Letztens klagte ein Vorstand: «Wenn ich unseren Beratern folgen würde, müsste ich in unserer disruptiven Vuca-Welt für eine agile Wohlfühlkultur sorgen, Design- Thinking und Scrum einführen sowie Kollaborationssoftware und Online-Diagnosetools nutzen.» Das sei er dem Future Management schuldig. Die Arbeitswelt 4.0 brauche unbedingt ein Upgrade, während man gleichzeitig daran zu denken habe, dass man, ambidextrisch vorgehend, das Bestehende bewahren und das Neue disruptiv und visionär denkend vorantreiben müsse. Alles klar? Das Problem ist nur: Das mittelständische Unternehmen beschäftigt mehr Handarbeiter als Wissens- und Kopfarbeiter. Doch nur für diese wären jene Ratschläge von Relevanz, nur bei ihnen bestünde überhaupt die Chance, mit der Vuca-Sprache durchzudringen und verstanden zu werden.
Handarbeiter mehr beachten
Die Arbeitswelt 4.0 besteht nicht nur aus Wissensarbeitern. Sicherlich: In Learning-Spaces lassen sich in Kreativsitzungen wunderbar neue Ideen kreieren. Und das ist auch notwendig. Was jedoch nutzt dies den Handarbeitern zum Beispiel in den Produktionshallen oder den Tausenden von Kraftfahrern? Ein Grossteil der Managementlehre konzentriert sich auf die Wissensarbeiter in den klimatisierten Büroräumen, die zur kreativen Entfaltung tatsächlich ein Wellness-Wohlfühlklima benötigen. An den Erwartungen und Lebensnotwendigkeiten der Menschen in den Produktionsstätten und -hallen gehen diese agilen Vuca-Tipps meilenweit vorbei. Noch schlimmer: Die hemdsärmeligen Bedürfnisse der Handarbeiter werden dabei auch noch sträflich vernachlässigt.
Wie sich Wissensarbeiter an ihren Schreibtischen in Projektarbeit mit Social-Enterprise-Software vernetzen und Schwarm-intelligenz im Team entwickeln – dazu gibt es genügend Tipps. Allerdings: In Deutschland agieren ungefähr 3,5 Millionen KMU, die zum Beispiel im Baugewerbe, im Gastgewerbe, im Bereich der Gebrauchsgüter, im Handel und der Instandhaltung und Reparatur von Kraftfahrzeugen tätig sind oder in kleinen Dienstleistungsunternehmen ihr Geld verdienen. Da ist natürlich auch Kopfarbeit gefragt, primär aber stehen ausführende Arbeiten im Fokus.
Europaweit sind 99 Prozent aller Unternehmen KMU. Knapp zwei Drittel aller Beschäftigten arbeiten dort. Von einem Kleinstunternehmen sprechen wir, wenn die Mitarbeiterzahl unter zehn Mitarbeitern liegt und sich der Umsatz und die Bilanzsumme bis zu oder unter zwei Millionen Euro bewegen. Gerade diese Firmen stehen vor enormen personalwirtschaftlichen Herausforderungen. Oft sind hier Menschen mit geringen Löhnen tätig, die Inhaber haben nicht nur mit hoch gebildeten, jungen und urbanen Mitarbeitern zu tun.
Potenzialvergeudung stoppen
Die einschlägigen Bücher und Artikel in den Fachzeitschriften lassen die (berufliche) Lebensrealität der Handarbeiter meistens aussen vor. Um es auf den Punkt zu bringen: Management(vor)denker, Berater, Trainer, Unternehmer, Inhaber und Führungskräfte müssen sich endlich klarmachen, dass eine Vielzahl der Menschen, die unsere Wirtschaft stützen und voranbringen, «Handarbeiter» sind. Exportweltmeister wird man nicht allein durch Wissensarbeit. Darum müssen Möglichkeiten umgesetzt werden, mit denen sich die Kreativität der Handarbeiter entwickeln und nutzen lässt. Die einseitige und eindimensionale Fokussierung auf die Herstellung eines kreativitätsfördernden Wohlfühlklimas für die Wissensarbeiter führt zu einer unverantwortlichen Verschleuderung und einer Verschwendung der kreativen Potenziale auf Seiten der Handarbeiter.