Recht

Arbeitsrecht

Wenn ein Gesamtarbeitsvertrag plötzlich zur Anwendung kommt

Innerhalb der gesetzlichen Leitplanken sind viele Unternehmen in der Gestaltung ihrer Anstellungsbedingungen frei. Darüber hinaus ist aber auch immer zu prüfen, ob Gesamtarbeitsverträge zur Anwendung kommen – das ist übrigens sehr viel häufiger der Fall, als Arbeitgebende annehmen.
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Gesamtarbeitsverträge (GAV) werden ­sozialpartnerschaftlich verhandelt und vereinbart. Die dabei beschlossenen Bestimmungen kommen auf die entsprechenden Arbeitsverhältnisse zur Anwendung. Auf Seiten der Arbeitnehmenden stehen zwingend immer Arbeitnehmerverbände respektive Gewerkschaften, häufig sind es mehrere Verbände gleichzeitig, es kann aber auch ein Arbeit­nehmerverband allein Sozialpartner eines Gesamtarbeitsvertrages sein. 

Findet sich auf Arbeitgeberseite ein einzelnes Unternehmen, spricht man von ­einem Firmen-GAV. Wenn ein Arbeit­geberverband Vertragspartner ist, dann spricht man von einem Branchen-GAV. Gemäss der aktuellen Statistik des Bundesamts für Statistik bestanden bei der letzten Erhebung (Stand 1. März 2021) schweizweit 575 Gesamtarbeitsverträge. 

Auch wenn man die grossen Branchen-GAV wie zum Beispiel der Bauwirtschaft, Gastronomie, Maschinenindustrie wahrnimmt, so machen die Firmen-GAV beinahe zwei Drittel aller GAV aus (374 ­Firmen-GAV). Noch eine Zahl mag erstaunen: 64 Prozent der Gesamtarbeitsverträge betreffen den dritten Wirtschaftssektor, also Firmen aus dem Dienstleistungsbereich. 

Im Gegensatz zum Einzelarbeitsvertrag werden über einen GAV die Anstellungsbedingungen für mehrere Arbeitsverhältnisse geregelt. Zwar wird meistens zusätzlich zum GAV trotzdem noch ein schriftlicher individueller Arbeitsvertrag geschlossen, dieser hat aber die Bestimmungen des GAV einzuhalten. Dies übrigens im Gegensatz zu einem unter­nehmensinternen Personalreglement, das in der Regel so ausgestaltet ist, wonach auch zu Ungunsten von Mitarbei­tenden abgewichen werden darf, sofern Arbeitgeber und Mitarbeitender das so gemeinsam vereinbaren. 

Wirkung des GAV 

Die arbeitsrechtlichen Bestimmungen ­eines Gesamtarbeitsvertrages wirken normativ, also gesetzesähnlich. Sie stellen Minimalstandards dar, von denen nur zu Gunsten und nicht zum Nachteil der ­Mitarbeitenden abgewichen werden darf. Wenn also beispielsweise ein Gesamtarbeitsvertrag 25 Tage Ferien pro Jahr ­vorsieht, so wäre die Vereinbarung im ­individuellen Arbeitsvertrag, wonach der jährliche Ferienanspruch nur 23 Tage, das Salär aber etwas mehr betragen soll, nicht zulässig. 

Wird ein GAV über einen Arbeitgeber-Branchenverband verhandelt und vereinbart, haben die einzelnen Unternehmen nur sehr begrenzt Einfluss auf die Inhalte. Sie müssen umsetzen, was ihr Arbeitgeberverband für sie verhandelt. Nicht immer passen solche kollektiv vereinbarten Anstellungsbedingungen auf die eigene Unternehmenssituation, womit da und dort die Grundsatzfrage aufkommt, ob das Unternehmen weiterhin im Arbeitgeberverband bleiben soll. Jene Unternehmen, die einen Firmen-GAV abgeschlossen haben, verhandeln direkt mit den Sozialpartnern. Auch in diesen Konstellationen kann der Punkt erreicht werden, an dem ein Arbeitgeber die Vor- und Nachteile eines Firmen-GAV abwägt. 

Unverhoffte GAV-Unterstellung

Ein Branchen-GAV kann auch ohne Mitgliedschaft in einem Arbeitgeberverband Anwendung finden, nämlich dann, wenn der GAV allgemeinverbindlich erklärt wurde. Sowohl auf Bundesebene als auch auf kantonaler Ebene werden sozialpartnerschaftlich verhandelte Gesamtarbeitsverträge mittels Beschluss auch auf Arbeitsverhältnisse ausgedehnt, die dem Gesamtarbeitsvertrag an sich nicht un­terstehen. Für Firmen bedeutet dies, dass sie plötzlich GAV-Bestimmungen ein­halten müssen, obwohl sie diesen weder zugestimmt haben noch in einem Arbeitgeber-Branchenverband sind. 

Zwar führt das Seco eine Liste aller all­gemeinverbindlich erklärten GAV und listet darin detailliert auf, welche Be­stimmungen darunterfallen. Es ist aber ebenfalls eine Tatsache, dass in den letzten Jahren die Allgemeinverbindlicherklärungen stark zugenommen haben. Auch wenn man als Arbeitgeber keinem GAV angeschlossen ist, muss man immer wieder prüfen, ob allenfalls durch eine Allgemeinverbindlicherklärung trotzdem GAV-Bestimmungen einzuhalten sind. Zwar sind nur knapp 80 GAV (Bund und Kantone) allgemeinverbindlich erklärt, aber wiederum auf mehr als die Hälfte aller einem GAV-unterstellten Arbeitnehmenden kommen allgemeinverbindlich erklärte GAV-Bestimmungen zur An­wendung.  

Mit Gesamtarbeitsverträgen müssen sich also zunehmend auch Firmen befassen, die eben gerade nicht einem Branchen-GAV angeschlossen sind oder die in für GAV eher untypischen Branchen tätig sind. Zudem können auch nicht alle Arbeitsverhältnisse eines Unternehmens über einen Kamm geschert werden. Gut möglich, dass je nach Tätigkeit und Funktion auf Mitarbeitender A ein GAV Anwendung findet und auf Mitarbeiterin B ein anderer GAV oder gar keiner. 

Bei Betriebsübernahmen

Besondere Vorsicht ist bei Betriebsübernahmen und Betriebsübergängen geboten. Weitgehend bekannt ist, dass bei ­einem Betriebsübergang nach Arbeitsrecht, die GAV-Bestimmungen während eines Jahres ab Übergang eingehalten werden müssen, sofern im übertragenden Betrieb ein GAV gegolten hatte. Arbeitgeber können diese Übergangsfrist von einem Jahr aber ebenfalls gut nutzen und in dieser Zeit einheitliche Anstellungsbedingungen vorbereiten und in Kraft setzen. 

Davon getrennt ist die Frage zu beurteilen, ob bei einem Betriebsübergang der GAV an sich weiter gilt oder ob der er­werbende Betrieb durch den Übergang GAV-Parteistellung erlangt. Die Rechtslage ist unterschiedlich, je nach kon­kreter Situation und weitgehend davon abhängig, ob ein gesellschaftsrechtlicher (nach Fusionsgesetz) oder rechtsgeschäftlicher Betriebsübergang vorliegt. 

Spezialfall Personalverleih 

Noch verwirrender wird es, wenn man Mitarbeitende über Personalvermittlungsfirmen einsetzt. Die Branche der Personalverleihfirmen hat einen Gesamtarbeitsvertrag vereinbart, der vom Bundesrat für allgemeinverbindlich erklärt wurde. Der GAV Personalverleih kommt demnach in der ganzen Schweiz für alle Verleih-Arbeitsverhältnisse zur Anwendung, unerheblich davon, ob der Per­sonalvermittlungsdienstleister Mitglied beim Branchenverband Swissstaffing Mitglied ist oder nicht.

Für den betrieblichen und personellen Geltungsbereich wiederum ist der GAV Personalverleih selber massgebend. Doch nicht genug, dass die Bestimmungen des GAV Personalverleih anzuwenden sind, teilweise müssen auch die Bestimmungen des Einsatzbetriebes als Minimalstandard gewährt werden. Wenn im Einsatzbetrieb selber bereits ebenfalls ein Branchen- oder Firmen-GAV gilt, muss genau analysiert werden, wann die Bestimmungen des GAV Personalverleihs und wann jene des GAV-Einsatzbetriebs gelten.

In der Regel übersteuert der GAV Per­sonalverleih andere Gesamtarbeitsverträge. Das heisst, auf Personen, die über ein Vermittlungsbüro im Betrieb tätig sind, gelten andere Anstellungsbedingungen als die für die entsprechenden, über einen GAV festgelegten Branchen. Aber aufgepasst, handelt es sich dabei um allgemeinverbindlich erklärte GAV, gehen diese in Teilbereichen vor. Gleiches gilt übrigens auch für eine Liste von Branchen- und Firmen-GAV, die als Anhang zum GAV Personalverleih gelten.

Fazit 

Wer Lohnnachforderungen vermeiden will, sollte genau prüfen, ob GAV-Be­stimmungen einzuhalten sind. Gerade mittelgrosse und kleinere Unternehmen wähnen sich oft in der falschen Annahme, dass für ihre Arbeitsverträge lediglich das Obligationenrecht (OR) und die ei­genen Firmen-Regelungen massgebend sind. Wenn man einem Arbeitgeber-Branchenverband angeschlossen ist und dieser einen Gesamtarbeitsvertrag geschlossen hat, so gelten diese Bestimmungen, es sei denn, es bestehe die Möglichkeit ­eines Opting-Out. Aber auch wenn man nicht einem Branchenverband angeschlossen ist, können infolge von Allgemein­verbindlicherklärungen dennoch GAV-­Bestimmungen Anwendung finden. 

Die Praxis des Bundes, immer mehr GAV für allgemeinverbindlich zu erklären, führt faktisch zur Ausdehnung der Sozialpartnerschaft. Dies wird zwar damit begründet, dass die Mitarbeitenden dadurch besser geschützt seien. Für Arbeitgebende bedeutet dies dagegen eine Einschränkung ihrer arbeitsvertraglichen Gestaltungsfreiheit. Und schliesslich nimmt die Rechtsunsicherheit durch die kaum mehr überblickbare Flut an Bundesratsbeschlüssen und wegen der mangelnden GAV-Transparenz eher zu. Was aus Schutzgedenken für Arbeitnehmende in die Wege geleitet wurde, führt Arbeitgebende unfreiwillig auf den Pfad ins ­gesetzliche Dickicht.

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