Das neue Einheitspatentsystem
Mit der Einführung des Einheitspatentsystems in diesem Jahr 2023 steht die tiefgreifendste Veränderung des europäischen Patentsystems an, die es im letzten halben Jahrhundert gegeben hat. Das neue Einheitspatentsystem führt – zumindest für eine grosse Anzahl von EU-Staaten – ein sogenanntes europäisches Patent mit einheitlicher Wirkung («Einheitspatent») und ein Einheitliches Patentgericht («EPG», Unified Patent Court) ein. Dadurch soll die Erteilung von Patenten vereinfacht und zentralisiert werden sowie ein europaweites Forum für Patentverletzungs- und Nichtigkeitsklagen geschaffen werden.
Einheitspatente sollen es neben dem bestehenden Europäischen Patent ermöglichen, mit Stellung eines einzigen Antrags beim EPA Patentschutz in bis zu 25 am System (potenziell) partizipierenden EU-Mitgliedstaaten zu erhalten. Für Anmelder soll das Verfahren einfacher und auch kosteneffizienter werden. Zum gegenwärtigen Startzeitpunkt stehen allerdings vorerst nur 17 EU-Mitgliedstaaten bei der Einführung bereit. Über die Jahre sollen es mehr werden. Allerdings muss sich das neue System erst beweisen und bei den Benutzern Vertrauen aufbauen. Die Schweiz, als Nicht-EU-Land, ist kein Mitgliedsstaat, doch Schweizer Anmelder können das neu geschaffene Einheitspatentsystem ebenfalls nutzen.
Die historische Entwicklung
Wie es zum Einheitspatentsystem kam und welche Hürden es zu überwinden galt, soll im Folgenden aufgezeigt werden.
Erste frühe staatliche und zwischenstaatliche Abkommen
Patentgesetze in Europa waren und sind als territoriale und auf staatliche Hoheitsgebiete beschränkte Rechte anzusehen. Das Patentrecht geht zurück auf ein Privilegienrecht, welches durch eine Obrigkeit eingeräumt wurde, die über eine territorial begrenzte Machtkompetenz verfügte. Die Patentrechtsentwicklungen im 19. Jahrhundert waren stark von nationalen Gesetzgebungen geprägt. Es gab allerdings erste bilaterale Verträge, die jedoch keine stabile oder nachhaltige Rolle spielten. Es bestanden Probleme mit Vertragskündigungen, Begünstigungsklauseln, Absicherungen und territorialen Ungleichheiten. Eine erste Konferenz über ein internationales Patentrecht fand in Folge der Weltausstellung 1873 in Österreich statt. Im Jahre 1880 wurde in Paris anlässlich des Pariser Kongresses die Idee eines vereinheitlichten materiellen Patentrechts allerdings noch verworfen. Nationale Patentsysteme sollten weiterhin vorherrschen.
Pariser Verbandsübereinkunft
Es wurde auf politischem Wege eine internationale Kommission einberufen, die einen Entwurf zum gewerblichen Schutzrecht ausarbeitete. Die bekannte Pariser Verbandsübereinkunft (PVÜ) wurde schliesslich 1883 unterzeichnet. Die PVÜ zum Schutz des gewerblichen Eigentums beinhaltete ein Gegenseitigkeitsrecht, gewisse Auflagen und Vorschriften für die Mitgliedsländer sowie die bedeutsame Einführung eines einheitlichen Prioritätsrechts.
Eine grundlegende Harmonisierung des materiellen Rechts stand damals nicht im Vordergrund. Die Schweiz besass damals kein eigenes Patentgesetz und schuf dieses erst 1888, wobei dieses noch sehr schwach ausgestaltet war. Erst 1907 erliess die Schweiz ein modernes Patentgesetz. Schweizer bzw. Schweizer Unternehmen nutzten das bereits früher geschaffene PVÜ-System intensiver als viele der anderen Staaten selbst.
Im 20. Jahrhundert sollte die Zusammenarbeit im Patentrecht mit dem Ziel von Rechtsangleichungen vorangetrieben werden. Ab 1949 wurde im Rahmen des Europarats die Idee eines europäischen Patents aufgegriffen. Im Jahre 1953 wurde von den Mitgliedsstaaten des Europarats ein europäisches Übereinkommen über Formerfordernisse bei Patentanmeldungen abgeschlossen. Die Schweiz trat dem Übereinkommen 1959 bei, wo es nur um die Vereinheitlichung von Mindestanforderungen ging. Ziel war es aber, die Angleichung der nationalen Rechtssysteme zu fördern.
Patentübereinkommen
Von Bedeutung für eine Rechtsvereinheitlichung war dann das 1963 geschlossene Strassburger Patentübereinkommen, das die Vereinheitlichung von Begriffen für Erfindungspatente betraf. Erst zehn Jahre später, das heisst 1973, wurde in München schliesslich das wichtige und erfolgreiche Europäische Patentübereinkommen (EPÜ) abgeschlossen. Dieses bildet noch heute die Grundlage des Europäischen Patentamts (EPA).
Das EPÜ wurde im Jahr 2000 umfangreich revidiert, hat jedoch bis anhin nichts mit einem auf die EU bezogenen beziehungsweise einem einheitlichen Patent mit eigentlichen länderübergreifenden Wirkungen gemein. Vielmehr ist das EPÜ ein multilateraler Staatsvertrag mit heute 39 Vertragsstaaten mit Fokus auf ein einheitliches Erteilungsverfahren.
Europäisches Gemeinschaftspatent
Die Europäische Gemeinschaft, der Vorläufer der EU, versuchte 1975, ein sogenanntes Gemeinschaftspatentübereinkommen (GPÜ), auch Luxemburger Patentübereinkommen genannt, auf den Weg zu bringen. Das GPÜ bildete später Bestandteil der Vereinbarung über die Gemeinschaftspatente (VüG). Beide traten jedoch nie in Kraft, da nicht genügend viele Signatarstaaten die Abkommen ratifizierten.
Das ambitiöse Projekt eines Gemeinschaftspatents scheiterte nicht nur aus Kostengründen, sondern aufgrund von Sprach- und Übersetzungsfragen sowie insbesondere wegen einer fehlenden Einigung zu einer notwendigen Rechtssprechungslösung. Vorgesehen war ein System, das es den nationalen Gerichten mit unterschiedlichster Praxis erlaubt hätte, das Gemeinschaftspatent mit Wirkung in der gesamten Gemeinschaft auch für nichtig zu erklären. Bezüglich Rechtssicherheit bestanden allerdings erhebliche Zweifel. Im Jahre 1996 folgte mit dem Grünbuch der Europäischen Kommission ein weiterer Versuch zum Gemeinschaftspatent, aber auch dieser scheiterte.
Durchsetzungsrichtlinie
Für die EU folgte im Jahr 2004 die sogenannte Durchsetzungsrichtlinie zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums mit dem Ziel, im Binnenmarkt Rechtsvorschriften einander anzunähern und ein entsprechendes Schutzniveau zu gewährleisten.
Einheitspatent und Einheitspatentgericht
Im Jahr 2010 wurde klar, dass das Gemeinschaftspatent keine Akzeptanz der EU-Mitgliedsstaaten finden würde. Die Europäische Kommission legte Vorschläge vor, die in der Folge als Verordnung (EU) Nr. 1257 / 2012 ein «europäisches Patent mit einheitlicher Wirkung», gemeinhin «Einheitspatent», schaffen sowie als Verordnung (EU) Nr. 1260 / 2012 die Übersetzungsregelungen für Einheitspatente festlegen. Beide Verordnungen wurden vom Europäischen Ministerrat und vom Europäischen Parlament genehmigt und traten am 20. Januar 2013 in Kraft.
Zudem wurde ein neues internationales Gericht vorgesehen, um in Fragen der Verletzung und der Rechtsgültigkeit von Einheitspatenten, aber auch klassischen europäischen Patenten zu entscheiden. Die Grundlage hierfür bildete das Übereinkommen über ein Einheitliches Patentgericht (EPGÜ, EPG-Übereinkommen 2013 / C 175 / 01) vom 19. Februar 2013.
Bis Anfang 2015 unterzeichneten 25 EU-Mitgliedsstaaten den internationalen Vertrag zum EPG. Ursprünglich wollten Spanien und Italien vor allem wegen der Sprachenregelungen nicht mitwirken, können aber noch beitreten, was im September 2015 für Italien geschah. Das EPG-Übereinkommen steht im engen Zusammenhang mit der Verordnung (EU) Nr. 1257 / 2012, sodass insgesamt vom Inkrafttreten des «Einheitspatentsystems» gesprochen wird.