren lässt. Daher versuchen wir, die Angst zu vermeiden, so gut es geht. Was wir dabei übersehen: Angst ist eine unserer grössten Ressourcen.
Negativ belegt
Unsere negative Prägung in Bezug auf Angst passiert schon in der frühen Kindheit. Wenn wir als Kind Angst hatten, zum Beispiel vor der Dunkelheit, dann wurde diese Angst meist belächelt oder als dumm abgewertet. «Du brauchst keine Angst zu haben. Das ist überhaupt nicht schlimm. Jetzt stell dich nicht so an, du bist ein richtiger Schisser!» Angst gilt als irrational und daher sollten Erwachsene auch keine Angst haben. «Angst ist ein schlechter Berater», heisst ein deutsches Sprichwort.
Wir empfinden das Gefühl Angst als unangenehm. Daher meiden wir die Angst wie der Teufel das Weihwasser und verdrängen sie ins Unbewusste. Wir schliessen Versicherungen ab, geben uns der Illusion von Sicherheit und Kontrolle hin und bleiben innerhalb der uns bekannten Grenzen unserer Komfortzone, nur um keine Angst fühlen zu müssen. Also haben wir früh gelernt, die Angst wegzupacken – sehr zur Freude all derjenigen Branchen, die uns Produkte verkaufen wollen, welche uns das Leben angeblich sicherer machen. Wer sich mal bewusst die Fernsehwerbung ansieht, wird feststellen, dass viele Produkte und Spots genau auf unsere Angst vor der Angst abzielen. Unsere unbewusste Angst vor der Angst macht uns zu gut manipulierbaren Konsumenten und zu braven, angepassten Bürgern, die möglichst wenig Risiken eingehen.
Selbst in den meisten spirituellen Lehren wird die Angst als etwas Negatives dargestellt. Da wird zum Beispiel Angst sehr häufig als das Gegenteil von Liebe deklariert. Insgesamt werden sogenannte «negative» Gefühle als Indiz dafür genommen, dass wir noch zu sehr mit unserem Ego verhaftet sind oder eben noch nicht spirituell entwickelt genug.
Angst als Ressource
Aber ganz neutral gesehen, ist Angst neben Wut, Traurigkeit und Freude eines unserer vier primären Grundgefühle. Wenn wir davon ausgehen, dass Gefühle kein Designfehler der Schöpfung sind, sondern eine nützliche menschliche Fähigkeit, dann müsste auch die Angst einen Nutzen haben. Es ist schwer, sich das überhaupt vorzustellen. Ein Nutzen lässt sich relativ schnell identifizieren: Angst lässt uns in neuen Situationen vorsichtig vorgehen. Die Information, die Angst in dem Moment gibt, könnte lauten: «Achtung, hier kommt etwas Neues, sei vorsichtig!» Angst beinhaltet also eine Schutz-Funktion.
Wenn man Neuland betritt, ist immer Angst im Spiel – jeder, der etwas anderes behauptet, ist ein Lügner, gefühlstaub oder hat keinen Zugang zu seiner Angst. Angst führt dazu, dass man in solchen Fällen einen Plan macht und sich vorbereitet oder langsam und mit Bedacht vorgeht. Angst als Ressource geht aber noch weit darüber hinaus. Sie lässt uns wach und präsent sein – wir nehmen Dinge wahr, die wir sonst niemals wahrnehmen würden. Man kann dann sprichwörtlich zwischen den Zeilen lesen.
Angst setzt ungeahnte Fähigkeiten frei. Es gibt immer wieder Berichte von Menschen, die sich in scheinbar ausweglosen Situationen befunden und dann ungeahnte Kräfte freigesetzt haben. Not macht erfinderisch. Das heisst auch, dass Angst, wenn sie frei fliessen kann, Kreativität und Innovation in Gang setzt. Viele Erfindungen sind dadurch entstanden, dass der Erfinder Angst hatte, dass die Situation, in der er sich befand, für immer so bleiben würde, und er sich deshalb auf neues Terrain begeben hat. Kreativität, Innovation, Neuland betreten, etwas erfinden? Das kommt alles aus der Kraft und Energie der Angst.
Der Zugang zur Kraft
Da wir die Angst aber negativ bewerten und nicht lernen, mit ihr umzugehen, sind die meisten Menschen nicht in der Lage, sie bewusst als Ressource zu nutzen. Stattdessen lernen wir bereits als Kinder, unsere Gefühle zu betäuben und zu ignorieren, um zu überleben. Unsere Gefühle haben so nicht die Möglichkeit, mit uns zu reifen und erwachsen zu werden.
Gefühle, wie Angst, verschwinden aber nicht einfach, nur weil wir uns taub machen. Sie sind unsere ständigen Begleiter und schwelen dann unerkannt im Unterbewusstsein und können sich in körperlichen Symptomen Ausdruck verschaffen. Im Falle von Angst zum Beispiel als Nervosität, Durchfall, Schlaflosigkeit, Verspannung et cetera. Oder die Angst überwältigt uns in Form einer Panikattacke oder zwanghaftem Kontrollwahn, wenn sie irgendwann so intensiv geworden ist, dass unsere Betäubungsstrategien versagen. Und schon haben wir einen weiteren Beweis dafür, dass Angst negativ und zu vermeiden ist.