Strategie & Management

Führungskräfteentwicklung

Online-Assessments – Herausforderungen und Chancen

Führung heisst heute, organisationale und soziale Systeme verstehen und darin komplexe Probleme lösen zu können. Dazu braucht es Führungseigenschaften, welche sowohl für die Linien-, Fach- und auch Prozessführung erfolgsbringend sind. Diese Prämissen bringen vielfältige Herausforderungen für Assessments mit sich.
PDF Kaufen

Digitalisierung steht schon lange in verschiedenen Kontexten auf dem Plan der Diagnostik. So auch in der Selektions-, Potenzial- oder Führungsabklärung und damit der Eignungsdiagnostik. Seit Beginn der Corona-Zeit wird des Öfteren von Online-Assessments gesprochen – was darunter verstanden wird, variiert jedoch stark. 

Unterscheidungsmerkmale

Gemäss der Forschung kann anhand dreier Unterscheidungsmerkmale differenziert werden: des primären Ziels (Selbst- oder Fremdselektion), der Methode (Tests und/oder Interaktion) und des Ausmasses der Kontrolle (Beaufsichtigung) während der Durchführung. In der Praxis spricht man jedoch auch von Online-Assessments, wenn nur ein Teil der diagnostischen Arbeit online durchgeführt wird.

Dies würde dann eher dem neueren Begriff «Remote-Assessments» (Remote = aus der Ferne) entsprechen. Mit dem Remote-Assessment wurde ein Modus ins Leben gerufen, bei welchem einzelne Personen – Assessoren oder Rollenspielende – über Videotool zum Präsenz-Assessment zugeschaltet werden. So werden nicht mehr nur Interviews virtuell abge­halten, sondern es können interaktive Instrumente und Verhaltensbeobachtungen trotz Distanz durchgeführt werden. 

Damit ist eine Kombination von Online- und Präsenz-Modus entstanden, die sich in dieser Zeit bewährt hat und auch in der Zukunft genutzt werden kann. Bereits vor Covid-19 wurden Teile von Einzel-Assessments, aus zeitlichen oder ökonomischen Gründen, in den virtuellen Raum verlegt. Die Erforschung dieser neuen Modi und damit die Qualität einer Beurteilung steckt jedoch noch in den Kinderschuhen.
 
Bisher ist aus Untersuchungen bekannt, dass im reinen Online-Modus aus Dokumentanalysen oder messtheoretischen Tests relativ verlässliche Aussagen gewonnen werden können. Allerdings wird davon ausgegangen, dass direkte mündliche Befragungen, Verhaltensbeobachtungen sowie interaktive Aufgaben im Distanz-Modus schwieriger sind und dementsprechend der Erkenntnisgewinn nicht der gleiche wie im Präsenzmodus ist. Daraus ergeben sich ebenso Vor- wie Nachteile, wodurch es für die Assessoren gilt, eine geeignete Balance zwischen Testverfahren und Interaktionsaufgaben zu finden.

Die Tücken der Technik 

Als relevante Vorteile vom reinen Online-Modus sind vor allem die Unabhängigkeit von örtlichen Gegebenheiten, die Öko­nomie und das transportierte moderne Image der Assessmentorganisation zu nennen. Auch bekannt ist, dass bei Online-Testverfahren die zeitliche Unabhängigkeit, die Anonymität der Teilnehmenden sowie eine hohe Auswertungs- und Interpretationsobjektivität hinzukommen. Remote-Assessments bieten dagegen eine hohe Flexibilität bezüglich der Kombinierbarkeit von Aufgaben und Instrumenten. Als Nachteile gelten ins­besondere die Tücken der Technik, also die Bedienerfreundlichkeit von Online-Plattformen, die ungewollte Verbreitung von Aufgabenmaterial sowie das Thema Datenschutz. 

Von der Digitalisierung sind alle am Assessment teilnehmenden Personen betroffen. Kandidaten müssen sich digital auf- und ausrüsten, Assessierende müssen sich auf technischer Ebene aus­­kennen und spontan auf bekannte oder neu auftretende Fehler reagieren können – zum Beispiel Verbindungsprobleme, akustische Einschränkungen oder Unterbrüche in der Übermittlung. Eine akzeptable Durchführung muss gewährleistet werden können, damit verlässliche Informationen generiert werden.

Assessierende sind bei den neuen Modi noch mehr auf der Beziehungsebene gefordert. Der virtuelle Raum erfordert von ihnen eine spezielle Form der Interaktion, an die es sich zu gewöhnen gilt. Die Begleitung und das Abholen von Kandidaten unterliegt insbesondere beim reinen Online-Modus Einschränkungen, weil diese computergesteuert angeleitet und durchgeführt werden. Auch der Remote-Modus ist durch gewisse unpersönliche Anteile der Durchführung beeinflusst, ermöglicht jedoch den Assessorinnen und Assessoren, ein gewisses Mass an Beziehung aufzubauen.

Führungsfähigkeiten anpassen 

Die Welt ist globaler und internationaler geworden, die Arbeit darin vernetzter, digitaler und agiler. Die Zusammenarbeit unterschiedlicher Generationen und unterschiedlicher Kulturen wird ergänzt durch die erhöhte Komplexität von Aufgaben unter noch stärkerem Kosten­­­druck als früher.

Die Arbeit ist heute räumlich und zeitlich verteilt und die Ergebnisverantwortung wird stärker von unterschiedlichen Personen getragen.

Um in dieser Zeit die Zügel in der Hand zu behalten, müssen Führungskräfte bereit sein, hohe Leistungen zu erbringen, den Wandel der Zeit mitzugestalten und die Beziehungspflege auch auf Distanz zu beherrschen. Dementsprechend sollten sie mit ihren Werten, ihrem Denken, Handeln sowie auch mit ihren Führungsfähigkeiten unter die Lupe genommen werden. In der digitalen Welt muss die Führungswirkung über die örtlichen Grenzen sowie über die hierarchischen Strukturen hinweg Einfluss nehmen. Mit geringem persönlichem Kontakt muss ein Klima des Vertrauens und der Kooperation aufgebaut werden. Die Beziehungsgestaltung wird zu einer wichtigen Fähigkeit. 

Daneben sind Lernfähigkeit sowie auch Lernbereitschaft relevante Anforderungen an Führungskräfte, denn mit neuen Aufgaben sollen Fehler toleriert werden, um daraus Entwicklungsbedarf für den Einzelnen und die gesamte Organisation ableiten zu können. Die Zeiten von Covid-19 zeigen, dass Fähigkeiten des Change- und Transformationsmanagements zentrale Kompetenzen für die Steuerung von Veränderungen sind. Führungskräfte müssen insbesondere in Zeiten der Verunsicherung Sinn und Orientierung vermitteln sowie Unterstützung bieten. In der aktuellen Zeit ist ausserdem gut erkennbar, wie flexibel Menschen sind, sich auf unveränderbare Situationen einzustellen und diese in ihr Umfeld zu integrieren.

Integrität als ein Erfolgsfaktor

Dafür ist nicht nur eine changefördernde Organisationskultur bedeutsam, sondern ebenso eine Führungskultur, die Freiräume gewährt und Mitarbeitende ermutigt, diese zu nutzen. Das heisst, Führungskräfte müssen die Dynamik der Welt mit Reaktionen angehen, die Un­vorhergesehenes bewältigen können. Das macht Agilität nicht zu einem Strukturzustand, sondern einer verlangten Haltung aller Beteiligten. 

Die geringen direkten Kontrollmöglichkeiten in der neuen Arbeitswelt lassen auch Raum für weniger integres Verhalten. Nicht nur Grosskonzerne, sondern auch kleinere und mittlere Unternehmen sehen sich mit kontraproduktivem Arbeitsverhalten wie Regelübertretungen, Betrug, Manipulation oder Machtmissbrauch konfrontiert. Dahinter können sich negative Persönlichkeitseigenschaften verbergen, die den Erfolg oder auch das Image einer Organisation beeinträchtigen.

In der heutigen Eignungsdiagnostik können dem kontraproduktiven Verhalten zugrunde liegende Persönlichkeitseigenschaften aufgedeckt und erhoben werden. Dies macht Integritätsabklärungen auf allen Ebenen zu einem relevanten und erfolgskritischen Faktor. Für die valide Diagnostik von Persönlichkeitseigenschaften und Kompetenzen ist eine differenzierte Stellen-Anforderungs-Analyse, das Verständnis der Organisationskultur sowie jener der zukünftigen Herausforderungen für das Unternehmen für die Assessierenden unabdingbar.

Porträt