Strategie & Management

Wissensmanagement

Das Kreativitätspotenzial der «Handarbeiter» nutzen

Der Management-Diskurs scheint sich langsam, aber sicher von der Lebenswirklichkeit vieler Mitarbeiter und Führungskräfte abzukoppeln. Viele Tipps, Hinweise und Ratschläge gehen an deren Realität vorbei – und bieten allzu oft nur altersschwachen Wein in neuen Schläuchen.
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Letztens klagte ein Vorstand: «Wenn ich unseren Beratern folgen würde, müsste ich in unserer disruptiven Vuca-Welt für eine agile Wohlfühlkultur sorgen, Design- Thinking und Scrum einführen sowie Kollaborationssoftware und Online-Diagnosetools nutzen.» Das sei er dem Future Management schuldig. Die Arbeitswelt 4.0 brauche unbedingt ein Upgrade, während man gleichzeitig daran zu denken habe, dass man, ambidextrisch vorgehend, das Bestehende bewahren und das Neue disruptiv und visionär denkend vorantreiben müsse. Alles klar? Das Problem ist nur: Das mittelständische Unternehmen beschäftigt mehr Handarbeiter als Wissens- und Kopfarbeiter. Doch nur für diese wären jene Ratschläge von Relevanz, nur bei ihnen bestünde überhaupt die Chance, mit der Vuca-Sprache durchzudringen und verstanden zu werden.


Handarbeiter mehr beachten

Die Arbeitswelt 4.0 besteht nicht nur aus Wissensarbeitern. Sicherlich: In Learning-Spaces lassen sich in Kreativsitzungen wunderbar neue Ideen kreieren. Und das ist auch notwendig. Was jedoch nutzt dies den Handarbeitern zum Beispiel in den Produktionshallen oder den Tausenden von Kraftfahrern? Ein Grossteil der Managementlehre konzentriert sich auf die Wissensarbeiter in den klimatisierten Büroräumen, die zur kreativen Entfaltung tatsächlich ein Wellness-Wohlfühlklima benötigen. An den Erwartungen und Lebensnotwendigkeiten der Menschen in den Produktionsstätten und -hallen gehen diese agilen Vuca-Tipps meilenweit vorbei. Noch schlimmer: Die hemdsärmeligen Bedürfnisse der Handarbeiter werden dabei auch noch sträflich vernachlässigt.

Wie sich Wissensarbeiter an ihren Schreibtischen in Projektarbeit mit Social-Enterprise-Software vernetzen und Schwarm-intelligenz im Team entwickeln – dazu gibt es genügend Tipps. Allerdings: In Deutschland agieren ungefähr 3,5 Millionen KMU, die zum Beispiel im Baugewerbe, im Gastgewerbe, im Bereich der Gebrauchsgüter, im Handel und der Instandhaltung und Reparatur von Kraftfahrzeugen tätig sind oder in kleinen Dienstleistungsunternehmen ihr Geld verdienen. Da ist natürlich auch Kopfarbeit gefragt, primär aber stehen ausführende Arbeiten im Fokus.

Europaweit sind 99 Prozent aller Unternehmen KMU. Knapp zwei Drittel aller Beschäftigten arbeiten dort. Von einem Kleinstunternehmen sprechen wir, wenn die Mitarbeiterzahl unter zehn Mitarbeitern liegt und sich der Umsatz und die Bilanzsumme bis zu oder unter zwei Mil­lionen Euro bewegen. Gerade diese Firmen stehen vor enormen personalwirtschaftlichen Herausforderungen. Oft sind hier Menschen mit geringen Löhnen tätig, die Inhaber haben nicht nur mit hoch gebildeten, jungen und urbanen Mitarbeitern zu tun.


Potenzialvergeudung stoppen

Die einschlägigen Bücher und Artikel in den Fachzeitschriften lassen die (beruf­liche) Lebensrealität der Handarbeiter meistens aussen vor. Um es auf den Punkt zu bringen: Management(vor)denker, Berater, Trainer, Unternehmer, Inhaber und Führungskräfte müssen sich endlich klarmachen, dass eine Vielzahl der Menschen, die unsere Wirtschaft stützen und voranbringen, «Handarbeiter» sind. Exportweltmeister wird man nicht allein durch Wissensarbeit. Darum müssen Möglichkeiten umgesetzt werden, mit denen sich die Kreativität der Handarbeiter entwickeln und nutzen lässt. Die einseitige und eindimensionale Fokussierung auf die Herstellung eines kreativitätsfördernden Wohlfühlklimas für die Wissensarbeiter führt zu einer unverantwortlichen Verschleuderung und einer Verschwendung der kreativen Potenziale auf Seiten der Handarbeiter.

Viele der als innovative Quantensprünge deklarierten Methoden des «New Work» kredenzen lediglich alten Wein in einigermassen neuen Schläuchen: Die Vertreter der New-Work-Bewegung wärmen das auf, was bereits vor einigen Jahrzehnten unter aus heutiger Sicht staubtrockenen Labels firmierte. Manche von Ihnen, wohl eher die Älteren, erinnern sich wohl noch, wie vor knapp 40 Jahren die Moderationsmethode von den Schnelle-Brüdern erfunden und verbreitet wurde. Danach bespannten wir Pinnwände mit braunem Papier, auf das wir verschiedenfarbige Moderationskarten mit Ideen klebten, um zu kreativen Problemlösungen zu gelangen. Heute ist diese Karten-Zettel-Methode ein wesentlicher Teil des Design-Thinking.

Oder nehmen wir die Diskussion um den Wertewandel, der mit den Erwartungen der «Generationen Y und Z» einhergeht. Neue Generation, neue Werte? Auch in den 1970er-Jahren wurden an den Uni­versitäten Hauptseminararbeiten zum Thema Wertewandel geschrieben. Und wer heute die Erkenntnisse der Neurowissenschaft als das Nonplusultra feiert, um Kunden typgerecht anzusprechen und Mitarbeiter individuell zu führen, sollte die Bücher der Managementikone Vera F. Birkenbihl zum gehirngerechten Arbeiten und Kommunizieren lesen.

Shop-Floor-Management

Um die Kreativitätspotenziale und den Innovationsreichtum der Handarbeiter zu heben, genügt es nicht, wie in den Büroräumen der Wissensarbeiter die Konferenzmöbel gegen schicke Designertische und -stühle auszutauschen und für ein Wohlfühlklima zu sorgen. Wie aber gelingt es, in den Produktionshallen für kreativen Wind zu sorgen? Sicher ist: Einen «Feelgood-Manager» braucht es dazu nicht. Eine Option bietet das Shop-Floor-Management oder das Lean Management. Unter dem Motto «Wirksam führen vor Ort» werden in der Produktionshalle Pinnwände installiert. So kann der Handarbeiter, der vor Ort, an der Produktionsstätte, am Band, ein Problem beobachtet, dieses über die Pinnwand oder ein Shop-Floor-Board kommunizieren. Das Board ermöglicht die Kommunikation zwischen Produktionsmitarbeitern und Shop-Floor-Manager – also dem Teamleiter.

Wenn es zudem gelingt, jeden Morgen ein kurzes, zwei, drei Minuten dauerndes – zuweilen auch längeres – «tägliches Meeting» durchzuführen, kann der Handarbeiter eine Problemlösung aus der praxisorientierten Sicht dessen vorschlagen, der täglich mit dieser Problematik in seinem Arbeitsbereich konfrontiert wird: «Problem erkannt – Fehlerursache benannt – Grund beseitigt!» So lassen sich Arbeitsprozesse organisieren, Fehler und Probleme besprechen und Verbesserungsvorschläge diskutieren und direkt entscheiden.

Hemdsärmeligkeit gefragt

Während in den Büros der Wissensarbeiter weisse Wände eingezogen, bequeme Sitzungsstühle und Tische mit hellbraunem oder schwarzem Edelholz und riesengrosse Touchscreens aufgebaut werden, auf denen Powerpoint-Charts gezeigt und an denen die Wissensarbeiter mit Hightech-Stiften ihre Kreativideen notieren, sind in den Produktionsstätten und den KMU die hemdsärmeligen Dinge gefragt. Mithin Dinge, die sich einfach, schnell und vor allem praktikabel umsetzen lassen und die auf die spezifischen Arbeitsbedingungen und Bedürfnisse der Handarbeiter Rücksicht nehmen.

Denn wer kann sich schon in kleinen Handwerksbetrieben, in einem Transportbetrieb oder einem Friseursalon eine Wohlfühl-Landschaft vorstellen, in der die Maurer, Zimmerleute, Lkw-Fahrer und Friseurinnen sitzen und Ideen spinnen? Aber vielleicht können sich die (ausschliesslich) auf die Wissensarbeiter fi­xierten Management(vor)denker, Berater, Trainer, Unternehmer, Inhaber und Führungskräfte ein Beispiel an den folgenden authentischen Fällen nehmen.

Auch in der Kommunikation mit den Handarbeitern ist es richtig und zielführend, den Sinn ihrer Tätigkeit zu thematisieren. Eine Reinigungskraft darf und soll stolz darauf sein, für die Kollegen die Räume so sauber zu halten, dass diese gut darin arbeiten können. Ein Friseur hat den Wunsch und den Anspruch, jeden Tag Menschen glücklich zu machen. Ein Versicherungsdirektor kontaktiert jeden seiner zwölf Mitarbeiter täglich per Telefon – zur Kontrolle, vor allem aber, um mit der Mitarbeiterbasis in den kommunikativen Austausch zu gehen.

Das ist Shop-Floor-Management im Dienstleistungsbereich, das ist Dienst an der Basis, das ist kreative Kooperation mit den Mitarbeitern, die am Ort der Wertschöpfung ackern. Jeden Monat besucht der Versicherungsdirektor jeden seiner Mitarbeiter in deren jeweiligem Büro und Bezirk. Ein Mal im Monat geht es ab ins Hotel zum Teammeeting. Das heisst: Führungskräfte sollten mit jedem Mitarbeiter den sinnstiftenden Austausch suchen – nicht nur mit den Wissensar­beitern. So fühlen sich (auch) die Handarbeiter im Maschinenraum wertgeschätzt und ernst genommen.


Erfahrungswissen nutzen

Sowohl bei den Wissens- als auch bei den Handarbeitern ist es zielführend, die äus­seren Rahmenbedingungen kreativitätsfördernd zu gestalten. Sterile Kantinen etwa sollten eher kommunikative Stätten der Begegnung sein, die dazu einladen, sich mit anderen zu unterhalten. Dabei helfen Pinnwände, die die Mitarbeiter ermuntern, auf Karten Ideen und Fragen zu schreiben. Vielleicht kommen dabei sogar Wissens- und Handarbeiter gemeinsam ins kreative Gespräch.

Oder: Mitarbeiter wie Verkäufer, Service-Techniker, Lastwagenfahrer und andere, die oftmals bei den Kunden unterwegs sind, werden zu einer «blauen Stunde» gebeten – bei Kaffee und Kuchen geht es um den Austausch, was sie unter der Woche «draussen» gehört, gesehen und erlebt haben. Das Erfahrungswissen der Handarbeiter wird viel zu wenig genutzt. Bei einem Automotive-Zulieferer lud der Werksleiter seine Meister und Teamleiter ein Mal pro Monat samstags zu einem Frühschoppen ein. Fahrgemeinschaften wurden gebildet; wer ein Bier trinken wollte, musste nicht mit Promille im Auto sitzen. Für diese «Meetings» gab es keine festen Themen, die Abteilungsleiter waren angehalten, vor allem zuzuhören und nachzufragen. Die Folge: Die Mitarbeiter nahmen gerne und von allein teil und brachten sich kreativ ein.

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