Recht

Strafrecht

Die Regeln der Baukunde: Was strafbar ist

Wer vorsätzlich oder fahrlässig bei der Leitung, der Ausführung oder dem Abbruch eines Bauwerkes die anerkannten Regeln der Baukunde verletzt, kann sich unter Umständen strafbar machen. Aus diesem Grund müssen sich die leitenden und ausführenden Personen auf dem Bau stets bewusst sein, welche Risiken sie eingehen.
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Die anerkannten Regeln der Baukunde sind nicht in einem umfassenden Erlass zusammengetragen. Vielmehr ergeben sie sich aus diversen Gesetzesquellen und einer Vielzahl von Regelwerken. Die Regelwerke stammen sowohl von öffent­lichen als auch privaten Organisationen wie etwa der Suva oder dem Schweizerischen Ingenieur- und Architekten­verein (SIA). Der unter Umständen strafbare Verstoss gegen die Regeln der Baukunde ist hingegen zentral in Art. 229 des Schweizerischen Strafgesetzbuches (StGB) geregelt.

Mögliche Strafbarkeit

Das Strafrecht umfasst mit dem Begriff «Bauwerk» jede mit dem Boden verbundene bauliche oder technische Anlage. Somit gelten alle Arten von Hoch- und Tiefbauten wie etwa Häuser, Strassen, Aufzüge und gar Leitungen als Bauwerke. Auch Gerüste und Maschinerie werden als Hilfskonstruktionen von Bauwerken dazugezählt. Als «Abbruch» gilt nicht bloss das gewaltsame Zerstören, sondern auch eine etappierte Demontage oder ein lediglich teilweiser Rückbau.

Grundsätzlich kann jede Person, welche in leitender Funktion oder anderweitig in der Ausführung eines Bauwerkes oder Abbruches tätig ist, bestraft werden, wenn sie die anerkannten Regeln der Baukunde ausser Acht lässt und dadurch Leib und Leben von anderen gefährdet. Gleichzeitig kann nicht jede auf einer Baustelle tätige Person für die dort be­gangenen Verletzungen der Regeln der Baukunde in gleicher Weise strafrechtlich belangt werden. Entscheidend ist, ob die Einhaltung der Regeln der Baukunde in den individuellen Verantwortungs­bereich der potenziellen Täterschaft fällt. Als Täterin beziehungsweise Täter kom­mt insbesondere die bauleitende Architektin, der bauleitende Ingenieur, die Bauleiterin oder der Baumeister infrage. 

Je nach Konstellation vor Ort kann sich aber auch die Bauarbeiterin oder der Handwerker strafbar machen. Die Bauherrin ohne fachliches Wissen gehört grundsätzlich nicht zum Täterkreis des Art. 229 StGB, ihre Verantwortlichkeit im Rahmen der Leitung oder Ausführung des Bau­werkes ist jedoch im Einzelfall zu prüfen. 

Die Strafbarkeit einer Person hängt sodann auch davon ab, inwiefern die Ver­letzung der anerkannten Regeln der ­Baukunde konkret Leib oder Leben einer Person gefährdet. Die Gefahr muss sich dabei nicht zwingend auf am Bau tätige Personen beziehen, sondern kann auch Lieferanten, Nachbarn oder unbeteiligte Dritte wie Passanten, Gäste oder Kunden betreffen.

In der Praxis zeigt sich die Tendenz, dass Art. 229 StGB erst angerufen wird, wenn sich die Gefahr für eine Person bereits verwirklicht hat – also Leib und Leben geschädigt wurden. Dieser Umstand hängt damit zusammen, dass es sehr schwierig sein kann, eine konkrete Gefährdung zu erkennen und zu beweisen. Ausserdem ist mit der entsprechenden Beweiserbringung oft ein erheblicher Aufwand verbunden. Als Resultat wird Art. 229 StGB mit Zurückhaltung angewendet.

Die Täterschaft muss Leib und Leben ­eines Menschen jeweils vorsätzlich, das heisst mit Wissen und Willen, oder zumindest fahrlässig gefährden. Eine Gefährdung ist dann fahrlässig, wenn jemand die Folgen seines Verhaltens aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit nicht bedenkt oder darauf nicht Rücksicht nimmt. Die Täterschaft ist grundsätzlich pflichtwidrig unvorsichtig, wenn sie nicht die gebotene Vorsicht an den Tag legt, die von ihr bspw. aufgrund ihrer beruflichen Stellung oder übernommenen Aufgabe verlangt werden darf. 

Spezielle Rolle der Planerin

Die potenzielle Strafbarkeit der Planerin – namentlich Architektinnen und Ingenieure – hängt massgeblich von ihrer Mitwirkung beim Bau ab. Gemäss Art. 229 StGB ist nämlich nur strafbar, wer bei der Leitung oder Ausführung eines Bauwerkes widerrechtlich handelt. Demzufolge sanktioniert Art. 229 StGB die Gefährdung als Folge von blossen Planungs­fehlern nicht. Das führt jedoch keineswegs zu einem strafrechtlichen Freifahrtschein. 

Planungsfehler können auch ander­weitig zur Strafbarkeit führen. So etwa, wenn eine zu niedrig geplante Brüstung ohne ergänzende Sicherheitsvorkeh­rungen letztendlich zu einer Verletzung oder Tötung eines Menschen führt. In dieser Fallkonstellation könnte die Planerin möglicherweise wegen fahrlässiger Körperverletzung (Art. 125 StGB) oder fahrlässiger Tötung (Art. 117 StGB) belangt werden. Hat die Planerin zusätzlich zur Planung auch die Bauleitung übernommen, kann sowohl Art. 229 als auch Art. 117 oder Art. 125 StGB zum Tragen kommen. 

Verletzung der Regeln 

Insbesondere bei der Sanierung von Bauwerken kann es zu Konflikten zwischen den Vorstellungen der Bauherrschaft und den anerkannten Regeln der Baukunde kommen. In der Praxis entsprechen beispielsweise alte Fensterbrüstungen eines zu sanierenden Hauses oft nicht mehr den heute geltenden Normen. Gleichzeitig wünscht die Bauherrschaft aus ästhetischen Gründen, dass die Handwerker keine Schutzvorrichtungen anbringen, um die alte Fensterbrüstung den geltenden Normen entsprechend zu ertüchtigen. Ohne eine entsprechende Anpassung der Brüstung kann diese eine Gefahr für Leib und ­Leben der Bauherrschaft bzw. Dritten darstellen.Sowohl ästhetische als auch rein wirtschaftliche Gründe vermögen diese Gefahr nicht zu rechtfertigen. 

Auch eine vertragliche Vereinbarung mit der Bauherrschaft oder eine «Abmahnung», also ein schriftlicher Hinweis an die Bauherrschaft, dass das Bauwerk nicht den Regeln der Baukunde entspreche und die Verantwortung für sich daraus ergebende Folgen abgelehnt werde, garantiert keine Straffreiheit. Eine vertragliche Vereinbarung oder Abmahnung gilt ausschliesslich zwischen den Parteien und kann gegenüber Dritten keine be­freiende Wirkung entfalten. Des Weiteren ist auch nicht auszuschliessen, dass eine Güterabwägung das Interesse am vertraglichen Schutz der beauftragten Person gegenüber dem Schutz der Bauherrschaft in den Hintergrund treten lässt. Kurz: auch mit einer Abmahnung lässt sich die strafrechtliche Verantwortlichkeit für eine Verletzung der Regeln der Baukunde nicht ausschliessen.

Sollte die Bauherrschaft dennoch auf eine die Regeln der Baukunde verletzende Ausführung bestehen, muss die ­beauftragte Person die Kündigung des Vertrages aus wichtigem Grund in Betracht ziehen. Diese Möglichkeit besteht insbesondere dann, wenn der wichtige Grund auf einem vorwerfbaren Verhalten der Bauherrin beruht. Ein solches dürfte bei einem Insistieren seitens der Bauherrin, das bestellte Bauwerk sei ungeachtet der Gefährdung von Leib und Leben und entgegen den anerkannten Regeln der Baukunde zu errichten, bejaht werden.

Weitere rechtliche Folgen 

Nicht vergessen werden darf, dass eine Abweichung von den Regeln der Baukunde oft nicht bloss strafrechtlich relevant ist, sondern auch eine privatrechtliche Haftung nach sich ziehen kann. Insbesondere kann ein vorsätzliches Abweichen von den Regeln der Baukunde zu einem Ausschluss von Versicherungsleistungen führen. Gleichzeitig gilt es, das öffentliche Bau- und Planungsrecht zu beachten. Beispielsweise besagt § 40 Abs. 1 der Planungs- und Bauverordnung des Kantons Luzern, dass Bauten und ­Anlagen nach den für die Erdbebensicherheit anerkannten Regeln der Technik zu erstellen und zu unterhalten sind. 

Das Nichtbeachten öffentlich-rechtlicher Vorschriften kann namentlich die Nichtbewilligung, den Rückbau oder eine Busse zur Folge haben. Zusammengefasst sind die am Bau tätigen Personen gut ­beraten, die anerkannten Regeln der Baukunde zu kennen und zu befolgen.