Erste Patentinhaber vor Gericht
Das Präsidium des Einheitlichen Patentgerichts machte der Öffentlichkeit bekannt, dass per Stichtag vom 26. Juni 2023 – das heisst knapp über drei Wochen seit Inbetriebnahme des Gerichts – 23 Rechtsstreitigkeiten vor dem EPG hängig sind. Bisher wurden vier vorsorgliche («einstweilige») Massnahmen sowie zwei Beweissicherungsmassnahmen beantragt und drei Nichtigkeitsklagen sowie vierzehn Verletzungsklagen eingereicht.
Ein erster deutlicher Trend zeichnet sich ab: Patentverletzungsklagen werden hauptsächlich in Deutschland geführt. Bei der Erhebung von Klagen auf Verletzung eines Patentes können die Kläger regelmässig aus einer Reihe zuständiger Lokalkammern des Gerichts erster Instanz wählen. Die Verletzungsverfahren wurden jedoch hauptsächlich in Deutschland (München [8] und Hamburg [2]) eingeleitet; im Übrigen wurden die Gerichtsforen Italien (Mailand) und Schweden (Stockholm) je zweimal gewählt.
Im Streit liegen in technischer Hinsicht insbesondere Life-Sciences- und ICT-Erfindungen, was aufgrund der wesentlichen Bedeutung von Patenten für die Pharmabranche und der vielen globalen Streitigkeiten in Bezug auf Informations- und Kommunikationstechnik-Erfindungen nicht zu überraschen vermag.
Life Sciences
Pharma-Konzerne nutzen die Anlaufphase des EPG, um erste Klagen und Probeverfahren in Gang zu setzen. Das US-amerikanische Biotechnologieunternehmen 10x Genomics, Inc. verklagte US-Wettbewerber Vizgen, Inc. vor der Lokalkammer Hamburg wegen angeblicher Patentverletzung eines von der Universität Harvard lizenzierten Patents betreffend ein Verfahren zum Nachweis von Analyten in einer Zell- oder Gewebeprobe (EP4108782). Parallel dazu beantragte 10x Genomics, Inc. den Erlass zweier einstweiliger Verfügungen gegen Nano String Technologies, Inc. vor der Lokalkammer Hamburg und ist somit eine der aktivsten frühen Klägerinnen.
Vor der Lokalkammer München reichte Amgen, Inc. einen Antrag auf einstweilige Massnahme gegen Sanofis-Aventis wegen Verletzung eines Patents betreffend Antigen zur Bindung von Proteinen an Proprotein-Konvertase-Subtilisin/Kexin vom Typ 9 (PCSK9) (EP3666797) ein. Gegen dasselbe Patent hat Sanofis-Aventis eine Nichtigkeitsklage bei der Zentralkammer München erhoben. Die zwei Pharmakonzerne kommerzialisieren beide PCSK9-Inhibitoren und streiten in mehreren gerichtlichen Verfahren in Europa und in den USA.
Die amerikanische Edwards Life Sciences Corporation und die indische Meril Life Science sind ebenfalls seit mehreren Jahren in Streit. Bei der Lokalkammer München stellte Edwards Life Sciences einen Antrag auf einstweilige Massnahmen und bei der Nordisch-Baltischen Regionalkammer hat das Unternehmen eine Patentverletzungsklage eingereicht (dort wurden auch Smis International OÜ und Sormedica UAB mitverklagt). Die Streitpatente betreffen ein System bestehend aus einer prosthetischen Klappe und einem Einführkatheter (EP3646825) sowie eine implantierbare Klappenprothese (EP2628464).
Der Rechtsbestand von zwei Patenten betreffend Retina-Implantate, die von dem japanischen Unternehmen Healios, dem Forschungsinstitut Riken und der Universität Osaka gehalten werden, wurde von Astellas Pharma angefochten (EP3056563 betreffend Verfahren zur Herstellung einer Retinapigmentepithelzelle und EP3056564 betreffend Verfahren zur Reinigung von Retinapigmentepithelzellen).
ICT-Technologie
Technologiekonzerne haben ebenfalls erste Klagen eingereicht, jedoch nur in relativ bescheidenem Umfang. Philips belangte die in 2018 von Foxconn aufgekaufte Belkin International Inc. vor der Lokalkammer München wegen angeblicher Verletzung von drei Patenten betreffend induktives Laden gemäss dem Qi-Standard (EP2628233 betreffend Leistungssender und Leistungsempfänger für ein induktives Stromsystem sowie EP2867997 betreffend drahtlose induktive Leistungsübertragung und EP2372863 betreffend Steuern von induktiven Stromübertragungssystemen).
Tesla wurde von Broadcom und der Schwestergesellschaft Avago in Hamburg wegen Verletzung eines Patents betreffend programmierbare Hybridsender (EP1838002B1) sowie Überwachungsschaltung für die bordeigene Stromversorgung und Leistungsversorgungssteuerung (EP1612910) verklagt. Im Weiteren hat Huawei eine Verletzungsklage in München eingereicht; die Klage betrifft ein Verfahren und eine Vorrichtung zur Übertragung von Informationen eines drahtlosen lokalen Netzwerkes (EP3611989).
Die britische Online-Supermarkt- und Technologie-Gruppe Ocado reichte gleich drei Verletzungsklagen gegen die norwegische Robotikfirma Auto Store bei der Nordisch-Baltischen Regionalkammer und den Lokalkammern Düsseldorf und Mailand ein. Die Patente betreffen Lösungen in der Lagerautomatisierungstechnologie (EP1612910 betreffend Überwachungsschaltung für die bordeigene Stromversorgung und Leistungsversorgungssteuerung; EP3795501 betreffend Ladehandhabungseinrichtung für ein Lagersystem; EP3653540 betreffend Lagersystem und Verfahren zur Entnahme von Einheiten aus einem Lagersystem). Auch diese Parteien streiten weltweit – zuletzt wurde die von Auto Store vor dem UK High Court eingereichte Patentverletzungsklage im März 2023 abgelehnt.
Schweizer Patentstreit
Die erste vom Einheitlichen Patentgericht angeordnete einstweilige Massnahme ohne Anhörung der Gegenpartei wurde in einem Patentstreit zwischen zwei Schweizer Unternehmen erlassen (EP2546134 betreffend Kombinationsstruktur aus Fahrradrahmen und Motornabe). Auf Antrag der E-Bike-Herstellerin mystromer AG wurde der Revolt Zycling AG der Vertrieb von E-Bikes in verschiedenen Märkten der Europäischen Union, in denen Patentschutz besteht, verboten. Auf der in Frankfurt am Main stattfindenden Fachmesse «Eurobike» wurden alle Ausstellungsfahrzeuge der Revolt Zycling AG gerichtlich beschlagnahmt. IPrime vertrat die Gesuchstellerin mystromer AG, sodass aus Gründen der Geheimhaltung der Fall nicht kommentiert wird.
Der Gerichtsentscheid stellt jedoch klar, dass Schweizer Unternehmen ihre aus dem Patentrecht fliessenden Ansprüche vor dem EPG durchsetzen können und sich allenfalls vor dem EPG gegen Verletzungs- und Nichtigkeitsklage wehren werden müssen. Das Gericht kann Beweissicherungsmassnahmen (sogenannte «saisie») und Inspektionen von Erzeugnissen, Vorrichtungen, Verfahren, Räumlichkeiten oder lokalen Gegebenheiten vor Ort anordnen sowie Patentverletzungs- und Nichtigkeitsentscheidungen treffen, welche Schweizer Patentinhaber oder -anmelder beziehungsweise Schweizer Patentverletzer betreffen.
Zusammenfassung
Wird die von den Richtern geprägte Qualität der Rechtsprechung des Einheitlichen Patentgerichts etabliert beziehungsweise bestätigt und zeigt sich die Durchsetzung von Patentrechten als rasch und kosteneffizient, so wird die zurzeit eher zurückhaltende Grundeinstellung der Patentanmelder und -inhaber umschwenken. Es ist nämlich unbestritten, dass das Einheitspatentsystem für Wirtschaftsakteure – auch für Schweizer Unternehmen – grosse Chancen bietet.