Wenn man das Klima in der Gesellschaft, aber auch der Wirtschaft von heute betrachtet, fragt man sich manchmal, welche Werte gelebt werden. Gegenseitiger Respekt, Achtsamkeit und Vertrauen treten immer mehr in den Hintergrund – stattdessen drängen Machtkämpfe, Gier und Narzissmus in den Vordergrund. In einem solchen Klima herrschen Angst und Misstrauen, vor allem aber Egoismus. Dass sich unter diesen Bedingungen keine langfristig erfolgreiche Zusammenarbeit aufbauen lässt, ist vorgezeichnet.
Eine Frage des Respekts
In einer Pferdeherde führt der, dem die anderen Herdenmitglieder Respekt zollen. Dabei geht es nicht um blinde Unterwerfung, sondern um die Anerkennung der Tatsache, dass die anderen Herdenmitglieder dem Anführer zutrauen, sie zu führen, zu leiten und vor Gefahren zu beschützen.
Auf das betriebliche Verständnis übertragen heisst dies, dass sich eine Führungskraft über ihre Autorität und Ausstrahlung den Respekt und das Vertrauen der anderen verdienen kann. Das schafft die Führungskraft besonders dann, wenn sie sich selbst respektvoll ihren Mitarbeitern gegenüber verhält, also nicht die eigene Macht missbraucht, um Angst und Unsicherheit (und damit Druck) zu erzeugen.
Die heutige Arbeitswelt mit der zunehmenden Digitalisierung und Globalisierung erfordert von den Führungskräften ein hohes Mass an Flexibilität. In der Begegnung mit Pferden kann diese Flexibilität gut geübt werden, da Pferde sich nicht «diplomatisch» verhalten, sondern so sind, wie sie sind. Sie leben ihre unterschiedlichen Charaktere und Launen aus; darauf gilt es, sich einzustellen. In den Übungen können spielerisch verschiedene Positionen, mit allen Vor- und Nachteilen, erlebt werden: das vorausgehende Führen, das kooperative Führen auf gleicher Höhe und das antreibende Führen von hinten. Dabei zeigt sich, wie im wirklichen Leben, dass die jeweilige Strategie situationsabhängig ist und eine gute Führungskraft flexibel genug sein muss, um zwischen den verschiedenen Führungsstilen zu wechseln.
Interaktion mit Empathie
Will man von einem Pferd überdurchschnittliche Leistung, muss es mitarbeiten wollen. Nur auf Basis einer gesunden Mischung aus Empathie, Respekt und Vertrauen kann der Mensch das Pferd für die Kooperation gewinnen. Macht man es dagegen mit roher Gewalt gefügig, wird es im besten Fall lustlos «Dienst nach Vorschrift machen», im schlechtesten Fall heftig Widerstand leisten. Diese Zusammenhänge gelten übrigens nicht nur im Umgang mit Pferden. Es lassen sich erstaunlich viele Analogien zur Mitarbeiterführung erkennen.
Im Kontext mit Pferden können komplexe Situationen sehr gut abgebildet werden. Pferde sind, wie Menschen, sensitive und empathische Lebewesen mit einer Vorgeschichte und einer momentanen Befindlichkeit, die permanent wechseln kann. So sind sie in ihren Reaktionen oft schwierig vorhersehbar und auch nicht immer gleich kontrollierbar. Wenn Mensch und Pferd aufeinandertreffen, begegnen sich zwei hochkomplexe Systeme.
Das Pferd reagiert äusserst sensibel auf die Befindlichkeit seines Gegenübers und so gibt es oft auch Rückkoppelungen im Verhalten. So gesehen sind weniger die Eigenschaften des Pferdes oder des Menschen bestimmend für die Kooperation, sondern die jeweilige Wechselwirkung. Was muss getan oder unterlassen werden, um zum erwünschten Resultat zu gelangen?