Strategie & Management

Organisationsmodelle, Teil 1/3

Warum Selbstorganisation Sinn macht

Selbstorganisation ist mehr als ein theoretisches Modell, es ist vielmehr ein Ansatz zur Förderung von Innovation und Flexibilität in Organisationen. Der dreiteilige Beitrag beleuchtet das Potenzial der Selbstorganisation, aber auch die Risiken, die mit ihrer Einführung ver­bunden sind.
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Selbstorganisation ist eine faszinierende, vielfältige Erscheinung im heutigen Arbeits- und Gesellschaftsleben; ein von umfangreichen Chancen und Risiken ­geprägtes Phänomen in der Praxis und ­Wissenschaft. Selbstorganisation ist eine weiter entwickelte Organisationskon­zeption, ein meist IT-unterstütztes Netzwerk der Zusammenarbeit, ein «existentielles Ordnungs- und Handlungsmuster in sozialen Systemen» (Glogger/Rösner) oder ein «Vehikel zum Erreichen von Zwecken» (Kühl). 

Verantwortung im Team

Dieser Beitrag will zeigen, dass eine funktionierende Selbstorganisation das Potenzial hat, mehr zu erreichen als mit ­herkömmlichen klassischen Organisationsformen und dass sie in der heutigen Arbeitswelt und in der Gesellschaft eine Notwendigkeit ist. 

Es geht darum, mit diesem Ansatz in/mit einem sozialen ­System übergeordnete Ziele und Werte zu finden und zu erfüllen – einen sogenannten «Higher Purpose». Auf der Basis einer vorhandenen Strategie einer In­stitution werden zur Erledigung der anfallenden Aufgaben Teams gebildet; die Teammitglieder de­finieren ihre Mitwirkung, das heisst ihre entsprechenden Aufgaben, die notwendigen Kompetenzen, ihre Verantwortung und die anfallenden Arbeitsprozesse weitgehend selbst.

Die daraus resultierenden Freiheitsgrade für die Beteiligten führen meist zu grös­serem Engagement, zu mehr Selbstmo­tivation und zu bewussterer Selbstver­antwortung. Auf der Basis definierter Zwecke einer Institution und derjenigen der darin Beteiligten – die Zwecke sollten so gut als möglich übereinstimmen – wird es möglich, für alle den Sinn der Arbeit zu finden und zu leben.

Neue Herausforderungen

Selbstorganisation ist damit auch eine Antwort auf grundlegend veränderte Ansprüche von Mitarbeitenden, Führungsverantwortlichen und der Umwelt. Es gilt, diesen Ansprüchen mit organisato­rischen Konstrukten und sinnstiftenden Rahmenbedingungen zu entsprechen. Was sind Komponenten solch veränderter Gegebenheiten, was beinhaltet das Paket an neuen Herausforderungen:

  • Eine Umwelt, die sich rasch und fundamental wandelt und von Widersprüchen sowie Unsicherheiten geprägt ist
  • Eine zwingende Offenheit gegenüber neuen Technologien; Digitalisierung im weitesten Sinn; die Integration künstlicher Intelligenz als «Co-worker» im Team. Mehr Daten, Auswertungen und Studienergebnisse alleine führen nicht zum Erfolg; qualitative Aspekte in der Zusammenarbeit und Leistungserstellung  sind ebenso wichtig 
  • Die Akzeptanz einer höheren Wertigkeit und Beachtung der Life Domain Balance aller Beteiligten; der ausgeprägtere Stellenwert des modernen betrieblichen Gesundheitswesens
  • Die Nutzung dezentraler Intelligenz aus der Überzeugung heraus, dass Akteure gemeinsam bessere Entscheidungen treffen und dem Innovations- und Veränderungsdruck gemeinsam besser entsprechen können als in klassischen Organisationsansätzen. Neue Ideen, sowohl bottom up als auch top down, führen zu Vielfalt und Entwicklungschancen: Nichts ist so mächtig wie eine Idee, deren Zeitpunkt gekommen ist 
  • Die erweiterte Mitsprache aller Be­teiligten führt zwingend zu veränderten Entscheidungsprozessen und angepassten Kompetenzstrukturen. Die konsequente Verantwortungsübernahme aller Beteiligten im zugeordneten Themenbereich ist Bedingung 
  • Bewusst gelebte teamdynamische Aspekte wie neue «Nähe», angepasste Fehlerkulturen, psychologische Sicherheit, Toleranz und Vertrauen; die Einsicht, dass alleine kein Erfolg erfreulich ist
  • Forderung und Beachtung erhöhter Selbstmanagement-Kompetenz aller Beteiligten; Praxis im Umgang mit Risiken und mit Scheitern
  • Aufbau, Pflege und soweit möglich konsequente Befolgung individueller und organisationaler Resilienz
  • Weiterentwickelte Umsetzung von Diversity und Inclusion
  • Härtere und sich laufend verändernde Wettbewerbssituationen verlangen nachhaltige Lösungen für eine gesunde finanzielle Entwicklung einer Institution
  • Veränderte, strengere Regulierungen aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft führen zu grösserer Bedeutung und neuartigen Bedingungen von Go­vernance und Compliance 
  • Notwendigkeit einer gesunden Balance zwischen Stabilität und Flexibilität. Bereitschaft zum Wandel

Nicht ohne Führung

«Die» Selbstorganisation gibt es nicht. Die bekannten in der Praxis angewen­deten Modelle wie Holokratie, Soziokratie, agile oder hybride Organisationskonzeptionen weichen in ihren Ausprägungen zum Teil deutlich voneinander ab. Lösungen können sich in Grossfirmen und in KMU deutlich voneinander un­terscheiden. Weitere Einflussfaktoren sind die Branchen, die Art der Arbeit und Leistungserstellung.

Gelebte Selbstorganisation braucht Führung und sinnvolle Regelwerke. Die gemeinsamen Zwecke und Werte sind zu erkunden und müssen transparent sein, um die mittel- und langfristige Entwicklung einer Institution in allen relevanten Belangen und Dimensionen – wie Marktstellung, Finanzen – zu garantieren. 

Es ist ein neues, zeitgemässes und entwickelbares Führungsverständnis notwendig. Oft hat der Topmanager die neue Aufgabe, sich entbehrlich zu machen. Im neuen Führungsverständnis muss auch konsequentes Handeln bei Verstössen oder Missbrauch der neuen Freiheiten sein.

Hohes Konfliktpotenzial

Ein funktionierendes Zusammenleben in oder mit einer Selbstorganisation ist aufgrund der Erfahrungen für alle Beteiligten deutlich anspruchsvoller als dasjenige in einer streng hierarchisch aufgestellten und geregelten Institution oder Gemeinschaft. Vermehrte Mitwirkung, erweitertes Engagement für das Ganze und umfassendere Mit- und Selbstverantwortung sind dabei nicht nur erwünscht, sondern zwingend notwendig. 

Mit der Enthierarchisierung verschwinden direktiv agierende Vorgesetzte immer mehr. Damit gehen einfache Schuldzuweisungen – «ich kann nichts dafür,  der Chef, die Chefin hat entschieden» – verloren. 

Dies hat einen beachtlichen Preis: der Einbezug und die Beteiligung aller in ­Entscheidungsvorbereitungen, Situations­beurteilungen, Entschlussfassungen und in entsprechende Entscheidungen führt unweigerlich zu einem schwieriger zu durchschauenden Beziehungsgefüge der Akteure, zu klar erkennbaren Meinungsverschiedenheiten, zu möglicher Zwietracht und zu Konflikten. Letztere ergeben sich auf natürliche Weise aus unterschiedlichem Erleben gemeinsamer Wirklichkeiten, diverser kultureller Herkünfte, aus Überzeugungen und Ansichten aus verschiedenen Berufsgattungen, aus vorhandenem Erfahrungspotenzial und aus persönlichen Einschätzungen einer aktuellen Lage, einer besonderen Herausforderung oder in der Wertung eines sich abzeichnenden Problems.

Konflikte sind damit normal und als in der Regel positiv und notwendig einzustufen. Vor allem braucht es aber neben den fachlichen Kompetenzen das Überfachliche wie Offenheit, Achtsamkeit, Bereitschaft zum Dialog, offene Kommunikation, intellektuelle Bescheidenheit, Wille zum Vergeben, Toleranz, Vertrauen, Mut und Wille zur kontinuierlichen Veränderung.

Experimentieren ist sinnvoll

Die Wege zu tragenden und anpassungsfähigen Konzeptionen einer Selbstorga­nisation sind so vielfältig wie die vielen Wege nach Rom. Abschliessende Rezepte existieren nicht, können nicht existieren. Das passende Vorgehen steht in vielerlei Abhängigkeiten wie des Zweckes einer Organisation, des Produkte- und Leistungsprogramms, der gelebten Kultur, des Standes im Unternehmensentwicklungsprozess, der Dringlichkeit von Veränderungen und dem Engagement der Geschäftsleitung für eine Neukonzeption. Voraussetzungen für einen erfolgreichen Wandel hin zur Selbstorganisation sind: Erkennung des Wandlungsbedarfs, Einschätzung der Wandlungsfähigkeit und des Vertrauens in die Wandlungsbereitschaft aller Beteiligten. 

Zudem spielt der «richtige» Zeitpunkt für ein entsprechendes Projekt und dessen Umsetzung bekannterweise eine grosse Rolle. In vielen Fällen ist es sinnvoll, gezielte Experimente in kleinen, abgegrenzten Einheiten einer Institution durchzuführen, um anschliessend aufgrund der gemachten Erfahrungen skalieren zu können.

Anspruchsvolles Konstrukt

Selbstorganisation ist mehr als eine Organisationsform, sie ist eine Konzeption für eine ganze Einheit und sie setzt eine entsprechende Haltung aller Involvierten voraus. Selbstorganisation ist ein anspruchsvolles organisatorisches Konstrukt, ein faszinierender Ansatz mit Chancen und Risiken im Bereich Zusammenarbeit von Menschen, die unter Einbezug zeitgemässer Technik gemeinsam definierte Ziele erreichen wollen. Wenn es ­gelingt, Rahmenbedingen zu schaffen, die es den Involvierten ermöglichen, ihr Bestes zu geben, Neues zu erproben, Ungewohntes zu tun und eine gesunde Portion an Freude, Spass und Leichtigkeit zu erleben, sind neue Horizonte in Bezug auf Wertgenerierung, auf Effektivität und Effizienz möglich. 

Damit sind gute Voraussetzungen geschaffen, um der Unternehmensentwicklung und dem organisationalen Lernen gute Chancen einzuräumen. Gift für eine optimal funktionierende Selbstorgani­sation sind Manie der Überzeugung, Recht haben müssen, Hochamt der Entrüstung, übertriebener Perfektionismus, Überzahl der Pessimisten im Team, übertriebener Bedarf nach Sicherheit, Gleichgültigkeit oder von latenter Angst getriebene Entscheidungen. Dies zeigen praktische Beispiele sehr deutlich.

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