Strategie & Management

Human Resources (Teil 6 von 6)

Mit Sinn Talente nachhaltig binden

Während bislang das öffentlich kommunizierte Ziel vieler Organisationen die Gewinnmaximierung für Anspruchsgruppen war, rückt heute der gesellschaftliche Sinn stärker in den Fokus. Sinn kann für Motivation und Mitarbeiterbindung sorgen. Ihn in Organisationen zu entdecken und zu kultivieren, stellt die Königsdisziplin in der Unternehmensführung dar.
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In Vorstellungsgesprächen thematisieren Kandidaten Sinn stärker denn je und erwarten diesen in der Arbeitsumgebung. Sie können Sinn für sich aber – je nach Reflexions- und Kommunikationsfähigkeiten – nicht immer definieren oder vielleicht nur ungenügend beschreiben. 

Suche nach Sinn

Viktor Frankl, Begründer der Dritten Wiener Schule der Psychotherapie, sieht den Menschen als ein Wesen, das dauerhaft auf der Suche nach Sinn ist, seine Existenz sichern, sich verwirklichen und den eigenen Platz finden möchte. Demzufolge hat jede Generation bis jetzt Sinn für sich gesucht, und es liegt in der Natur des Menschen, Erfüllung anzustreben. Die neuen Generationen fragen jedoch unverblümter, konfrontierender nach dem Sinn von Organisationen und Jobinhalten. Das kann für rote Köpfe im HR sorgen.  

Für Unternehmen stellt sich dabei die Frage, was sie unter dem Begriff «Sinn» verstehen, wie sie ihn für sich definieren und intern wie auch extern kommunizieren wollen. Organisationen müssen sich selbst reflektieren und sich die grosse Warum-Frage stellen: Warum gibt es die Organisation und was ist ihr Ziel? Welchen Beitrag leistet sie für ein besseres Leben, die Umwelt, die Gesellschaft? Es geht um die Frage nach dem wirklichen, unverwechselbaren Kern, auf dem alles aufbaut. Er definiert die Existenz und legitimiert das Wirken einer Organisation (vgl. Human Resources, Teil 2/6 in «KMU-Magazin», Ausgabe 7/8, Seite 30). 

Der irische Schriftsteller Oscar Wilde unterstreicht in seinem Buch «Das Bildnis des Dorian Gray»: «Ziel des Lebens ist Selbstverwirklichung. Das eigene Wesen völlig zur Entfaltung zu bringen, das ist unsere Bestimmung.» Damit ist einerseits das Erkennen der individuell gegebenen Möglichkeiten und Talente verbunden, andererseits aber auch das umfassende Ausschöpfen dieser.

Potenzialentfaltung

Wie können Unternehmen Individuen auf praktische Art dabei unterstützen, ihr höchstpersönliches Potenzial zur Ent­faltung zu bringen und damit Sinn zu erlangen? Was motiviert den Mitarbeiter und welche Aufgaben erledigt er leidenschaftlich gern? Kennt der Mitarbeiter den Beitrag, den er leistet im Rahmen der unternehmerischen Wertschöpfung? Passt die Aufgabe zu seinem Lebens­kontext, den er gewählt hat, und auch zu seiner aktuellen Lebensphase? 

Fragen wie diese sind essenziell, um Mitarbeiter individuell fördern zu können. Für gewöhnlich kümmern sich in grossen Unternehmen ganze Teams und Coaches in der Personalentwicklung und im Talentmanagement um Potenzialbeurteilungen und Karrierepfade. Im ressourcenschwachen KMU ist die Sinnfrage im Management angesiedelt, denn sie ist mächtig und hat direkte Auswirkungen auf den Unternehmenserfolg.

Sinn als harte Währung

Sinn wird von Menschen seit jeher unterschiedlich definiert und aufgefasst. Eine Person kann beispielsweise durchaus den Sinn einer Organisation wie Greenpeace erkennen und sich mit dem häufig pro­vokativen und inszenierten Kampf für die Natur identifizieren – in ihrer Aufgabe, dem Erfassen von Stammdaten für den nächsten Fundraising-Brief, jedoch wenig Sinn erkennen und es als isolierte, sinnlose Tätigkeit erleben.

Das Erkennen von Sinn in der eigenen Rolle führt zu einer hohen Identifikation des Mitarbeiters mit der Organisation wie auch mit der Aufgabe. Mitarbeiter, welche Sinn in ihrem Tun sehen, sind erwiesenermassen produktiver und machen Unternehmen damit erfolgreicher. Sie agieren loyaler und bekleiden Funktionen über längere Zeit. 

Sinn im Job erleben

Sinn ist, wenngleich schwer greifbar, eine «harte Währung», welche direkt auf die Konten Motivation und in der Folge Mitarbeiterproduktivität und Mitarbeiter­bindung einzahlt.

Was brauchen Mitarbeitende also, um Sinn im Job zu erkennen? Wie sollten Aufgaben und Rollen in Organisationen gestaltet werden, um als sinnhaft erlebt zu werden? Gibt es ein generell anwendbares Rezept für die Gestaltung von Sinn? 

Als sinnstiftend werden Jobs häufig dann erlebt, wenn sie Selbstbestimmung beinhalten und wenn die Arbeit als Beitrag zu einem grösseren Ganzen verstanden wird. Darüber hinaus sollten mit der Aufgabe ein Wertzuwachs oder Fortschritt erzielt werden können.

Selbstbestimmung

Selbstbestimmt arbeiten zu können, bedeutet, Aufgaben, Prioritäten oder auch Tagesinhalte und Zeit autonom strukturieren zu können. Dazu gehören die Möglichkeit und der Raum, persönlich wichtige Dinge und den Alltag miteinander zu vereinen. Komponenten sind beispielsweise Familie, Arbeit, Sport, Gesundheit, Haustiere, Ernährung, das soziale Umfeld oder das kreative Schaffen. Diese Form der Selbstbestimmung ist eng an Selbstwirksamkeit gekoppelt – sie lässt uns stärker persönliche Gestaltungsfreiheit spüren, was in weiterer Folge motiviert.

Beitrag zu etwas Grösserem

Einen Beitrag zu leisten, der die individuellen Möglichkeiten übersteigt und sich auf die Welt auswirkt, motiviert. Durch Mitwirken in einem Kollektiv etwas für die Gesellschaft oder für die Natur zu schaffen, «Impact zu erzielen» und in 
weiterer Folge Sichtbarkeit zu erreichen, führt zu grosser Befriedigung. Eine gewisse Emotionalität, eine berührende und eine ergreifende Komponente, steht deshalb klassischerweise für sinnstiftende Tätigkeiten. 

Andere Menschen glücklich zu machen oder ihnen helfend oder beratend zur Seite zu stehen, kann Motivation sein. Insgesamt wird Sinn in bedeutungsvollen Beziehungen und einer emotionalen Bindung erfahren, die auf einem geteilten gemeinsamen Zweck beruhen. So wird Sinn häufig in einer Zugehörigkeit zu einer Gruppe erlebt und kann durch Zugehörigkeit zu einer Organisation gestärkt werden.

Es resultiert, dass ein gemeinsames Werteverständnis von Organisation und Mitarbeitern die unabdingbare Basis bildet, um gemeinsam Sinn definieren zu können. Idealerweise stimmen der individuelle Sinn derer, die in Unternehmen wirken, und der übergreifende Sinn der Organisation überein und verstärken sich gegenseitig (vgl. Human Resources, Teil 4/6 in «KMU-Magazin», Ausgabe 10/20).  

Wertzuwachs und Fortschritt

Sinn wird weiter dann erlebt, wenn eine Entwicklung oder ein Fortschritt stattfinden, sich etwas optimieren lässt oder eine Expertise in einem Feld erlangt wird. Diese Entwicklung kann beispielsweise persönlich, physisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich oder materiell sein und findet Ausdruck in einem individuell wahrgenommenen Wertzuwachs. Prof. Alfried Längle, Psychotherapeut, Arzt, klinischer Psychologe und Coach, beschreibt in seinem Aufsatz zum Leadership und Führungssinn: «Sinn heisst eigentlich gehen, unterwegs sein. Wer geht, geht irgendwohin. Etwas ‹macht› dann ‹Sinn›, wenn es dazu dient, einen Wert zu erhalten oder mehr Wert zu schaffen. Mitarbeiter einzustellen oder zu entlassen, Investitionen zu tätigen, Beratung in Anspruch zu nehmen usw. ist dann ‹sinnvoll›, wenn es einen Mehrwert ‹verspricht› (d.h. dieser liegt noch in der Zukunft). Für einen Sinn zu bezahlen, ist durchaus in Ordnung. Nur unter dem Strich muss ein Gewinn herausschauen – etwas, was wir als Wert beziehungsweise Wertzuwachs ansehen (was nicht unbedingt ein materieller Wert sein muss). Sinn ist wie ein Wegweiser, der auf die Wertoptimierung verweist. Somit ist Sinn eine dynamische, keine statische Grösse.» 

Wenn Sinn als Wegweiser verstanden werden kann, ist es essenziell, seiner vorgeschlagenen Richtung zu folgen. Doch wie spürt man Sinn und damit Bestätigung auf seinem Weg oder: wie wirkt fehlender Sinn? 

Wie sich Sinn anfühlt

Was alle Menschen eint, ist der Wunsch, anerkannt und respektiert zu werden. Wenn Mitarbeiter positives Feedback von Kunden, Kollegen oder Vorgesetzten erhalten, fühlen sie sich wertgeschätzt, wahrgenommen und bestätigt. Sie empfinden Sinn. Sinn fühlt sich als Emotion häufig «fliessend» an. Mihály Csíkszentmihályi, einer der bedeutendsten Psychologen des 20. Jahrhunderts, beschreibt diesen «Flow» wie folgt: Die Zeit und sich selbst vergessen, sich dabei entspannt und voller Energie fühlen, gänzlich von seinem Tun absorbiert sein, sich diesem hingeben und sich als eins mit seiner Umwelt, seiner Tätigkeit und seinem Leben empfinden.

Meist wird Sinn begleitet von einem Gefühl von Verbundenheit und Dankbarkeit – vom Individuum ausgehend und zum Individuum gelangend. Sinn resultiert in Identifikation, Selbstverwirklichung und Zufriedenheit.

Sinn als Energizer

Sinn muss sich jedoch nicht immer nach Freude und Spass anfühlen, so wie ein geübter Surfer verspielt eine sieben Meter hohe hawaiianische Welle reitet. Sinn kann auch von Schmerz und extremer Anstrengung gekennzeichnet sein. Beispiele sind das Pflegepersonal während Covid-19, das beharrlich und bis zur Erschöpfung Patienten behandelt, oder der Anwalt, welcher sich in einem emotional aufwühlenden Prozess für seinen Mandaten einsetzt. Sinn ist mächtig, er hilft, die eigenen Batterien schneller wieder aufzuladen, und setzt zusätzliche Energien frei. Sinn kann Menschen dabei unterstützen, in Phasen erhöhter psychischer und physischer Belastung unerwartete Ressourcen und Kräfte zu mobilisieren und über sich selbst hinauszuwachsen.

Die Abwesenheit von Sinn

Manchmal ist es einfacher, fehlenden Sinn zu identifizieren, als vorhandenen Sinn zu erkennen. Fehlender Sinn zeigt sich am deutlichsten in einer stagnierenden Entwicklung und wenn keine Leidenschaft im eigenen Tun spürbar ist. Auslöser ist häufig die fehlende Identifikation mit der Vision, der Organisation, den Werten, der Kultur und den handelnden Akteuren. Sinn verschwindet, wenn individuelle Freiheiten beschnitten werden und wenn sich die Arbeit «nicht beseelt», inhaltslos und leer anfühlt. 

Wenn der Mensch über längere Zeit einer sinnlosen Tätigkeit nachgehen soll, lähmt ihn das und er wird blockiert. Insgesamt «ziehen» solche Aufgaben mehr Energie, als sie geben, und lassen das individuelle Energiekonto ins Minus rutschen. In der Folge verursacht die Abwesenheit von Sinn häufig die Suche nach Sinn. Mit dieser Suche wird eine Öffnung und Veränderung des Individuums notwendig.

Ein emotionales Thema

Sinn ist der stärkste Faktor für Stabilität in Organisationen. Sinn lässt sich jedoch nicht im Reagenzglas erzeugen, sondern ist Resultat einer sorgfältigen Reflexion und einer authentischen Unternehmens­ausrichtung sowie Führung. Sinn lässt sich weder eindeutig definieren, noch lässt sich seine Präsenz zuverlässig messen. Sinn ist ein emotionales Thema, das sich stärker fühlen als beschreiben lässt. Über Sinn kann man sinnieren. 

Am Ende jedoch ist klar: Jedes Individuum braucht einen individuellen Sinn. Sinn kann Ausdruck eines gut gelebten Lebens sein, wenn er als innerer Kompass verstanden wird, der die Ausrichtung bestimmt. Wer ein Unternehmen führt und Menschen motivieren will, muss Sinnmöglichkeiten bieten.

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