Recht

Technologie und Recht, Teil 1/4

Entwicklung und Relevanz des neuen Einheitspatentsystems

Das Einheitspatentsystem tritt am 1. Juni 2023 in Kraft. Auf dem Weg zum europäischen Patent mit einheitlicher Wirkung als «Einheitspatent» und zum Einheitlichen Patentgericht galt es, zahlreiche Hürden zu überwinden. Die Serie von vier Artikeln führt mit diesem ersten Teil in das neue Europäische Einheitspatent und das Einheitspatentgericht ein.
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Lange und weltweit haben Patent-An­melder auf ein Europäisches Einheitspatent warten müssen. Die Idee eines europaweiten, einheitlichen Patents wurde bereits nach dem Zweiten Weltkrieg ins Leben gerufen; dieser Grundgedanke konnte jedoch bis jetzt aus politischen Gründen nicht umgesetzt werden. Bereits das im Jahre 1973 abgeschlossene Eu­ropäische Patentübereinkommen (EPÜ) hatte aber eine Europäische Patent­or­gani­sation mit dem Europäischen Patentamt (EPA) begründet, das ab 1978 seine aktive Tätigkeit aufnahm. 


Lange keine Einheit

Das EPA agierte zwar als europäische Recherche-, Prüf- und Erteilungsbehörde für sogenannte «Europäische Patente» der beigetretenen Mitgliedsstaaten, ist aber eine von der Europäischen Union losgelöste, zwischenstaatliche Organisation. Die von dieser erteilten, zentral geprüften Patente zerfallen dann nach ihrer Erteilung in nationale Teile pro Land und müssen daher in jedem gewünschten Staat einzeln validiert werden, um eine rechtliche Wirkung zu entfalten. Die bisherigen «Europäischen Patente» sind ­somit keine «einheitlichen» europaweiten Schutzrechte.

 

Das neue Einheitspatentsystem

Mit der Einführung des Einheitspatentsystems in diesem Jahr 2023 steht die tiefgreifendste Veränderung des euro­päischen Patentsystems an, die es im letzten halben Jahrhundert gegeben hat. Das neue Einheitspatentsystem führt – zumindest für eine grosse Anzahl von ­EU-Staaten – ein sogenanntes europäisches Patent mit einheitlicher Wirkung («Einheitspatent») und ein Einheitliches Patentgericht («EPG», Unified Patent Court) ein. Dadurch soll die Erteilung von Pa­tenten vereinfacht und zentralisiert werden sowie ein europaweites Forum für ­Patentverletzungs- und Nichtigkeitsklagen geschaffen werden.

Einheitspatente sollen es neben dem bestehenden Europäischen Patent ermöglichen, mit Stellung eines einzigen Antrags beim EPA Patentschutz in bis zu 25 am System (potenziell) partizipierenden EU-Mitgliedstaaten zu erhalten. Für Anmelder soll das Verfahren einfacher und auch kosteneffizienter werden. Zum gegenwärtigen Startzeitpunkt stehen allerdings vorerst nur 17 EU-Mitgliedstaaten bei der Einführung bereit. Über die Jahre sollen es mehr werden. Allerdings muss sich das neue System erst beweisen und bei den Benutzern Vertrauen aufbauen. Die Schweiz, als Nicht-EU-Land, ist kein Mitgliedsstaat, doch Schweizer Anmelder können das neu geschaffene Einheitspatentsystem ebenfalls nutzen.


Die historische Entwicklung

Wie es zum Einheitspatentsystem kam und welche Hürden es zu überwinden galt, soll im Folgenden aufgezeigt werden.

Erste frühe staatliche und zwischenstaatliche Abkommen
Patentgesetze in Europa waren und sind als territoriale und auf staatliche Hoheitsgebiete beschränkte Rechte anzusehen. Das Patentrecht geht zurück auf ein Pri­vilegienrecht, welches durch eine Obrigkeit eingeräumt wurde, die über eine territorial begrenzte Machtkompetenz verfügte. Die Patentrechtsentwicklungen im 19. Jahrhundert waren stark von nationalen Gesetzgebungen geprägt. Es gab allerdings erste bilaterale Verträge, die jedoch keine stabile oder nachhaltige Rolle spielten. Es bestanden Probleme mit Vertragskündigungen, Begünstigungsklauseln, Absicherungen und territorialen Ungleichheiten. Eine erste Konferenz über ein internationales Patentrecht fand in Folge der Weltausstellung 1873 in Österreich statt. Im Jahre 1880 wurde in Paris anlässlich des Pariser Kongresses die Idee eines vereinheitlichten materiellen Patentrechts allerdings noch verworfen. Nationale Patentsysteme sollten weiterhin vorherrschen. 

Pariser Verbandsübereinkunft
Es wurde auf politischem Wege eine in­ternationale Kommission einberufen, die einen Entwurf zum gewerblichen Schutzrecht ausarbeitete. Die bekannte Pariser Verbandsübereinkunft (PVÜ) wurde schliess­lich 1883 unterzeichnet. Die PVÜ zum Schutz des gewerblichen Eigentums beinhaltete ein Gegenseitigkeitsrecht, gewisse Auflagen und Vorschriften für die Mitgliedsländer sowie die bedeutsame Einführung eines einheitlichen Prioritätsrechts. 

Eine grundlegende Harmonisierung des materiellen Rechts stand damals nicht im Vordergrund.  Die Schweiz besass damals kein eigenes Patentgesetz und schuf dieses erst 1888, wobei dieses noch sehr schwach ausgestaltet war. Erst 1907 erliess die Schweiz ein modernes Patentgesetz. Schweizer bzw. Schweizer Unternehmen nutzten das bereits früher geschaffene PVÜ-System intensiver als viele der anderen Staaten selbst.

Im 20. Jahrhundert sollte die Zusammenarbeit im Patentrecht mit dem Ziel von Rechtsangleichungen vorangetrieben ­werden. Ab 1949 wurde im Rahmen des Europarats die Idee eines europäischen ­Patents aufgegriffen. Im Jahre 1953 wurde von den Mitgliedsstaaten des Europarats ein europäisches Übereinkommen über Formerfordernisse bei Patentanmeldungen abgeschlossen. Die Schweiz trat dem Übereinkommen 1959 bei, wo es nur um die Vereinheitlichung von Mindestanforderungen ging. Ziel war es aber, die Angleichung der nationalen Rechtssysteme zu fördern. 

Patentübereinkommen
Von Bedeutung für eine Rechtsvereinheitlichung war dann das 1963 geschlossene Strassburger Patentübereinkommen, das die Vereinheitlichung von Begriffen für Erfindungspatente betraf. Erst zehn Jahre später, das heisst 1973, wurde in München schliesslich das wichtige und erfolgreiche Europäische Patentübereinkommen (EPÜ) abgeschlossen. Dieses bildet noch heute die Grundlage des Europäischen Patentamts (EPA). 

Das EPÜ wurde im Jahr 2000 umfangreich revidiert, hat jedoch bis anhin nichts mit einem auf die EU bezogenen beziehungsweise einem einheitlichen Patent mit eigentlichen länderübergreifenden Wirkungen gemein. Vielmehr ist das EPÜ ein multilateraler Staatsvertrag mit heute 39 Vertragsstaaten mit Fokus auf ein einheitliches Erteilungsverfahren.

Europäisches Gemeinschaftspatent
Die Europäische Gemeinschaft, der Vorläufer der EU, versuchte 1975, ein sogenanntes Gemeinschaftspatentübereinkommen (GPÜ), auch Luxemburger Patentübereinkommen genannt, auf den Weg zu bringen. Das GPÜ bildete später Bestandteil der Vereinbarung über die Gemeinschaftspatente (VüG). Beide traten jedoch nie in Kraft, da nicht genügend viele Signatarstaaten die Abkommen ratifizierten.
 
Das ambitiöse Projekt eines Gemeinschaftspatents scheiterte nicht nur aus Kostengründen, sondern aufgrund von Sprach- und Übersetzungsfragen sowie insbesondere wegen einer fehlenden Einigung zu einer notwendigen Rechtssprechungslösung. Vorgesehen war ein System, das es den nationalen Gerich­ten mit unterschiedlichster Praxis erlaubt hätte, das Gemeinschaftspatent mit Wirkung in der gesamten Gemeinschaft auch für nichtig zu erklären. Bezüglich Rechtssicherheit bestanden allerdings erhebliche Zweifel. Im Jahre 1996 folgte mit dem Grünbuch der Europäischen Kommission ein weiterer Versuch zum Gemeinschaftspatent, aber auch dieser scheiterte.

Durchsetzungsrichtlinie
Für die EU folgte im Jahr 2004 die so­genannte Durchsetzungsrichtlinie zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums mit dem Ziel, im Binnenmarkt Rechtsvorschriften einander anzunähern und ein entsprechendes Schutzniveau zu gewährleisten. 

Einheitspatent und ­Einheitspatentgericht
Im Jahr 2010 wurde klar, dass das Gemeinschaftspatent keine Akzeptanz der EU-Mitgliedsstaaten finden würde. Die Europäische Kommission legte Vorschläge vor, die in der Folge als Verordnung (EU) Nr. 1257 / 2012 ein «europäisches Patent mit einheitlicher Wirkung», gemeinhin «Einheitspatent», schaffen sowie als Verordnung (EU) Nr. 1260 / 2012 die Übersetzungsregelungen für Einheitspatente festlegen. Beide Verordnungen wurden vom Europäischen Ministerrat und vom Europäischen Par­lament genehmigt und traten am 20. Januar 2013 in Kraft. 

Zudem wurde ein neues internationales Gericht vorgesehen, um in Fragen der ­Verletzung und der Rechtsgültigkeit von ­Einheitspatenten, aber auch klassischen europäischen Patenten zu entscheiden. Die  Grundlage hierfür bildete das Übereinkommen über ein Einheitliches Patent­gericht (EPGÜ, EPG-Übereinkommen 2013 / C 175 / 01) vom 19. Februar 2013. 

Bis Anfang 2015 unterzeichneten 25 EU-Mitgliedsstaaten den internationalen Vertrag zum EPG. Ursprünglich wollten Spanien und Italien vor allem wegen der Sprachenregelungen nicht mitwirken, können aber noch beitreten, was im September 2015 für Italien geschah. Das EPG-Übereinkommen steht im engen Zusammenhang mit der Verordnung (EU) Nr. 1257 / 2012, sodass insgesamt vom Inkrafttreten des «Einheitspatentsystems» gesprochen wird.

Brexit und Rechtsbeschwerden
Ein Inkrafttreten des Einheitspatentsystems erforderte die Ratifizierung von mindestens 13 Vertragsstaaten, inklusive Deutschland, Frankreich und Grossbritannien, also den drei Mitgliedstaaten mit den meisten geltenden Europäischen Patenten (EPÜ). Dann kam der Brexit. 

Grossbritannien hatte sich für die Einführung des Einheitspatents starkgemacht. Das Einheitspatentsystem sollte eigentlich 2017 umgesetzt und wirksam sein. Die Entscheidung der Briten vom 23. Juni 2016 hat das Einheitspatentsystem wesentlich verzögert, jedoch nicht zum Scheitern gebracht. Mit dem Ausscheiden aus der Eu­ropäischen Union ist Gross­britannien als Staat nicht mehr an dem zukünftigen Europäischen Einheitspatent und dem zukünftigen Einheitlichen Patentgericht beteiligt. Die Ratifikations- oder Beitritts­urkunde wurde dann anstatt von Grossbritannien, welches seine Ratifikation im Juli 2020 widerrief, durch Italien hinterlegt, da die Urkunden der drei Staaten zählen, in denen es im Jahr 2012 die meisten gültigen europäischen Patente gab.
Auch das Einheitliche Patentgericht stand schon 2017 kurz vor der Umsetzung. Eine Verfassungsbeschwerde in Deutschland verhinderte jedoch, dass der Bundespräsident das deutsche Zustimmungsgesetz ausfertigte. Dies schuf einen Schwebezustand für das Einheitliche Patentgericht, weil die Ratifizierung des Übereinkommens durch Deutschland zwingende Voraussetzung für das Inkrafttreten war. 

Das Bundesverfassungsgericht erklärte im März 2020 das erste deutsche Zustimmungsgesetz aus formellen Gründen für nichtig, wies aber im Juni 2021 erneute Eilanträge gegen die Ende 2020 ver­abschiedete zweite Fassung zurück. Am 13. August 2021 ist das deutsche Zustimmungsgesetz zum Einheitlichen Patentgericht in Kraft getreten und der Weg für eine Ratifizierung durch Deutschland war frei. Ein schwieriger politischer Prozess fand sein provisorisches Ende.

Inkrafttreten
Die beiden erwähnten EU-Verordnungen Nr. 1257 / 2012 sowie 1260 / 2012 sind schon seit 2013 in Kraft, finden aber erst Anwendung, wenn auch das EPG-Übereinkommen in Kraft treten wird. Das definitive Inkrafttreten des Einheitspatentsystems ist also notwendigerweise mit der Umsetzung des Einheitspatentgerichts unmittelbar verbunden. Gemäss EPG-Übereinkommen tritt das Einheitspatent aber erst am ersten Tag des vierten Monats in Kraft, nachdem 13 Länder das Abkommen wirksam ratifiziert haben (was seit dem 18. Januar 2022 der Fall ist), aber auch Deutschland seine Ratifikationsurkunde in Brüssel hinterlegt hat. Dieser letzte notwendige Akt ist am 17. Februar 2023 er­folgt. 

Die Sunrise-Periode, eine dreimonatige Einführungsphase, in der jedoch bereits Handlungen und Erklärungen von Patent­anmeldern gegenüber dem EPA im Rahmen des neuen Einheitspatentsystems möglich werden, ist am 1. März 2023 gestartet. Dieser Termin wurde aber kürz­liche vom Januar nochmals auf März ­verschoben, nunmehr wegen Problemen mit dem Zugang zum Content-Management-System des Einheitlichen Patentgerichts. Diese technische Hürde steht nun nicht mehr im Wege, sodass das volle ­Inkrafttreten des Einheitspatentsystems am 1. Juni 2023 stattfindet.

Nach Jahren grosser politischer und rechtlicher Rückschläge, wie der Brexit und die deutsche Verfassungsbeschwerde, ver­zögerte sich der holprige Weg zur Ein­führung und aktiven Nutzungsmöglichkeit des Einheitspatentsystems nur noch durch IT-Probleme.

Welche Handlungen bereits in der Sunrise-Periode möglich oder sinnvoll sind und welche Optionen das neue Einheitspatentsystem ab dem 1. Juni 2023 für alle Nutzer ermöglicht, wird in den Folgear­tikeln näher erklärt werden. Zweifellos wird aber jeder Patentinhaber und -anmelder, auch von Europäischen Patenten, vom neuen Einheitspatentsystem betroffen sein.


Zusammenfassung

Das neue Einheitspatentsystem, bestehend aus Einheitspatent (einem europäischen Patent mit einheitlicher Wirkung für zahlreiche teilnehmende EU-Staaten) und dem Einheitspatentgericht, tritt am 1. Juni 2023 in Kraft. Dargelegt wurde die politisch und rechtlich hürdenhafte Entwicklung hin zum Einheitspatentsystem, welches in jedem Fall Relevanz auch für Schweizer KMU hat, da nicht nur strategische Überlegungen, sondern auch die praktische Nutzung des neuen Systems durch diese in Betracht gezogen werden muss. Zudem hat das System Rückwirkungen auf das bestehende System des Europäischen Patents. Wenn das Einheitspatentsystem bei den Benutzern genügendes Vertrauen findet, dürfte dieses in einigen Jahren ein Erfolg werden und auch von KMU sinnvoll und kosteneffi­zient genutzt werden.

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