Recht

Arbeitsverträge

Sozialpartnerschaft Schweiz: sieben Irrtümer

Im Vergleich zu den europäischen Kollegen brüsten sich Schweizer Unternehmen, dass sie sehr frei in der Gestaltung der Anstellungsbedingungen seien und sich glücklich schätzen, nicht mit Gewerkschaften verhandeln zu müssen. Umso grösser ist dann zuweilen die Überraschung, wenn Gewerkschaften unangekündigt vor den Betriebstoren stehen.
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Die Liste der geltenden Gesamtarbeitsverträge ist lang. Es scheint, dass beinahe jede Branche einem solchen untersteht. Doch das ist lange nicht der Fall. Auch viele der mittelgrossen Unternehmen befinden sich nach wie vor nicht in einer Sozialpartnerschaft und bestimmen die Anstellungsbedingungen selber. Bei der Sozialpartnerschaft geht es aber um weit mehr als um Lohnzuschläge und Anzahl Ferientage – daher kann sie, gerade auch aus Arbeit­gebersicht, durchaus interessant sein. An dieser Stelle soll mit einigen Irrtümern, welche die Schweizer Sozialpartnerschaft betreffen, aufgeräumt werden.

1. In der Schweiz darf nicht gestreikt werden

Falsch, denn das Gegenteil ist der Fall. Die Schweiz verfügt sogar über ein verfassungsmässig garantiertes Streikrecht. Das Recht zu streiken ergibt sich aus Art. 28 III Bundesverfassung (BV). Hierbei handelt es sich um ein kollektives Streikrecht und nicht um ein Individualstreikrecht. Ein einzelner Mitarbeiter darf also nicht etwa, unter Bezugnahme auf das verfassungsmässig garantierte Streikrecht, seine Arbeit verweigern, um seine Forderung beispielsweise nach Beförderung durchzusetzen. Damit ein Streik rechtmässig ist, müssen verschiedene Bedingungen erfüllt sein. In erster Linie muss der Streik durch ein tariffähiges Subjekt geführt werden – zum Beispiel eine Gewerkschaft. Schliesslich muss es beim Streikgegenstand um Arbeitsbedingungen gehen (politisch motivierter Streik ist unzulässig); es muss die Friedenspflicht eingehalten werden und der Streik muss grundsätzlich und in seiner Ausübung verhältnismässig sein. Das bedeutet, es muss das letzte mögliche Mittel sein, um den Forderungen Nachdruck verleihen zu können.

Der Eindruck, in der Schweiz dürfe nicht gestreikt werden, kommt daher, dass durch Gesamtarbeitsverträge die Friedenspflicht zwischen der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerseite explizit vereinbart wird. Es überrascht zuweilen, dass in der Schweiz ein verfassungsmäs­siges Streikrecht besteht, in Deutschland ein solches aber weder verfassungsrechtlich noch gesetzlich zugesichert ist.

2. GAV ist ein Auslaufmodell

Stimmt nicht. Die Anzahl Gesamtarbeitsverträge, welche abgeschlossen wurden, ist sogar in den letzten Jahren angestiegen. Der hauptsächliche Grund dafür ist wohl die Einführung der Personenfrei­zügigkeit im Jahr 2002 und damit die Tendenz, Mindestlöhne vereinbaren zu wollen. Ungefähr jedes zweite Arbeitsverhältnis ist durch eine kollektive Vereinbarung (einen Gesamtarbeitsvertrag) geregelt, dies obwohl nur gerade knapp jeder sechste Mitarbeitende bei einer Gewerkschaft Mitglied ist. Der Blick nach Deutschland überrascht einmal mehr, denn der Organisationsgrad der deutschen Mitarbeitenden liegt ebenfalls unter 20 Prozent, also beinahe identisch wie in der Schweiz.

3. Gewerkschaften sind nur im Rahmen einer Sozialpartnerschaft aktiv

Nein überhaupt nicht. Und man tut als Unternehmen gut daran, Gewerkschaften auf der Liste der Anspruchsgruppen zu führen, egal ob eine Sozialpartnerschaft besteht oder nicht. Immer häufiger versuchen Gewerkschaften ausserhalb
ihrer klassischen Wirkungsbranchen (zum Beispiel in der Gastronomie, der Industrie oder dem Bauwesen) Fuss zu fassen und drängen sich unter anderem zunehmend in den Dienstleistungssektor. Dies erfolgt selten in ganz leisen Tönen. Vielmehr nehmen Gewerkschaften allfällige Unzufriedenheit einzelner Mitarbeiter auf und versuchen so, mit der Unternehmensleitung in einen Dialog betreffend die Anstellungsbedingungen zu treten. Ein neues Feld hat schliesslich der Gesetzgeber den Gewerkschaften zugewiesen, indem bei Sozialplanverhandlungen die Arbeitnehmerseite einen Sachverständigen, meist Gewerkschaftsvertreter, beiziehen darf.

4. Die Gewerkschaftsrechte sind klar geregelt

Nein. Eine klare gesetzliche Regelung, welche die Rechte und Pflichten der Gewerkschaften definiert, fehlt. Innerhalb einer Sozialpartnerschaft werden die gegenseitigen Rechte und Pflichten der Sozialpartner vertraglich vereinbart. Ausserhalb einer Sozialpartnerschaft sind viele Punkte unklar und so drehen sich viele Fragen darum, wieweit eine Gewerkschaft gehen darf. Immer wieder treten Gewerkschaften in laufende Konsultationsverfahren ein, mit der Begründung, sie seien von der Belegschaft oder der entsprechenden Arbeitnehmervertretung beauftragt worden, deren Rechte im Rahmen dieses gesetzlich vorgeschriebenen Verfahrens (insbesondere bei Betriebsübergängen und Massenentlassungen) zu wahren. Verschiedene Betrachtungsweisen lassen verschiedene Vorgehensweisen zu. Wichtig ist in jedem Fall, dass das Unternehmen die rechtliche Situation genau kennt und weiss, was es von Gewerkschaften erwartet und wie sie mit den Gewerkschaftsvertretern umgehen will.

5. Verhandlungen mit Gewerkschaft in der Schweiz sind einfach

Nein, auch hierbei handelt es sich um einen Irrtum. Das Problem besteht im zuvor beschriebenen Punkt. Oft ist eben gar nicht klar, inwieweit mit Gewerkschaften verhandelt werden soll beziehungsweise verhandelt werden muss. In einer bestehenden Sozialpartnerschaft gibt die Laufdauer des Gesamtarbeitsvertrags vor, wann wieder Neuverhandlungen aufgenommen werden. Aber Sozialpartnerschaften müssen nicht zwangsläufig in der gleichen Form weitergeführt werden. Es ist auch denkbar, dass nicht alle bereits an einem Gesamtarbeitsvertrag beteiligten Gewerkschaften auch weiterhin Sozialpartner bleiben. Sei dies, weil sie selber aus der Sozialpartnerschaft aussteigen, oder weil der Arbeitgeber (in einem Haus-GAV) oder die Arbeitgeberseite (Verbands­ebene) für die Fortführung der Sozialpartnerschaft andere oder neue Partner anstrebt.

Viel schwieriger ist aber die Verhandlung mit Gewerkschaften dann, wenn gar keine Sozialpartnerschaft besteht, die Gewerkschaft aber sich in Betriebsgeschehnisse einmischt und den direkten Dialog und Verhandlungen fordert. Aus­serhalb der Sozialpartnerschaft sind Gewerkschaften denn auch nicht an die Friedenspflicht gebunden, was dazu führt, dass Streikdrohungen und andere Kampfmassnahmen zur Durchsetzung der gewerkschaftlichen Forderungen eingesetzt werden.

6. Glücklich ist, wer keine Arbeitnehmervertretung hat

Mag sein, allerdings nur solange keine kritischen Projekte, in welchen die Mitwirkung der Arbeitnehmenden gesetzlich vorgeschrieben ist, anstehen. Das beginnt schon dort, wo ein Unternehmen (mit mindestens 50 Mitarbeitenden) beispiels­weise die vereinfachte Arbeitszeiterfassung einführen will. Dort, wo eine Arbeitnehmervertretung besteht, genügt es, diese Möglichkeit zunächst in einer allgemeinen Verzichtserklärung der Arbeitnehmervertretung vorzusehen.

Wenn allerdings keine Arbeitnehmervertretung besteht, dann muss mindestens die Mehrheit der Mitarbeitenden dieser Möglichkeit an sich zustimmen – eine Zustimmung muss also bei sämtlichen Mitarbeitern angefragt werden. Noch komplizierter wird es, wenn man ein Konsultationsverfahren einleiten muss, sei dies infolge eines Betriebsübergangs oder bei einer geplanten Massenentlassung. Hierbei muss die Gesamtbelegschaft informiert und aufgefordert werden, Alternativvorschläge zu unterbreiten. Das mag auf den ersten Blick einfach sein, doch sobald man die Umsetzung tatsächlich an die Hand nimmt, steht man vor der grossen Herausforderung, wie alle Mitarbeitenden in diesen Prozess sinn- und massvoll einbezogen werden können.

Noch schwieriger wird es dann, wenn man in Sozialplanverhandlungen einsteigen muss, weil die gesetzlichen Schwellenwerte hinsichtlich der Anzahl der beabsichtigten Kündigungen berücksichtigt werden muss. Man stelle sich das Unternehmen A vor, das 500 Mitarbeitende hat und den Abbau von 35 Stellen prüft. Wie soll man Verhandlungen mit 500 Verhandlungsführern auf der Arbeitnehmerseite gestalten? Das Unternehmen B als weiteres Beispiel hat 350 Mitarbeitende, eine gewählte Arbeitnehmervertretung von fünf Personen und rechnet, infolge einer Arbeitsplatzverlagerung, mit rund 150 Kündigungen. Hier genügt es, wenn die Arbeitgeberseite mit der Arbeitnehmervertretung – also den fünf Personen – die Verhandlungen führt.

7. Die Geschäftsleitung ist das beste Verhandlungsteam

Das Verhandlungsteam muss in der Lage sein, gestellte Forderungen zu qualifizieren und selber Forderungen zu stellen – und natürlich darüber zu entscheiden. Es scheint also auf der Hand zu liegen, dass die Geschäftsleitung die Verhandlungsführung gleich selber übernimmt.

Das Gesetz schreibt vor, wer der Partner auf der Seite der Arbeitnehmenden ist, allerdings sagt es nichts darüber aus, wer auf der Arbeitgeberseite die Verhandlungen führen muss. So offensichtlich es auf der Hand zu liegen scheint, dass die Geschäftsleitung die Verhandlungsführung auf Arbeitgeberseite übernimmt, so ist dennoch Vorsicht geboten. Zum einen soll die Beziehung zu den eigenen Mitarbeitenden nicht gefährdet werden, was aber passieren kann, wenn die Geschäftsleitung, insbesondere die HR-Leitung, die Verhandlung führt. Zum anderen muss der Ver­handlungsführer zwangsläufig Distanz wahren können. Und das gelingt ihm selten, wenn er oder sie mit den betroffenen Personen in einer Beziehung steht. Es lohnt sich daher, in kritischen Situationen das Verhandlungsteam des Arbeitgebers mit einer externen Verhandlungsführung zu ergänzen. Meist kann nur sie die Verhandlungen ohne jegliche Beziehungsgefährdung leiten und in die gewünschte Richtung lenken.

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