Strategie & Management

Kommunikation

Die digital-analoge Kommunikation im Neuro-Meeting

Die Digitalisierung führt zum professionelleren Austausch von Informationen, Zahlen, Daten und Fakten, doch häufig bleibt dabei die Kommunikations- und Diskussionskultur auf der Strecke. Für kreative Entwicklungen ist das nicht hilfreich. Der Beitrag zeigt am Beispiel von Meetings, wie sich analoge und digitale Kommunikation ergänzen.
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Agilität durch Komplett-Digitalisierung im Meetingraum bedeutet oft Sterilität im «creaktiven» Denken und im Ideenfluss. Wobei es sich bei «Creaktivität» um ein Kunstwort aus «Creativität» und «Aktivität» handelt. Es reicht nicht, Ideen zu haben. Wir müssen sie auch aktiv und mutig umsetzen wollen.

Ohne Streitkultur

Zurück zum «Meeting, bloody Meeting»: Alle Meetingteilnehmer starren auf ihre Laptops oder Smartphones, es kommt immer weniger zum direkten Blickkontakt, noch seltener zu einem Face-to-Face-­Dialog. Es herrscht eine seltsame Nicht-Kommunikation. Fast so wie beim Arztbesuch, wenn im Wartezimmer acht Patienten hoch konzentriert auf ihren Smartphones herumwischen.

Was in den Meetingräumen der Unternehmen dieser Welt auffällt: Die digitale Technik ist top, die Diskussionskultur – wie schon immer? – eher ein Flop. Die Digitalisierung führt zwar zu einem immer professionelleren Austausch von Informa­tionen, Zahlen, Daten und Fakten. Die Information fliesst – allerdings: Die Kommunikation, und damit die wirkliche Problem-Diskussion, bleibt dabei zuweilen auf der Strecke, weil die Digitalisierung der Meetings die direkte zwischenmenschliche Konfrontation und die Streitkultur einschränkt oder gar behindert.

Das Sowohl-als-auch-Denken

In immer mehr Firmen verlernen es die Menschen langsam, aber sicher, miteinander streitend und zugleich konstruktiv an Problemlösungen zu werkeln. Und das auch, weil die modernen digitalen Techniken und Medien den «creaktiven» Austausch be- oder gar verhindern. Derzeit gilt dies noch nicht für das persönliche Gespräch, aber doch für Meetings, Konferenzen und Sitzungen. Es ist nicht auszuschliessen, dass diese Entwicklung von den Meetingräumen übergreift auf die Kommunikation in den Unternehmen insgesamt. Viele schicken lieber mal eben eine E-Mail oder eine Whatsapp-Nachricht, statt ein paar Schritte zum Büro des Adressierten zu gehen und die Sache umgehend zu klären. So entsteht eine Endlos-Mail-Kette mit Frage und Antwort und neuer Frage und neuer Antwort, bis niemand mehr durchblickt. Und dann sitzen die Teilnehmer in den Meetings und versuchen, die Themen-Knäuel durch Powerpoint und Zugriff auf die Datenbanken zu entwirren. Hoffnungslos!

Welche Konsequenzen sind daraus zu ziehen? Wie lässt sich der Niedergang der «creaktiven» Meetingkultur verhindern? Zurück in analoge Zeiten? Zurück in die kommunikative Steinzeit? Zurück zu bunten Kärtchen und Schiefertafel? Nein, natürlich nicht. Jede unproduktive Entweder-oder-Ausrichtung ist zu vermeiden. Warum können wir nicht die Vorteile der digitalen und analogen Welt miteinander verknüpfen, die Nachteile auf die kommunikative Müllhalde werfen und die durch ein Sowohl-als-auch-Denken entstehenden Synergieeffekte nutzen? Dabei sollen die folgenden Überlegungen zu einer digital-analogen – oder digilogen beziehungsweise anatalen – Meetingkultur helfen.

Die Situationsangemessenheit

Sowohl-als-auch statt Entweder-oder: Wir müssen wieder dahin gelangen, uns der jeweiligen Situation anzupassen und das zu tun, was die konkrete Situation erfordert. Wenn der Einsatz digitaler Kommunikationstechniken notwendig ist, um Informationen auszutauschen, bitte schön. Aber wenn es um das «creaktive» Problemlösen, das Brainstormen oder Brainwriten geht, kommen eben wieder Buntstift und Notizzettel zum Einsatz. Die einseitige Bevorzugung digitaler oder analoger Techniken muss ein Ende haben, die Ausgestaltung der Situation allein entscheidet über die Vorgehensweise.

Es ist und bleibt menschengerecht und entspricht unserer Denkstruktur, wenn wir uns auch weiterhin in Meetingräumen persönlich treffen, um Business-Themen zu besprechen und Entscheidungen zu treffen. Trotz New Work, schöner neuer Medienwelt und virtueller Kom­munikation, trotz Homeoffice und «Du kannst arbeiten, wo du willst» und Lounges in den Firmengebäuden bleibt dies für Management-Teams, die« creaktiv» arbeiten wollen, ein Muss.

Meetings hatten schon immer einen schweren Stand. Von dem Kabarettisten Werner Finck stammt der treffende Ausspruch: «Eine Konferenz ist eine Sitzung, bei der viele hineingehen und wenig herauskommt.» Jetzt droht die Zerstörung der Meetingkultur durch die durchgestylte Digitalisierung der Meetingräume. Diese müssen wieder zu «creaktiven» und digilogen oder anatalen Begegnungsstätten werden.

Lebendige Neuro-Meetings

Entscheidend ist, die heutigen Meetingräume von ihrer Sterilität zu befreien. Sicherlich, die neueste Technik gehört dazu, es geht auch um den flüssigen Informationsaustausch. Wenn aber ein Teilnehmer einen Gedankenblitz hat, muss er die Möglichkeit haben, einen Stift in die Hand zu nehmen und ihn für alle sichtbar an Flip-Chart oder Pinnwand zu schreiben, auch mit seiner schlecht lesbaren Schrift.

Von dem Schriftsteller Heinrich von Kleist (1777 bis 1811) stammt der Gedanke von der «allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden». Wir haben eine innovative Idee, äussern sie spontan, sie konkretisiert sich, während wir sie laut aussprechen. Ein solches Reden ist oft ein lautes Denken. Diese Haltung sollte im gehirngerechten Neuro-Meeting wieder möglich sein: Ein gutes Meeting lebt davon, dass ein Teilnehmer einen «creaktiven» Gedanken formulieren und sich beim Reden, Notieren und Aufschreiben vorantasten darf, bis dieser schwarz auf weiss – oder auch bunt – vor den Meetingteilnehmern nachlesbar aufscheint.

High Tech und High Touch

Bitte nicht falsch verstehen: Aber im Meetingraum muss es wieder erlaubt sein, sich zu berühren und berührende Erfahrungen zu machen. Digitales High Tech sollte durch haptisches und sinnlich-emotionales High Touch ergänzt werden. Der US-amerikanische Trend- und Zukunftsforscher John Naisbitt hat den Slogan «High Tech und High Touch» bereits in den 1980er-Jahren geprägt. Heute können wir ergänzen: Die vollständige Digitalisierung droht zur geistigen Sterilität zu führen, wenn nicht auch wieder handfest gestritten werden darf. Konkret: Der Meetingraum muss zum Diskussionsmarkt werden, in dem die Menschen kontroverse Positionen diskutieren, Argumente austauschen und verwerfen und in einen Wettstreit der Ideen eintreten.

High Touch meint auch die dynamische Visualisierung von Wortbeiträgen, die nicht allein Eingang in die Laptops finden dürfen, sondern für alle sichtbar als Impulsgeber zum Beispiel auf dem guten alten Flip-Chart an Präsenz gewinnen sollten. Dort stehen sie als Ideenanreger schwarz auf weiss oder in bunten Farben für die weitere Diskussion zur Verfügung. Die Teilnehmer können auch auf den gros­sen Screen schreiben. Aber auf Flip-Chart schreibt es sich einfacher und dynamischer. Übrigens: Wer sich einmal Fotos von Teams in agilen Unternehmen oder von Innovations-Labs anschaut, stellt fest: ganze Wände voll mit Grafiken und mit bunten Post-it-Zetteln. Das können sich viele in ihrem durchgestylten Meeting-Raum nicht vorstellen, aber warum eigentlich nicht?

Bewegung statt Sitzung

Überhaupt braucht es wieder mehr Bewegung in den Meetings. Immerhin heisst Brainstorming «Gedankensturm», und daran fehlt es den Meetings häufig, die dann an eine Sitzung erinnern, die unter dem Motto steht: «Wer sich zuerst bewegt – oder seinen Standpunkt ändert –, hat verloren.»

Perspektivenwechsel

Wir alle kennen das Phänomen, dass neue Ideen oft in dem Moment geboren werden, in dem wir die äusseren Rahmen­bedingungen verändern. Oder die gedankliche Lethargie beenden, indem wir spazieren gehen, die Umgebung wechseln – der Tapetenwechsel macht den Kopf frei für Neues. Für die digital-analoge Kommunikation im Neuro-Meeting bedeutet das: Der Meetingmoderator holt einen Querdenker mit ins Boot, er ergänzt das Meeting der Jungspunde durch den älteren, analog denkenden Graukopf, der eine ganz andere Sicht auf die Dinge hat. Oder umgekehrt: In der Runde der etablierten Führungskräfte kommt frischer Wind auf, wenn eine «total digitale» Nachwuchsführungskraft mit dabei ist.

Es geht nicht nur um den geistigen Perspektivenwechsel, sondern auch um die räumliche Veränderung. Die geistige Unbeweglichkeit lässt sich aufbrechen durch den spontanen Standortwechsel. Die Unternehmen sollten ihren durchgestylten Meeting-Raum so lassen, wie er ist, aber nicht weit entfernt davon einen Crea-Raum einrichten mit Wänden, die die Teilnehmer bemalen und an denen sie Post-it-Zettel aufhängen dürfen. In der neuen Umgebung löst sich im Steh-Meeting der Knoten im Ideenschlauch, die Ideen fliessen wieder freier. Übrigens: Zu einem dynamischen Meeting gehören bewegliche Tische, Bistrotische und Barhocker, die im Raum verrückt werden können (um zu verrückten Ideen zu führen) –, anstelle dieser gestylten, aber unbeweglichen und festgemauerten Tische.

Cloud vernebelt

Das digital-analoge Neuro-Meeting sollte durch mehr Schriftlichkeit geprägt sein. Wer fertigt heutzutage noch ausführliche Notizen an? Und wenn dies geschieht, legt ein Blick in die Notizen die Vermutung nahe, die Teilnehmer hätten höchst unterschiedlichen Veranstaltungen beigewohnt. Wir brauchen die Rückkehr zum guten alten, ja auch zum ausgedruckten Protokoll. Was in der Cloud ist, wird kaum angeschaut; man hat es ja da drin, deshalb vertagt man es, das Protokoll anzuschauen: «Kann ich ja noch immer machen.»

Ideen festhalten

Das plane Ergebnisprotokoll mit Entscheidung, Aktion, Datum und Zuständigkeit genügt nicht, es sollte schon ein Inhaltsprotokoll sein, in dem deutlich wird, wie die Beschlüsse und Entscheidungen zustande gekommen sind und wer was Substanzielles gesagt hat. Es ist wichtig, Diskussionen auch Wochen später nachvollziehen zu können, damit wertvolle Informationen und Ideen nicht verloren gehen. Dabei muss nicht alles protokolliert werden, aber der Trend zur Kürze – und zwar zur verkürzenden Kürze – ist kontraproduktiv.

Die neuen Medien verstärken diesen Trend, sie zwingen uns dazu, uns kurz zu fassen. Und manche Menschen, nicht nur Chefs, verkünden stolz, sie lesen sowieso maximal zehn Zeilen.

Das Protokoll kann in die Cloud gegeben werden, quasi für «die Ewigkeit», aber es sollte auch als Ausdruck ausgehändigt werden. Das komplett papierlose Büro – es sollte im Sinne einer creaktiven Meetingkultur besser nicht kommen. Denn ein ausgedrucktes Inhaltsprotokoll ist vor allem eine Diskussionsgrundlage, um die im Meeting angestossenen Gespräche auf einer anderen Ebene weiterzutreiben. Die Teilnehmer markieren wichtige Passagen, notieren Fragen und Denkanstös­se – der Diskussionsstoff für das nächste Neuro-Meeting ist geboren. Wetten, dass viele Teilnehmer auf ihrem ausgedruckten Dokument Wörter oder ganze Zeilen unterstreichen und ihre Kommentare an den Rand schreiben?!

Fazit

Das digiloge oder anatale Meeting gelingt dann, wenn sich die Führungskräfte von überflüssigen Meetings, die es natürlich auch gibt, verabschieden und sich voll und ganz darauf konzentrieren, die nötigen Meetings wieder mit «creaktivem» Leben zu füllen.

Porträt