Der Vorstand eines internationalen Industrieunternehmens richtet sein Wort an die rund 100 Führungskräfte, die sich zur Tagung versammelt haben. Er erläutert seine Erwartungen an ebendiese Führungskräfte. Dabei unterstreicht er notwendige kulturelle Aspekte wie Vertrauen, Feedback und unternehmerisches Denken. Sie sollen gleichzeitig dafür sorgen, dass auch der einzelne Mitarbeiter eigenverantwortlich agiert. Das fördere Ideen, Innovation und Zufriedenheit. So zumindest lautet die Hoffnung dahinter.
Der eindeutige Appell am Ende des Vortrages: Liebe Führungskräfte, entwickelt eure Selbstverantwortung und die eurer Mitarbeiter. Die anwesenden Team-, Abteilungs- und Bereichsleiter nicken verständig und gleichzeitig bildet sich ein grosses imaginäres Fragezeichen über ihren Köpfen. Was genau kann und soll ich tun? Wie entwickelt sich Selbstverantwortung? Was muss ich dazulernen?
Die Fragen sind berechtigt. Ist die Forderung nach Eigenverantwortung doch zurzeit sehr modern und wird gleichzeitig ohne klare Definition verwendet. In den meisten Organisationen ist Eigen- oder Selbstverantwortung nur ein Schlagwort, sowohl für Führungskräfte als auch für Mitarbeiter. Geboren aus der Idee mit der Übertragung von Verantwortung, das unternehmerische Denken zu stärken, was wiederum die Identifikation mit dem Unternehmen erhöht. In der Realität ist der Leitgedanke wohl eher Produktivitätssteigerung und die Verantwortungsübertragung wird durch Kontrolle abgesichert.
Ein ganzheitliches Thema
Führungskräfte und Mitarbeiter bleiben zurück mit dem vagen Gefühl, sich optimieren zu sollen, um den Erwartungen gerecht zu werden. So erfreuen sich Seminare zu Themen wie Selbstführung, Nein-Sagen lernen, Feedback geben etc. einer grossen Beliebtheit. Das alles sorgt allerdings nicht für ein höheres Mass an Selbstverantwortung. Denn die ist gar kein individuelles Thema des einzelnen Mitarbeiters, sondern vielmehr ein ganzheitliches.
Häufig soll mit Selbstverantwortung etwas geheilt werden. Mangelnde Leistung, fehlende Ideen oder geringe Bindung zum Unternehmen. Sie ist also quasi das Medikament zur entsprechenden Diagnose. Nur ist die Untersuchung in vielen Fällen mangelhaft, weil sie enge Ursache-Wirkungs-Relationen unterstellt und nur die Symptome betrachtet. Einstehen für das eigene Tun und Handeln, mit Fehlern konstruktiv umgehen, Mitarbeiter zur Mitgestaltung motivieren, über den eigenen Tellerrand hinausdenken und kooperativ handeln.
Systembetrachtung ist nötig
All dies sind übliche Erwartungen, die unter Selbstverantwortung subsummiert werden. Sie alle sind sinnvoll und können helfen, ein gutes Arbeitsumfeld zu gestalten. Zu glauben, nur mit der einfachen Forderung danach, Mitarbeiterverhalten oder sogar Denkmuster zu verändern, ist eine deutliche Überschätzung der eigenen Wirkung als Führungskraft. Es macht keinen Sinn, Verhalten auf ein Wunschergebnis hin zu regulieren, wenn nicht gleichzeitig das System drum herum (Team, Abteilung, Organisation, Umfeld) betrachtet wird. Und damit ist Wissen um das System, seine Muster und sein Verhalten gemeint.
Dabei ist zuerst zu verstehen, dass jedes Team und jede Organisation komplexe, soziale Systeme sind. Die Menschen darin agieren miteinander, bewirken etwas und werden beeinflusst. Und das von mehreren Seiten, je nachdem wie man den Betrachtungsausschnitt wählt. Ein Projektmitarbeiter beispielsweise ist mit den Erwartungen des Projektleiters konfrontiert und setzt sich zudem mit einigen Stakeholdern auseinander, denn gleichzeitig soll er die Zielvorgaben seiner Linienaufgabe erfüllen. Seine Familie wünscht sich mehr gemeinsame Zeit, während seine ehrenamtliche Tätigkeit eigentlich seiner vollen Aufmerksamkeit bedürfte. Diesen Mitarbeiter mit einem Appell an seine Loyalität zu mehr Eigenverantwortung und Selbstmanagement motivieren zu wollen, klingt, bei genauerer Betrachtung, wie Hohn. Ob Mitarbeiter, Führungskraft oder Vorstand, jeder Mensch ist Teil mehrerer Systeme.