Interviews

Im Gespräch mit Professor Dr. Anton Gunzinger

Wie Lösungskompetenz den Standort Schweiz sichert

Professor Dr. Anton Gunzinger, Gründer und Delegierter des Verwaltungsrates der Supercomputing Systems AG (SCS), über seine Rolle als Unternehmer, den Einsatz superschneller Computer, seine Simulationen des Schweizer Energiebedarfs und den Umgang mit Fixpreisen im internationalen Wettbewerb.
PDF Kaufen

Herr Professor Gunzinger, Ihr Unternehmen baut Supercomputer. Was zeichnet diese aus?
Traditionelle Supercomputer sind hoch leistungsfähig, sehr schnell und benötigen viel elektrische Energie. Jene, die SCS für Kunden baut, brauchen oft sehr wenig Energie und sind sehr klein. Der Bau von Supercomputern ist aber nicht mehr unser einziger Tätigkeitsbereich. Zwei Drittel unseres Umsatzes erbringen wir mit hoch komplexer Software. Bei Supercomputern lautet die Frage: Wie viel Intelligenz kann ich pro Watt produzieren? Das hat mit Energie und mit physischer Grösse zu tun.

Und wo kommen solche Supercomputer zum Einsatz?
Ich nenne Ihnen vier Beispiele: Zusammen mit der Firma Daimler entwickeln wir Fahrassistenz-Systeme. Der Supercomputer ist in der Fahrerkabine im Rückspiegel eingebaut und braucht nur fünf Watt Energie. Supercomputer haben wir auch für das «Desy» (Deutsches Elektronen-Synchrotron) in Hamburg gebaut, die kleine Schwester des Cern. Da geht es darum, riesige Datenmengen, zehn Millionen Ereignisse pro Sekunde, in Echtzeit zu analysieren und nur relevante Ereignisse, etwa 100 Ereignisse pro Sekunde, abzuspeichern. Auch bei den Smart-Grids, den intelligenten Stromnetzen, sind relativ grosse Datenmengen zu bewältigen, die man schnell analysieren muss, um in Echtzeit die richtigen Schlüsse daraus ziehen zu können.Wieder andere Supercomputer, zum Beispiel für die Bahnsicherung, bewegen sich von der Rechenleistung her auf «Taschenrechner-Stufe», aber – und das ist das Besondere – die zulässige Fehlerwahrscheinlichkeit dieser Computer beträgt etwa 100000 Jahre. Die Frage lautet hier also: Wie schaffen wir es, einen Computer zu bauen, der diesen Anspruch erfüllt?

Wie ist die Supercomputing Systems AG im grossen IT-Markt positioniert?
Grosse Konkurrenten haben ihren Standort oft in Ländern mit tiefen Löhnen für Ingenieure wie Osteuropa oder Fernost, near­shore oder offshore. Für das Salär eines Schweizer Ingenieurs können 3 osteuropäische, 10 indische oder 40 chinesische Ingenieure angestellt werden. In diesem Markt müssen wir bestehen. Und wir können es. Zum Beispiel haben wir zurzeit einen Kunden aus Südkorea, der uns den fünffachen Preis eines Anbieters in seinem Land bezahlt. Er kommt zu uns in den Technopark Zürich wegen der Lösungskompetenz. Wir lösen ihm das Problem. Zum Fixpreis. Ein wesentlicher Unterschied zu unseren nationalen und internationalen Mitbewerbern besteht darin, dass SCS fast ausschliesslich auf Projektbasis mit Fixpreis arbeitet. Es gibt nur wenige Ausnahmen, wo wir uns auf Stundenbasis engagieren. Dieses Geschäftsmodell ist anspruchsvoll für uns, hat für den Kunden aber den gewichtigen Vorteil, dass er mit einem Festpreis kalkulieren kann. Er minimiert so das Risiko für sein Vorhaben, analog dem Kauf eines schlüsselfertigen Hauses. Kalkulation von Projekten mit Fixpreisen hat viel zu tun mit Erfahrung, aber auch mit den Entwicklungsprozessen, die dahinterstecken. Die eine Komponente dieser «Kunst» ist das Schätzen des benötigten Zeitbedarfs, die andere ein sauberes Projektmanagement. Umsichtiges Management und nahtlose gegenseitige Abstimmung unter den Mitarbeitenden sind da erforderlich, denn wir arbeiten gleichzeitig an rund 100 Projekten.

Wie können Sie bei hoch komplexen Projekten mit Fixpreisen arbeiten?
Wir arbeiten in verschiedenen Phasen. Die Machbarkeitsphase oder die System-Konzept-Phase mit Fixpreis bildet die Vorphase des Projekts. In der Auftragsphase werden die Spezifikationen gemacht, ebenfalls zu einem Fixpreis. Dem schliesst sich die Umsetzung zu einem Fixpreis an. Dank diesem stufenartigen Vorgehen sind Fixpreise auch in komplexen Projekten möglich. Gemäss unserer Erfahrung ist es sehr vorteilhaft, Lösungen zusammen mit dem Kunden zu entwickeln. Daraus entstehen wirklich intelligente Konzepte. Wenn möglich verzichten wir auf Ausschreibungen, da oft ungeeignete Lösungskonzepte realisiert werden müssen. Das Umsetzen eines suboptimalen Konzepts kommt den Kunden immer teuer zu stehen, weil Fehler im Konzept meist nachträglich «nachgebessert» werden müssen.

Was führte 1993 zur Gründung der SCS?
Wir nahmen an der Weltmeisterschaft der schnellsten Computer in den USA teil und landeten schliesslich in den Top Five. Daraus entstand die Idee, Supercomputer zu bauen. Weil das als Geschäftsmodell nicht tragfähig war, änderten wir schon früh die Strategie hin zur Dienstleistung mit Schwergewicht Computer System Design. Damit schafften wir den betriebswirtschaftlichen Durchbruch. Heute besteht unser Portfolio zu einem Drittel aus Hardware und zu zwei Dritteln aus Software-Entwicklung.

Sie sind ETH-Professor und Unternehmer. Welche Rolle liegt Ihnen näher?
Von Hause aus bin ich Elektro-Ingenieur ETH. Mitte der 1980/1990er-Jahre war ich an der ETH Zürich stark in die Lehre eingebunden. Schon als Professor liessen mich unternehmerische Überlegungen nie ganz los: Was wir an der ETH forschen muss am Ende einen Nutzen für die Wirtschaft und Gesellschaft bringen. Das führte schliesslich zur Gründung der SCS. Die Idee dazu reifte in mir, bevor überhaupt ein Mitarbeiter in Aktion war. Heute bin ich Unternehmer durch und durch. An der ETH habe ich noch einen Lehrauftrag. Den Spannungsbogen von Praxis und Lehre empfinde ich als bereichernd.

Was waren die wichtigsten Meilensteine in der Firmengeschichte?
1993 gründete ich die SCS Super Computing Systems als Spin-off der ETH im Technopark Zürich. Anfänglich belegten wir dort 60 Quadratmeter Fläche, heute sind es 2000 Quadratmeter, und wir stehen vor einem weiteren Ausbau. Das Wachstum der SCS erfolgte wellenartig. Gab es zu Beginn schwierige Situationen, so führten sie stets zu einem neuen Entwicklungsschub. Wir profitieren von unserer Lernfähigkeit. Ein grosser Meilenstein war natürlich der Bau des ersten Supercomputers. Der entscheidende strategische Stein wurde jedoch mit dem Umschwenken in der geschäftlichen Ausrichtung – hin zum Dienstleister für Computer-Systeme – gesetzt. 1996 konnten wir das erste grosse Projekt realisieren, ein digitales Mischpult für Studer-Revox. 1998/1999 folgte ein schnelles Computer-Netzwerk, gebaut für die ETH Lausanne. Wir unterschätzten damals die Kostensituation völlig. Das führte zur Einsicht, unser Projektmanagement zu professionalisieren. Danach realisierten wir für das Schweizer Fernsehen das grosse Projekt Videoarchiv. Es sichert den schnellen Zugriff zu 125 000 Stunden Video- und Audio-Material. In diesem Projekt stecken 20 Personenjahre Software-Entwicklung – technisch eine Meisterleistung. Auch hieraus zogen wir Learnings für einen nächsten Entwicklungsschritt. Gegenwärtig gehen wir hinein in die Entwicklung sicherheitsrelevanter Systeme auf der höchsten SIL-Level-Stufe (Anmerkung der Redaktion: Safety Integrity Level mit den Stufen 1 bis 4 nach Cenelec-Norm in der Eisenbahntechnik). Level 4 bedeutet: 100 und mehr Personen könnten sterben, zum Beispiel durch falsche Weichenstellung. Ein solcher Fehler darf nur alle 100000 Jahre vorkommen.

SCS macht Computer System Design, in 20 Jahren rund 1000 Projekte. Wofür zum Beispiel?
Rund 100 Mitarbeitende arbeiten gleichzeitig an rund 100 Projekten parallel: Von Machbarkeitsstudien mit 2 Wochen Aufwand bis zu komplexer Software mit 20 Personenjahren. Hier einige Beispiele aus der Praxis: schnelle Netzwerke, Hardware und Software für Kartoffel-Sortiermaschinen, Partikel-Messgeräte im Lebensmittelsektor, Gerät zur Messung des Sauerstoffgehalts im Blut, Notfalluhr für ältere Leute, Kommunikationssystem für die Rettungsflugwacht, Digitalfunk für den öffentlichen Verkehr, Software für Ticketautomaten, das riesige Video- und Audio-Archiv für das Schweizer Fernsehen, Steuerungen für Verpackungsmaschinen, Systeme für Optimierungen des Verpackens in der Zeitungsindustrie, Smart-Grid und Energie-Simulationen und anderes mehr.

Wie gehen Sie dabei zu Werke?
In Zentrum steht das Kundenanliegen, und da ist das Spektrum gross. Es gibt Kunden, die uns eine Spezifikation übergeben, auf die man sich stützen kann, etwa durch die Frage: «Wie viel kostet dieses System bei euch?» Andere Kunden wollen etwas Neues, wissen aber nur sehr vage, was sie wirklich wollen. Nach der Klärung dieser Ausgangslage starten wir einen Innovationsprozess, indem wir zusammen mit dem Kunden überlegen, wie sich sein Markt entwickeln wird und worin die Lösung des Kundenproblems bestehen könnte. Meistens arbeiten wir mit mehreren Szenarien parallel. Nachdem sich der Kunde für ein Szenarium entschieden hat, entsteht eine konkrete Spezifikation als Basis für die Umsetzung des Projekts. In meinem Buch «Kraftwerk Schweiz» habe ich 18 Regeln für das Vorgehen bei Projekten aufgeführt. Ich selber benutze diese immer sehr selektiv. Manchmal benötigt man eben die Rohrzange, manchmal den Hammer und manchmal beides zur Problemlösung.

Ihr neustes Buch «Kraftwerk Schweiz» basiert auf umfangreichen Simulationen von Energieszenarien. Was gab den Anstoss dazu?
Das Buch war nicht geplant. Ich stellte fest, dass in der öffentlichen Diskussion um die Energiewende selbst von namhaften Exponenten aus Politik und Wirtschaft Aussagen gemacht werden, die auf blossen Behauptungen basieren. Als Wissenschaftler, aber auch als Unternehmer hat mich das erstaunt und gleichzeitig etwas geärgert. Zusammen mit einem ETH-Praktikanten begannen wir nachvollziehbare Szenarios zu simulieren. Da ordneten wir die Behauptungen ein und «rechneten sie durch». Wir waren überrascht, dass vieles, das wir durch die Medien erfahren, so nicht stimmt. Wir analysierten alle Details mit Simulationen in Bezug auf Strom, Mobilität und Wärme. Unsere Erkenntnisse trug ich in einem Referat in Bern vor. Im Anschluss daran animierte mich der ehemalige Chef des Zytglogge-Verlages dazu, ein Buch zum Thema zu schreiben. Es schaffte 2015 sogar den Sprung in die Top Ten der Schweizer Bestseller-Liste für Sachbücher. In einem Jahr wurden 4500 Exemplare verkauft. Im kleinen Schweizer Büchermarkt ist das bemerkenswert und zeugt vom grossen Interesse an Energiefragen der Zukunft.

Ihr Unternehmen ist SQS-zertifiziert nach ISO 9001 und 14 001. Was bringt Ihnen das?
Das hat zwei Gründe. Erstens arbeiten wir mit Kunden zusammen, zum Beispiel SBB und Rega, welche die Zertifizierung voraussetzen. Und zweitens sind wir dadurch gezwungen, unsere schlanken Prozesse nicht nur zu leben, sondern auch zu dokumentieren. Unsere Mitarbeitenden sind als Computer-System-Designer gewohnt, so zu denken. Systementwicklung ist ja unser Geschäft. Die Auditoren staunen jeweils, wie dünn unsere Handbücher sind, die trotzdem alles vollständig abbilden und echt gelebt werden. Exzellenz im System-Design sucht in der Komplexität die pure Einfachheit. Selbst bei anspruchsvollen Projekten auf dem sogenannten SIL-4-Level besteht die Kunst darin, Systeme so einfach auszulegen, dass sie mit vernünftigem Aufwand zertifizierfähig sind. Wir überlegen laufend, wie wir uns organisieren müssen, damit unser Unternehmen SCS effizient und schlagkräftig bleibt. Die Frage lautet: Wie können wir das interne System-Design so gestalten, dass die Mitarbeitenden bei der Arbeit unterstützt werden und die Qualität ohne übermässigen Energieaufwand gesichert ist? Für uns zählt, dass wir uns an die eigenen, verlässlich definierten Prozesse halten.

Gibt es in einer «Denk-Werkstatt» Berührungspunkte zur Nachhaltigkeit?
Da gibt es viele. Wenn beispielsweise zusammen mit unseren Kunden bei bestehenden Ticket-Automaten die Lebensdauer dank neuen Prozessoren und neuer Software um fünf bis zehn Jahre verlängert werden kann, so ist das kostengünstig und nachhaltig. Oder wenn bei der Erneuerung des Bahntrasses gespart werden kann (wir entwickeln da die Auswerte-Software), so ist das auch sehr nachhaltig. Auch wir selber wollen unsere Haltung zur Nachhaltigkeit weiterentwickeln. Gegenwärtig läuft eine interne Workshop-Reihe für alle Mitarbeitenden zu den Themen Energie, Mobilität, Wärme, Essen, Ressourcen und Einkauf. Ziel ist einerseits Weiterbildung, anderseits geht es auch darum, unsern eigenen Energie- und Ressourcenverbrauch bei steigender Mitarbeiterzahl zu senken.

Wie läuft ein Audit ab?
Anlässlich des Audits führe ich mit den SQS-Auditoren das erste Gespräch. Nachher überprüfen diese im Hause die Details auf ihren Realitätsgehalt. Bei unserem letzten Audit wurde uns attestiert, dass das Top-Management und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Tat mit einer Stimme sprechen.

Produzieren Sie auch Roboter?
Wir arbeiten sehr intensiv mit dieser Industrie zusammen. Etwa im Bereich von Roboter-Steuerungen für Verpackungsanlagen. Ein anderes Beispiel ist ein komplettes Blutanalyse-System, für das wir die ganze System-Software geschrieben haben. Dieses Projekt ist de facto ein Roboter-System mit verschiedenen Armen für die Zuführung der unterschiedlichen Stoffe, für die Kamerabedienung, für das Handling und so weiter. Die Bedeutung solcher Anwendungen nimmt zu.

Wo liegt die Zukunft Ihres Unternehmens?
Unsere Kompetenz erstreckt sich von «Lowest Energy Systems» – Systemen, die keine eigene Stromversorgung haben, auch keine eigene Batterie – bis zu extrem leistungsfähigen Systemen. Wir stehen überall dort im Einsatz, wo es darum geht, dass Systeme einwandfrei und sicher funktionieren, ausnahmslos computergestützt. Industrie und Dienstleister, aber auch die angewandte Forschung sind unser Fokus. Und das wird so bleiben. Ein sehr interessanter Markt für SCS sind Hochsicherheitsanlagen im Eisenbahnsektor sowie Industrie 4.0. Neben dem System-Design entwickeln wir weiterhin hoch anspruchsvolle Hardware. Zupass kommt uns, dass wir unsere Lösungen mit automatischen Test-Robotern absichern. Im Kanton Genf zum Beispiel werden an Ticket-Automaten im öffentlichen Verkehr durchschnittlich 450 000 Zugriffe pro Tag gemacht. Unsere Test-Roboter sind zu diesem Zwecke in der Lage, in zehn Minuten 1000 Billette zu beziehen. Funktioniert das, wird aufgeschaltet.

All das produzieren Sie auch weiterhin am Standort Schweiz?
Jawohl, alle unsere Entwicklungen machen wir hier im Technopark Zürich. Ich stehe zum Standort Schweiz, zum Standort Zürich. Wir haben sogar renommierte Kunden aus Südkorea, obwohl dort Ingenieure fünf Mal günstiger arbeiten als bei uns. Damit uns dies gelingt, sind Kundennähe und eine hohe Qualität des Innovationsprozesses extrem wichtig. Alles muss stimmen: das System-Design, die Spezifikationen, die Umsetzung – und der Preis.

Porträt