Strategie & Management

Human Resources Management

Mit Branchenprojekten qualifizierte Fachleute gewinnen

Offene Stellen zu besetzen, ist für viele Unternehmen eine Herausforderung. Viele fragen sich, wie sie Fachkräfte gewinnen und halten können – und finden die Antwort in Projekten, die von Branchenverbänden gestartet und vom Bund unterstützt werden. Zwei Beispiele ­zeigen, welche Neuerungen Unternehmen eingeführt und was sie damit gewonnen haben.
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Die Zahlen sind eindrücklich: Die Schweiz hat derzeit die tiefste Arbeitslosenquote seit 20 Jahren. Die erfreuliche Beschäf­tigungslage hat allerdings eine Kehrseite. Für Unternehmen wird es zunehmend schwierig, Personal zu finden. Gemäss Bundesamt für Statistik BFS meldeten die Unternehmen für das letzte Quartal 2022 insgesamt 18 700 mehr offene Stellen als im Vorjahr. Das entspricht einer Zunahme von 18 Prozent. Die Schwierigkeit, gelernte Arbeitskräfte zu rekrutieren, hat um fast fünf Prozent zugenommen. Eine Entspannung ist nicht in Sicht. 

Anreize schaffen

«Für uns war klar, dass wir etwas un­ternehmen müssen, wenn wir nach wie vor gute Mitarbeitende finden und behalten wollen», sagt Marcel Kunfermann, Geschäftsführer der Bauunternehmung HEW AG im bündnerischen Ems. «Die Bedürfnisse des Personals verändern sich, und wir wollen attraktiv bleiben.» Die Firma, die an sechs Standorten in Graubünden mit saisonalen Schwankungen bis zu 180 Angestellte beschäftigt, nahm 2020 an einem Projekt des Branchen­verbands Infra Suisse teil. Das Thema: Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben im Infrastrukturbau fördern. 

Wie eine Umfrage unter den Verbandsmitgliedern von Infra Suisse zeigt, sind Teilzeitangebote und andere Modelle, die es Angestellten erleichtern, ihren Beruf und ihr Familienleben zu vereinbaren, bei Bauunternehmen die Ausnahme. «Wir verstehen das Angebot der Vereinbarkeit als Teil einer nachhaltigen Unternehmensführung», sagt Adrian Dinkelmann, Geschäftsführer des Branchenverbands Infra Suisse. «Wir wollen unseren Mit­gliedern zeigen, an welchen Stellschrauben sie drehen können, wenn sie mit den veränderten Erwartungen der Arbeitnehmenden Schritt halten möchten.» 

Ausschlaggebend für den Branchenverband waren Angestellte, die private Unternehmen verliessen und beispielsweise zu öffentlichen oder bundesnahen Arbeitgebenden wechselten. Nicht in erster Linie wegen des Lohns, sondern wegen der Rahmenbedingungen, die es ihnen etwa erlaubten, durch ein Teilzeitpensum einen Teil der Kinderbetreuung zu übernehmen.

Finanzhilfen des Bundes

Möglich gemacht wurde das Projekt von Infra Suisse unter anderem mit der fi­nanziellen Unterstützung des Bundes. Das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann EBG kann die Gleichstellung von Frau und Mann im ­Erwerbsleben mit Finanzhilfen unterstützen (siehe Box). Diese Anschubfinanzierung erleichtert die Überzeugungsarbeit auf Verbandsebene, aber auch den Unternehmen gegenüber: «Wenn sich die Kosten für die Beteiligten in Grenzen halten, sind die Leute eher bereit, sich auf ein Nachhaltigkeitsprojekt einzulassen», so Dinkelmann.

Im Rahmen des Projekts erhielt HEW AG eine Beratung durch die Fachstelle «UND», welche auf Vereinbarkeitslösungen für Unternehmen und Organisationen spezialisiert ist. «Wir haben gesehen, in welchen Bereichen wir uns weiterent­wickeln möchten», sagt Marcel Kunfermann. Seither hat die HEW AG Reglemente erstellt und Prozesse angepasst: Ferienbezugsmodelle wurden vereinheitlicht, Lohn­ersatz bei Elternschaft geregelt, Unterlagen zur vorurteilsfreien Personalse­lektion ­erarbeitet und die Organisation von Teilzeitmodellen systematisiert. Weitere Elemente – etwa eine Anlaufstelle für Betroffene von Diskriminierung oder eine Schulung von Führungskräften zum Thema Vereinbarkeit – sind in Arbeit. 

Polier an vier Tagen

Mit den Neuerungen verbunden ist ein Kulturwandel. Marcel Kunfermann dazu: «Früher hiess es, der Polier muss fünf Tage auf der Baustelle präsent sein. 100 Prozent oder gar nicht. Allmählich wird klar, es geht auch anders.» Bei der HEW AG gibt es heute nicht nur in der Administration, sondern ebenfalls auf der Baustelle Mitarbeitende, die 80 oder 60 Prozent arbeiten, auch im Kader. «Auch für Kranführer oder Maschinisten sollen solche Lösungen möglich sein.»

Das sei natürlich auch mit einem Mehraufwand verbunden, sagt Kunfermann. Ein Argument, das gerade auf viele KMU, die keine grosse Personalabteilung haben, abschreckend wirken könnte. Einsatz- und Personalplanung erfordern grös­sere Aufmerksamkeit: «Man braucht einen Stellvertreter, der die Arbeit am freien Tag des Kollegen übernehmen kann. Viele der jüngeren Teammitglieder sind aber noch so gern bereit, das zu tun. So hat man nicht nur eine gute ­Lösung im Krankheitsfall, sondern gleich auch ein Nachwuchsförderungsprogramm», so Kunfermann. Für ihn steht fest, dass sich der Mehraufwand für die HEW AG lohnt: «Lieber jemand, der zu 70 Prozent topmotiviert auf der Baustelle arbeitet, als jemand, der Vollzeit arbeitet und dafür auf dem Absprung ist.»

Abwanderung stoppen

Gut ausgebildete Angestellte nicht ver­lieren, das will auch Nora A. Escherle. Sie ist die Geschäftsleiterin der SVIN, der Schweizerischen Vereinigung der Inge­nieurinnen. Ihr Hauptaugenmerk liegt auf den weiblichen Fachkräften. Sie sagt: «Wir müssen uns damit auseinandersetzen, warum ein Teil der gut ausgebildeten Frauen den Einstieg in die Branche meidet oder ihr sogar den Rücken kehrt.» Die Herausforderung im Ingenieurwesen: Zwar beträgt der Frauenanteil zu Beginn der Studiengänge ein Drittel, doch sind am Ende nur rund 16 Prozent aller im Ingenieurwesen tätigen Fachkräfte Frauen. Entsprechend lautete der Befund einer Studie der Verbände Economie­suisse und Swiss Engineering: Der Beruf muss angesichts des Fachkräftemangels auch für Frauen attraktiver werden. 

Mit der finanziellen Unterstützung des EBG bietet die SVIN deshalb seit mehreren Jahren den «Kultur-Wegweiser» an. Das Impulsprogramm dauert pro Betrieb zwölf Monate und richtet sich an Unternehmen aus den Bereichen MINT (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik). Enthalten sind eine Organisationsanalyse, Mentoringprogramme und Workshops für MINT-Frauen und Führungskräfte. Das Ziel ist es, die Stolpersteine ausfindig zu machen, die Frauen daran hindern, im Unternehmen zu bleiben oder verantwortungsvolle Positionen zu übernehmen. 

Noch viel zu tun

Ein Beispiel: In einem Unternehmen gibt es für die Bauingenieurinnen keine Helme für die Arbeit auf der Baustelle, nur ­solche in Männergrössen. «Das sind nicht nur Details. Sie stehen für blinde Flecken in der Organisation», sagt Nora A. Escherle, «und meistens stecken dahinter noch grös­sere Herausforderungen.» Alte Glaubenssätze hielten sich teilweise hart­näckig: «Oftmals wird Elternschaft bei Frauen als Bedrohung empfunden. Dabei können wir es uns nicht mehr leisten, eine Ingenieurin an eine andere Branche zu verlieren, nur weil ihr das Unternehmen kein Angebot für den Wiedereinstieg nach dem Mutterschaftsurlaub machen kann», sagt Escherle. 

Das Programm ist beliebt, es wurde bereits zum sechsten Mal durchgeführt. 27 Unternehmen haben es durchlaufen. Darunter grosse Unternehmen wie Siemens, Bombardier oder die SBB, aber auch kleinere, wie etwa der Software-Dienstleister Supercomputing Systems SCS aus Zürich mit 130 Angestellten. 

Während die Firma SCS Teilzeit und ­flexible Arbeitszeiten schon lange auf allen Stufen ermöglichte, bleiben in anderen Bereichen Herausforderungen. Elke Cursch­mann, Personalverantwortliche und Mitglied der Geschäftsleitung der SCS, sagt: «Wir wollen den Anteil unserer Entwicklerinnen erhöhen, der derzeit bei 14 Prozent liegt.» Auch die Anzahl der weiblichen Führungskräfte möchte SCS erhöhen. Neben dem Anspruch, auf dem Arbeitsmarkt als attraktive Firma zu gelten und dadurch leichter rekrutieren zu können, treibt SCS aber noch ein anderes Ziel um. «Wir sind überzeugt, dass gemischte Teams bessere, innovativere Lösungen für die Anliegen unserer Kundschaft finden», sagt sie. Entsprechend gross war die Bereitschaft, beim «Kultur-Wegweiser» der SVIN mitzumachen. Trotz voller Auftragsbücher, trotz gedrängtem Arbeitsalltag. «Zeit ist in einer Firma immer knapp. Aber viele Massnahmen brauchen nicht mehr Zeit, sondern eine veränderte Wahrnehmung», so Curschmann. 

Während des Workshops sei etwa das ­Bewusstsein für das Thema Sichtbarkeit gewachsen: «Wir achten heute darauf, dass bei Vorträgen Frauen wie Männer Referate halten und dass auf der Webseite der SCS auch die weiblichen Mit­arbeiterinnen zu sehen sind, schliesslich haben wir nicht nur männliche Software-Spezialisten.» Noch gebe es viel zu tun, doch Elke Curschmann verzeichnet Fortschritte. So ist bei SCS nun auch eine Frau Leiterin einer Entwicklungsabteilung.

Neue Wege eröffnen

Mit einem angepassten, verkürzten Programm soll der «Kultur-Wegweiser» nun auch für KMU adaptiert werden. Nora A. Escherle von der SVIN ist überzeugt, dass sich solche Projekte für eine Vielzahl von Firmen aus unterschiedlichen Branchen lohnen würden. «Am Ende unseres Programms steht häufig bei allen Beteiligten die Erkenntnis: Was für Frauen ein Hindernis ist, um sich in einem Unternehmen wohlzufühlen, ist meistens auch für Männer ein Hindernis.» Schafft ein Unter­nehmen beispielsweise mehr Transparenz bei der Frage, welche Schritte nötig sind, um für Beförderungen infrage zu kommen, sorgt das bei der gesamten Belegschaft für ein gutes Gefühl und für Klarheit bei der Laufbahnplanung. 

Anstösse geben, sensibilisieren, ein Forum schaffen: Das sieht auch Adrian Dinkelmann von Infra Suisse als die Rolle der Verbände in Zeiten des Fachkräftemangels. «Das einzelne Unternehmen muss sich oft auf das Tagesgeschäft konzentrieren. Wir als Branchenverband haben hingegen die Möglichkeit, eine langfristige Perspektive zu entwerfen und diese in Projekten zu konkretisieren.» Mit der Absicht, dass letztendlich alle Branchenmitglieder davon profitieren können.

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