Rhythmus ist für Lean Management so wichtig wie die Atemtechnik fürs Leistungsschwimmen oder die Schaltzeitpunkte im Motorsport. Beides sieht man nicht auf den ersten Blick, aber der Takt dahinter ist entscheidend. Ohne Rhythmus keine Lean Production. Nur mit Rhythmen kann man planen. Nur so lassen sich Menschen, Maschinen und Hilfsmittel miteinander synchronisieren. Und selbstverständlich «leben» diesen Rhythmus auch die Arbeiter und Angestellten in der Produktion.
Der Rhythmus ist entscheidend
Ein funktionierender Rhythmus ist also in jeder Produktion ein Quantensprung für Effizienz und Workflow. Dass Lean Management dabei unterstützt, sehen allerdings nicht alle so. Als Lean-Enthusiast überlegte sich der Autor deshalb eine Machbarkeitsdemonstration der besonderen Art: eine lean und agil geplante Radtour von Freiburg bis zum Nordkap und zurück.
Die Versorgung mit Lebensmitteln, Gegenwind und endlose Fichtenwälder wurden zu den vielen Herausforderungen, die mit Produktionsproblemen, kurzfristig geänderten Kundenwünschen und Lieferengpässen vergleichbar sind.
Auf der Radtour war der Rhythmus ebenfalls entscheidend. Dabei bauten sich ganz unterschiedliche Rhythmen parallel auf. Der wohl wichtigste war der Tagesrhythmus. Gegen 7.30 Uhr aufstehen, frühstücken, packen und dann konsequent 5,5 bis 6 Stunden lang in die Pedale treten – bei absolut jedem Wetter. Dazu gesellte sich der Wochenrhythmus – sechs Tage fahren und einen Tag Ruhe.
In Skandinavien entstand irgendwann der «Einkaufsrhythmus». Wo es nur alle 150 Kilometer einen Laden gibt, hält man besser jedes Mal an und packt sich die wenigen Taschen voll mit Lebensmit-teln. Kaum hatte der Autor die nächste Einkaufsmöglichkeit erblickt, stand sein Fahrrad auch schon davor, und er deckte sich mit Müsli, Obst und anderen Produkten des täglichen Bedarfs ein.
Auf der Rückfahrt erreichte der Autor irgendwann Polen. Was für ein Konsumparadies! In jedem Dorf ein Kiosk! Manchmal zwei. Prompt war er völlig überfordert von dieser wiedergewonnenen Vielfalt. Alle zehn Kilometer stand sein Fahrrad wieder vor einem Laden und er lud sich Taschen voll mit Süssigkeiten. Die Folgen liessen nicht lange auf sich warten. Nach wochenlangem Abstrampeln war er eigentlich perfekt durchtrainiert. Wenige Tage in Polen und er sah aus, als wäre er nie losgefahren.
Wenn ihn vor der Tour jemand gefragt hätte, ob man Bauchfett ansetzen kann, wenn man bis zu sechs Stunden Rad fährt am Tag, dann hätte er wohl gesagt: Niemals. Heute weiss er: Doch, doch, man kann. Nur, weil er einmal einen Rhythmus gefunden hatte, konnte er an ihm nicht stur festhalten. In Polen hätte er die Abläufe schnell umstellen müssen, denn auf Dauer unterstützen Rhythmen nur, wenn sie an neue Gegebenheiten angepasst werden.
Der Kunde schlägt den Takt
Laufende Produktion ist Rhythmus. Doch wer gibt ihn vor? Auf der Radtour war es sein Ziel, das der Autor in einer vorgegebenen Zeit erreichen wollte – in der Lean Production ist es der Kunde. Man spricht deshalb auch vom «Kundentakt». Allerdings: Je weiter es mit kundenindividuellen Produkten geht, desto komplizierter wird es. Rhythmen gibt es trotzdem, selbst wenn man sie erst nicht sieht.
Entsprechend des Credos «Man sieht nur, was man glaubt» war ein Sonderanlagenbauer davon überzeugt, weder Kundentakt noch Rhythmus in seine Produktion bringen zu können – jede Anlage sei schliesslich ein Unikat. Nach einer längeren Analyse konnten die Mitarbeiter vom Gegenteil überzeugt werden. Der Rhythmus war eben nicht gleich sichtbar. Erst wenn das technische Herzstück jeder Anlage offengelegt wird, versteht man den Takt.
Abstraktion ist der Schlüssel
Im konkreten Fall entpuppte sich ein Mischer als gemeinsamer Nenner. Egal, ob es sich um eine Anlage zur Herstellung von Lacken, Babynahrung oder Joghurt handelte: Alle enthielten einen Mischer. Zwar bestellt kein Kunde einen Mischer, aber eine Anlage damit. Genauso kauft niemand einen Motor, sondern einen Porsche mit Sechszylinder-Antrieb. Mischer ist Mischer. So einfach war es nicht, doch nach einiger Beobachtung und mit einer gewissen Abstraktion war klar: Es gab fünf Grundtypen. Und schon offenbarte sich auch der Kundentakt: 4-4-2-2-2 war der Grundrhythmus, in dem die fünf Mischertypen bestellt wurden und auf den sich die Produktion ab sofort einstellen konnte – von der Sägerei, der Zerspanung, der Schweisserei, der Schleiferei und der Lackiererei bis schliesslich hin zur Baugruppenmontage.