Investieren oder die Zahlungsfähigkeit sichern? Umstrukturieren oder das Tagesgeschäft optimieren? Den Service verbessern oder die Kosten senken? In solchen Zielkonflikten, auch Dilemmata genannt, befanden sich Unternehmen und ihre Führungskräfte schon immer.
Verschieben von Prioritäten
Entsprechend häufig hörte man auch in der Vergangenheit bereits von Mitarbeitern bezogen auf ihre Führung die Klage «Die haben keinen Plan und machen uns mit ihren wechselnden (Ziel-)Vorgaben verrückt». Zuweilen zu Recht. Denn schwache und unerfahrene Führungskräfte agieren oft recht planlos, und sie «führen» – beziehungsweise irritieren – ihre Mitarbeiter und Teams mit permanent wechselnden und sich teils widersprechenden Vorgaben.
Meist liegt solchen Klagen der Mitarbeiter jedoch ein Problem zugrunde, mit dem Führungskräfte auf allen Hierarchieebenen kämpfen: Sie stehen beim Führen ihrer Bereiche vor der Herausforderung, nicht nur ein Ziel, sondern ein Bündel von sich teils widersprechenden Zielen zu erreichen. Und weil sich die Rahmenbedingungen ändern, müssen sie, um den Erfolg zu sichern, in der Alltagsarbeit immer wieder die Prioritäten verschieben. Das erzeugt bei Mitarbeitern zuweilen das Gefühl «Unser Chef weiss selbst nicht, was er will» – zumindest dann, wenn ihnen dessen (scheinbare) Kurswechsel nicht erklärt werden.
Diese Situation hat sich in den zurückliegenden Jahren verschärft. Denn:
- Je dynamischer, also von rascher Veränderung geprägter das Umfeld eines Unternehmens oder Unternehmensbereichs ist, umso weniger ist eine langfristige Planung möglich, und
- je vernetzter die Strukturen in den Unternehmen beziehungsweise die Beziehungen zwischen ihnen und ihrem Umfeld sind, umso schwieriger lassen sich bei (Change-)Vorhaben im Vorfeld alle Einflussfaktoren und Wechselwirkungen erfassen, weshalb die Planung und zuweilen sogar die Ziele immer wieder «neu justiert» werden müssen.
Entsprechend wichtig ist es, dass Führungskräfte die Kunst beherrschen, mit Zielkonflikten zu leben beziehungsweise mit diesen so umzugehen, dass sie für ihre Mitarbeiter glaub- und vertrauenswürdig bleiben.
Widersprüche
Von einem Zielkonflikt oder Dilemma spricht man, wenn eine Person oder Organisation zeitgleich mehrere, sich teils widersprechende Ziele erreichen möchte oder muss. Ein typisches Dilemma auf der Mitarbeiterebene ist die Vereinbarkeit von Familie sowie Beruf. Für dieses Dilemma gilt wie für alle Dilemmata: Es lässt sich, zumindest wenn man Beruf mit Karriere gleichsetzt, für die meisten Berufstätigen nur bedingt lösen – egal, wie viel Unterstützung ihnen hierbei ihr Arbeitgeber und der Staat gewähren. Denn wer viel Geld verdienen möchte, muss in der Regel auch viel arbeiten – also bleibt wenig Zeit für Familie und Freunde. Und wer, weil er beruflich vorwärtskommen will, um die Welt jettet, ist abends eben nicht immer zu Hause.
Vor ähnlichen Dilemmata stehen auch Unternehmen immer wieder. Ein typisches Dilemma ist: Wenn unser Betrieb auch künftig zu den Top-Anbietern im Markt zählen soll, müssen wir in neue Produkte, Technologien oder Vertriebswege investieren. Wenn unser Unternehmen hierfür jedoch viel Geld ausgibt, dann sinken Liquidität und Ertrag. Das Unternehmen wird dann also abhängiger von Kapitalgebern, was seine Eigentändigkeit, wenn etwas schiefgeht, gefährden kann.
Ein Teil des Führungsalltags
Solche Dilemmata prägen auch den Führungsalltag. Ein klassisches Beispiel ist das Dilemma «Individuum versus Kollektiv». Vor ihm stehen Führungskräfte beispielsweise, wenn ein Mitarbeiter über eine längere Zeit aufgrund einer privaten Belastung nicht die geforderte Leistung bringt, was unter anderem zu Mehrarbeit für seine Kollegen führt. Dann muss die Führungskraft stets aufs Neue entscheiden: Ist die Situation noch tragbar, oder muss ich die berüchtigte «Reissleine» ziehen, um beispielsweise zu verhindern, dass die anderen Mitarbeiter rebellieren und der Bereich seine Ziele verfehlt. Weitere klassische Dilemmata sind:
- Wie viel Struktur gebe ich als Führungskraft vor und wie viel Freiraum zur Selbstorganisation räume ich den Mitarbeitern ein?
- Wie viel Vertrauen in die Kompetenz meiner Mitarbeiter habe ich und wie viel Steuerung und Kontrolle ist nötig?
- Wie lange halte ich an Vereinbarungen fest und wann werfe ich diese über Bord?
- Wie viel Nähe suche ich zu meinen Mitarbeitern und wie viel Distanz wahre ich als ihr disziplinarischer Vorgesetzter?
Es gibt keine Lösungen
Kennzeichnend für Dilemmata ist: Sie sind nicht lösbar. Denn selbstverständlich muss ein Unternehmen Vorsorge betreiben, dass es auch mittel- und langfristig erfolgreich ist – also investieren und sich verändern. Dabei muss es jedoch darauf achten, dass es sein Tagesgeschäft noch erfüllen kann und liquide bleibt. Und selbstverständlich muss ein Unternehmen, das in scharfem Wettbewerb steht, auch auf individuelle Kundenwünsche eingehen. Dabei muss es jedoch darauf achten, dass hierunter nicht seine Produktivität leidet.
Ähnlich verhält es sich auf der Führungsebene. Selbstverständlich muss eine Führungskraft in einer Zeit, in der Kernleistungen der meisten Unternehmen in (bereichsübergreifender) Team- und Projektarbeit erbracht werden, verstärkt auf die Kompetenz und die Eigenverantwortung ihrer Mitarbeiter vertrauen. Zugleich bleibt es jedoch ihre Aufgabe, sicherzustellen, dass ihr Bereich seinen Beitrag zum Erreichen der Unternehmensziele leistet. Also muss sie bei Bedarf auch steuernd eingreifen. Und selbstverständlich muss eine Führungskraft, wenn sie von ihren Mitarbeitern Eigeninitiative erwartet, einen partnerschaftlich-kooperativen Führungsstil und einen von Vertrauen sowie wechselseitiger Wertschätzung geprägten Umgang mit ihren Mitarbeitern pflegen. Zugleich muss sie jedoch in der Lage sein, bei Bedarf auf den Tisch zu hauen und zu sagen «So nicht» – selbst wenn dies vorübergehend zu atmosphärischen Störungen in der Beziehung zwisch Führungskraft und Mitarbeiter führt.