Strategie & Management

Unternehmensführung (Teil 1 von 2)

Die Rolle des CEO in der Selbstorganisation

Wenn unter Selbstorganisation eine Organisationsform verstanden wird, in der die formale Macht mit den Mitarbeitenden geteilt wird – wie kann dann noch der CEO diese Transformation führen? Der Beitrag bietet eine praktische Reflexionshilfe im Umgang mit diesem Spannungsfeld.
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Derzeit erkennen viele Führungskräfte, dass das auf Hierarchie gestützte Führungsmodell «Command und Control», bestehend aus Strategien vorgeben, Ziele setzen und Leistungskontrolle, nicht mehr funktioniert. Das Modell hat über die letzten Jahre stark an Wirkungskraft verloren. Die heutige Vuca-Welt (Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit), zusammen mit der fortschreitenden Digitalisierung, macht eine grundlegende Reflexion der Rolle der Führungskraft dringend notwendig, angefangen beim CEO. Welche Art Führung benötigt es in der Transformation zur Selbstorganisation? In der stark wachsenden Diskussion über Selbstorganisation bekommt dieses Thema zu wenig Aufmerksamkeit. 

Vielen Führungskräften ist durchaus bewusst, dass das bisherige Führungsmodell nicht mehr funktioniert. Viele fragen sich, welches Führungsmodell und welche Organisationsform den Anforderungen der Vuca-Welt besser gerecht werden. Die Verunsicherung ist manifest bezogen auf die zukünftige Rolle der Führung.

Frederic Laloux, bekannt von seinem 2014 erschienenen Buch «Reinventing Organisations» – das seit längerer Zeit mit mehr als 500 000 Exemplaren am meisten gekaufte Buch zum Wandel von Or­ganisationen – gibt zur neuen Rolle des CEO Perspektiven, die der Autor mit seiner Erfahrung in der Begleitung von Transformationen zur Selbstorganisation ergänzen möchte. 

Übereinstimmung notwendig

Eine Erkenntnis aus der Beratungspraxis: Eine gelingende Transformation bedingt in erster Linie eine hohe Übereinstimmung in den Haltungen und Überzeugungen des obersten Führungsteams. Wenn ein Führungsteam oder Vorstand die eigene Organisation in der rauen Vuca-See «agiler» machen will, so sollte die erste Priorität darin liegen, sich Zeit zu nehmen, die eigenen Haltungen und Überzeugungen bezogen auf Mensch und Organisation zu reflektieren. Nicht als philosophisches Kaminfeuergespräch, sondern als ehrlichen Diskurs, um her­auszufinden, ob genügend Übereinstimmung darüber besteht. Wenn dem nicht so ist, wenn zum Beispiel ein Mitglied der obersten Führung fest daran glaubt, dass der Mensch im Grundsatz faul ist und kontrolliert werden muss, und ein anderes Mitglied im Gegensatz dazu ein Menschenbild hat, dass auf Vertrauen, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung fusst, so sollte das Unternehmen vorerst die Finger von der Transformation lassen. 

Ausgehend von einem gemeinsamen Nenner an Haltungen und Überzeugungen kann die Transformation gelingen und sie benötigt natürlich auch eine kontinuierliche Befähigung aller Mitarbeitenden, verbunden mit den entsprechenden Hilfsmitteln. 

Selbstorganisation und Haltung

Zur Klärung des vielverwendeten Begriffs Selbstorganisation eine Anmerkung: Gemeint ist hier nicht die Methodenwelle, um Teams noch «agiler», leistungsfähiger, schneller und auch erfolgreicher zu machen. Der Fokus liegt auf der Transformation der gesamten Organisation zu einer grundlegend neuen Form der Kollaboration, geprägt von einer Haltung, die sich an folgenden Aus­sagen erkennen lässt:

  • Es besteht ein umfassend positives Menschenbild, welches in jedem Menschen, nebst dem, was er unmittelbar leistet oder unterlässt, ein unerschöpfliches Potenzial an Möglichkeiten sieht. Laloux nennt das «den Menschen als Wunder betrachten». Man kann es auch ganzheitlich nennen.
  • Begegnungen finden auf gleichen Augenhöhe statt, unabhängig von der hierarchischen Position in der Organisation.
  • Die Überzeugung und Haltung ist, dass eine Organisation keine geschickte Ansammlung und Verknüpfung von Ressourcen (Menschen und Kapital) ist, sondern ein lebendiger Organis­-mus mit einer Geschichte, einer eigenen evolutionären Dynamik, Identität und einem genuinen Purpose. 

Erstaunlich ist, dass inzwischen sogar die bekannte Beratungsorganisation McKinsey (wo Laloux ja lange gearbeitet hat) die zuletzt genannte Haltung stark propagiert und mit ihren Forschungen in Organisationen die Wichtigkeit belegt. Daran ist erkennbar, in welchem fundamentalen Wandel wir uns befinden, was die grundlegenden Haltungen betrifft bezüglich Transformation und erfolgreicher Kollaboration in Organisationen. Der «Mindshift» ist eindeutig im Mainstream der Organisationswelt angekommen. 

Begrifflichkeiten

Uns fehlen noch die passenden Begriffe für diesen Paradigmenwandel, weil ein Grossteil unserer heutigen Organisati­onssprache noch aus dem industriellen Maschinendenken stammt, wie zum Beispiel Ressourcen (Menschen), Schnittstellen (bereichsübergreifende Zusammenarbeit) oder Output (Wirkung oder Beitrag). Auch die Begriffe «Mindshift» oder «Mindset» führen zum Trugschluss, dass man die Haltung rasch wechseln kann wie ein Betriebssystem. Der Begriff «Mindset» ist auch zu kurz gegriffen, denn eine Haltung ist ja nicht eine intellektuelle Sache, sondern ist verbunden mit unseren tiefsten Überzeugungen und Werten, für die wir uns mit Herzblut einsetzen wollen. Zudem wissen wir alle, dass Haltungen nicht über Nacht aufpoppen, sondern dass diese sich entwickeln und verändern, aufgrund unserer persönlichen Lebens­geschichte, den Erfahrungen, die wir gemacht haben, und unserer Reflexion darüber. Das Mindset betrifft also nicht allein den Mind (den Kopf), sondern auch unsere inneren Überzeugungen (das Herz) und die Kongruenz in unserem Tun (die Hände).

Der Begriff «Mindset» wurde in den 1930er-Jahren des vorherigen Jahrhunderts im englischen Sprachraum erstmals benutzt im Sinne von «Denkgewohnheiten, gebildet durch Erfahrungen der Vergangenheit». Unser Mindset sorgt dafür, dass wir fragmentierte Sichtweisen über die Welt haben, selten gestützt durch eine umfassende Faktenanalyse. Wir sehen die Welt so, wie wir sind («we see what we are») oder wie wir die Welt sehen wollen. 

Mindset und Reflexion

Unser Mindset ist ein Filter, durch den wir die Welt betrachten. Also haben wir eine Menge blinder Flecken. Diese können wir nur bearbeiten mit der Hilfe der Menschen, die uns erleben, unser Verhalten beobachten und uns Feedback geben. Erfolgreich in der Vuca-See navigierende Führungsteams investieren viel Zeit in den eigenen Change, indem sie Feedback und Reflexion nutzen, um kontinuierlich an ihren unvermeidlichen blinden Flecken zu arbeiten. Die erfolgreiche Otto-Unternehmensgruppe in Deutschland macht es vor: Die Konzernleitung bekennt sich dazu, einen Tag im Monat für den eigenen Change in Mindset und Führung zu investieren. Dies ist vorbildlich, aber leider noch wenig anzutreffen.

«Wir brauchen ein anderes Mindset» heisst es öfters in Kundengesprächen. Der Weg dorthin ist kein schneller und leichter, aber er ist machbar. Der erste Schritt ist, dass der CEO und seine Geschäftsleitungskollegen sich einlassen können und wollen auf einen gemeinsamen Reflexionsprozess. Teil davon muss die Spiegelung sein (Feedback), wie sie sich im Alltag verhalten und in welchem Masse dies übereinstimmt mit den inneren Überzeugungen und Haltungen. Wenn diese Bereitschaft zur regelmässigen Reflexion nicht da ist, sollte man das Transformationsvorhaben sein lassen. Es kostet nur viel Geld und Energie. Zudem verunsichert es die Mitarbeitenden und gefährdet die Stabilität und Wirtschaftlichkeit.

Haltung hat einen massgeblichen Einfluss auf das Resultat. Bill O’Brien, ehemaliger CEO der global tätigen Hanover Insurance, sagt es so: «The success of an in­tervention depends on the interior condi­-tion of the intervenor.» MIT-Dozent Otto Scharmer bezeichnet dieses Feld der inneren Haltung als den inneren Ort, von wo aus wir handeln. Es ist der blinde Fleck im Leadership. Es wird zwar immer wieder über die Wichtigkeit der Haltung im Leadership gesprochen, konkret wird aber den Haltungen und Überzeugungen viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. 

Ein Beispiel aus einem meiner Mandate: Ein Chef Marketing und Sales, der vor der Entlassung einer Schlüsselperson steht, hat die Wahl, dies zu tun, aus der Haltung:

  • «Ich habe die Macht und zeige dies auch. Der muss einfach weg, der muss ausgetauscht werden», oder 
  • «Ich habe nach reifer Überlegung entschieden, mich von diesem Mitarbeiter zu trennen. Dafür gibt es gute Gründe, dennoch möchte ich den Trennungsprozess fair und auf Augenhöhe gestalten».

Führung der Transformation 

Der Weg hin zur Selbstorganisation be­nötigt viel Führung. Weil die Organisation meistens lange Zeit als Orientierung die formale Hierarchie hatte, das heisst, Menschen hatten Positionen in der Hierarchie und waren ausgestattet mit entsprechenden Entscheidungskompetenzen. Wenn diese Orientierung sukzessive transformiert wird zu einer Kollaboration mit verteilter Macht (Selbstorganisation), benötigt es viel Führung. Das Risi­ko ist sonst, dass die Orientierung ver­loren geht und die Organisation in Chaos und «laissez faire» stürzt. Der  CEO sollte den Startschuss geben für die Trans­formation und Klartext reden, was mit Selbst­organisation gemeint ist. Zum Beispiel, indem er sagt, dass es im Vergleich zu anderen, bisherigen Organisationsformen eine klarere und diszipliniertere Organisationsform ist.

Viele Führungskräfte, gerade im mittleren Kader, sind erfahrungsgemäss in dieser Situation sehr verunsichert, weil sie sich nicht mehr stützen können auf die formelle Macht. Sie bangen um Bedeutungslosigkeit und um ihren Job. In der Transformation verkörpert der CEO das Rollenmodell für das Zukünftige. Der CEO kann dabei unterschiedliche Rollen ausüben, die entscheidend sind für das Gelingen. Er kann durch sein eigenes Verhalten in dieser Transformation den Mitarbeitenden und den anderen Stakeholdern eine wichtige Orientierung geben.

In einem seiner Videos beschäftigt Fre­deric Laloux sich mit diesem Thema. Es ist eines seiner längsten Videos, weil es ein Kernthema behandelt: die Rolle der obersten Führungsspitze auf dem Weg zur Selbst­organisation. Als Erstes nennt Laloux zwei Rollen, die mehr oder we­niger unverändert bleiben für den CEO: 1. Das Gesicht nach aussen. 2. «Sensing» und erarbeiten des Purpose der Organisation.

Das Gesicht nach aussen

Die Inhaber, Aktionäre oder Aufsichtsorgane der Organisation wollen den direkten Draht zum CEO. Für diese ist der CEO 24h / 365 Tage für den Erfolg oder Misserfolg der Organisation verantwortlich. Gerade in der Übergangsphase zu einer Selbstorganisation ist es wichtig, dass diese Rolle nach aussen eine Kontinuität aufweist, andernfalls besteht das Risiko der unnötigen Verunsicherung. Andere Stakeholder sind die Presse, Schlüsselkunden und regulatorische Institutionen. Auch die wollen oftmals den CEO als Ansprechpartner.

Aktionäre oder Aufsichtsgremien wollen beispielsweise vom CEO wissen, warum und wieso dieser Weg eingeschlagen wurde. Es wird Kunden geben, die wollen von oberster Stelle erfahren, was es auf sich hat mit diesem Unternehmenswandel. Diese Fragen können während der Transformation am besten vom CEO selber beantwortet werden, denn er ist nach aussen der Garant für den Erfolg des Unternehmens. Dafür muss der CEO natürlich nicht nur voll und ganz hinter der Transformation stehen, sondern er muss sie «anführen», verkörpern. Sonst wirkt es unglaubwürdig.

«Sensing» und Erarbeiten des Purpose

Was unverändert ist, ist, dass der CEO bezogen auf die strategische Ausrichtung des Unternehmens eine zentrale Rolle hat. Das übliche Vorgehen ist, dass die Geschäftsleitung eine Strategie erarbeitet und der CEO diese einbringt in die Aufsichtsgremien, die diese letztendlich absegnen. 

Es genügt aber nicht mehr, den wirtschaftlichen Erfolg zu sichern und zu belegen. Laurence Fink, CEO des weltgrössten Vermögensverwalters Black Rock, bekannt als der «mächtigste Mann der Wall Street», hat seit 2018 mehrmals die CEOs der vielen Firmen, an denen Black Rock beteiligt ist, aufgefordert, sich nicht ausschliesslich auf Gewinnmaximierung zu fokussieren, sondern den nachhaltigen Beitrag ihres Unternehmens in das Zen­trum zu rücken. Dies tut er nicht, weil er plötzlich Umweltschützer geworden ist, sondern weil er erkannt hat, dass ein nachhaltiger Purpose ein relevanter Faktor ist für das Überleben des Unternehmens. In einem Interview äusserte sich Jörg Gasser, Chef der Bankiersvereinigung in der Schweiz, Anfang Dezember 2019 sehr ähnlich zur Rolle der Banken. Dies zeigt ein Umdenken auf.

Der Purpose sollte Ausdruck der Sinngebung sein, für das, was die Organisation mit allen Mitarbeitenden erbringt. Es geht um die Werthaltung, aus der heraus etwas für andere geschaffen wird, was wiederum die Menschen in der Organi­sation antreibt, ihr Bestes zu geben. Der Purpose ist nicht die Strategie, nicht das Leitbild, es ist der genuine Beitrag, den das Unternehmen für seine Kunden und Stakeholder erbringen möchte. Unternehmensberater Simon Senek benennt dies in seinem Golden Circle als das «Why» der Organisation. Das Leitbild mit den Werten und Überzeugungen beschreibt das «How». Im Purpose widerspiegeln sich die Haltungen und Überzeugungen. Das Leistungsversprechen der Organisation ist das «What».

Wenn die Organisation verstanden wird als ein lebendiger Organismus, so ist der Purpose kein Fixstern, sondern etwas, das sich verändert im Zuge der Entwicklung der Organisation als Ganzen. Somit benötigt es immer wieder ein «Hinhören», wohin sich dieser Purpose bewegt. Ein Beispiel: Martin Eisenhut von Transa, einem grossen Outdoor-Anbieter, sagte mir über seinen CEO, Daniel Humbel, mit dem er eng zusammenarbeitet, dass dieser «einen offenen Kanal zur Zukunft des Unternehmens hat, er spürt, wohin die Organisation gehen könnte, und inspiriert das Team, neue ungewohnte Wege zu gehen und neue Projekte zu initiieren».

Das Erfassen des Purpose ist kein intellektueller Prozess, deshalb benutzt Laloux den Begriff «sensing», ein «Hineinspüren» in den lebendigen Organismus der Organisation. In meinen Worten beinhaltet dies die Fähigkeit, im Kontakt zu sein mit dem, was die Organisation im Moment im Kern ausmacht, und von dort aus in die Zukunft hineinspüren, dort wo das zukünftige Potenzial der Organisation liegt. Otto Scharmer hat das Wort «Presencing» dafür geschaffen, was genau dies ausdrückt. Dieses «Presencing» erfordert eine ganz neue Kompetenz. Statt in schönen Powerpoint-Darstellungen die langfristige Strategie des Unternehmens abzubilden und zu verordnen, geht es darum zu erspüren, in welche Richtung sich der Organismus bewegt und was der nächstmögliche Entwicklungsschritt ist. Man könnte dies auch als ein agiles Mit­bewegen bezeichnen statt des Umsetzens einer vorgegebenen Richtung.

Der CEO hat dabei eine zentrale Rolle, er ist für die Erarbeitung des Purpose ein wichtiger Katalysator. Es ist aber kein solitärer Prozess vom CEO, sondern ein co-kreativer Prozess mit den Mitarbeitenden, damit dieser Purpose der Unter­nehmung für alle verständlich ist und von aller getragen wird. Der CEO wird den Purpose nicht (mehr) allein verabschieden und als verbindlich erklären. 

Ausblick

Der zweite Teil dieser Serie beschreibt in der nächsten Ausgabe des «KMU-Magazin», welche Führungsaufgaben von CEOs im Laufe der Transformation entfallen und welche neuen Führungskompetenzen gefragt sind.

Porträt