Mensch & Arbeit

Gesundheitsmanagement

Trotz Hörverlust fest im Arbeitsalltag integriert

Mitarbeitende mit einem Hörverlust sind auf spezielle technische Hörhilfsmittel angewiesen, um ihren Arbeitsalltag barrierefrei zu meistern. Der Aufwand für die Integration der Betrof­fenen ist für KMU aber gering und die Kosten werden vollumfänglich von der IV getragen.
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Hörverlust ist in der Schweiz für viele noch immer ein Tabuthema. Dies, obschon beinahe jeder zehnte Schweizer unter einer Hörbeeinträchtigung leidet. Gemäss der Eurotrak-Studie 2018 des Branchenverbands der Hörgerätelieferanten der Schweiz HSM (Hearing Systems Manufacturers) sind fast 20 Prozent der Betroffenen zwischen 35 und 64 Jahre alt. Sie stehen also mitten im Arbeitsleben. Ihr Hörverlust wirkt sich folglich nicht nur auf ihr privates Umfeld, sondern auch auf ihren Berufsalltag aus. Dennoch wartet ein Grossteil der Betroffenen zu lange, bis sie ihren Hörverlust behandeln lassen.

Oliver Fürthaler, Geschäftsführer der Gleichcom AG, ist Spezialist auf dem Gebiet der Arbeitsintegration hörbeeinträchtigter Personen. Die Gleichcom AG mit Sitz in der Zentralschweiz berät seit 15 Jahren Menschen mit einer Hörbe­einträchtigung. Die Kernkompetenz des Familienunternehmens liegt in der Anbindung von technischen Hörhilfsmitteln an Hörsysteme (Hörgeräte und Hörimplantate). Fürthaler weiss aus Erfahrung: «Die Schweizer versuchen oftmals, ihre Beeinträchtigung zu kaschieren und zögern in der Regel zu lange, bis sie ihr Problem kommunizieren. In der Folge verlieren sie im schlimmsten Fall ihren Job.» Denn diverse Hörherausforderungen wie Gruppengespräche oder Telefonate sind für Betroffene ohne Hörgeräte und den damit verbundenen Hörhilfs­mitteln kaum zu bewältigen.

Individuelle Anforderungen

«Gruppengespräche führen bei Perso­nen mit einem Hörverlust oft zu einer Überforderung, wenn mehrere Personen gleichzeitig sprechen. Das Gesprochene überlagert sich und wird dadurch für den Betroffenen unverständlich», erklärt Fürthaler. Konferenzmikrofone, die sich jeweils automatisch auf einen Sprecher ausrichten und das Gesprochene ver­stärken sowie direkt auf das Hörsystem übertragen, können hier ebenso wie sogenannte FM-Anlagen, die das gleiche Prinzip verfolgen, Abhilfe schaffen. Wesentlich ist aber, dass trotz der Hörhilfsmittel darauf geachtet wird, dass immer nur eine Person auf einmal das Wort hat.

Bei den Telefonaten rühren die Herausforderungen mitunter von den neuen Technologien her. So sind die heutigen Telefonanlagen im Vergleich zu den älteren Modellen deutlich leiser. Die neuen Technologien bieten aber auch Vorteile: Anrufe können über Smart­phones direkt auf die Hörgeräte der Betroffenen übertragen und mittels Apps gesteuert werden.

Neben diesen beiden Hörherausforderungen gibt es natürlich auch andere Stolpersteine, die Menschen mit einem Hörverlust den Alltag erschweren können. Diese Herausforderungen sind je nach Arbeitsplatz und Art des Hörverlustes sehr individuell und können sich negativ auf die Sicherheit am Arbeitsplatz auswirken. 

Als Beispiel führt Fürthaler einen Mitarbeitenden an, hinter dessen Rücken regelmässig ein Gabelstapler vorbeibraust: «Der Gabelstaplerfahrer konnte den Mitarbeitenden nicht über seine Ankunft informieren, da dieser ihn nicht früh genug hören konnte. Wir haben in diesem Betrieb eine Lichtschranke eingebaut. Wann immer der Gabelstapler diese passiert, vibriert beim Mitarbeitenden mit dem Hörverlust ein Pager. So ist er stets vor­gewarnt.» Gerade weil die Anforderungen so unterschiedlich sind, klären Fürthaler und seine Mitarbeitenden diese jeweils vorgängig im Rahmen einer gezielten Begehung des Arbeitsplatzes ab. 

Die Ausdauer steigern

Dank Hörhilfsmitteln können Mitarbeitende, die von einem Hörverlust betroffen sind, ihren Berufsalltag barrierefrei meistern und sich sicher durch das Unternehmen bewegen. Die Geräte bieten aber noch einen anderen Vorteil: Sie steigern die Ausdauer der Betroffenen. «Viele wissen nicht, dass Menschen mit einer Hörminderung durchaus noch hören – das Problem ist das Verstehen. Sie hören bestimmte Frequenzen nicht mehr oder können gewisse Buchstaben nicht wahrnehmen», erklärt Fürthaler. «Das Gehirn der Betroffenen versucht deshalb, die Lücken in Gesprächen simultan auszu­füllen. Das führt zu einer starken Ermüdung der Betroffenen.»

Die Eurotrak-Studie bestätigt den Zusammenhang zwischen Hörverlust und Erschöpfung: 43 Prozent der Befragten, die trotz Hörverlust kein Hörgerät tragen, fühlen sich abends physisch ausgelaugt, mehr als ein Drittel ist am Ende des Tages mental erschöpft. «Unser Ziel ist es, die Ermüdung der Betroffenen mit unseren Hörhilfsmitteln zu minimieren», so Für­thaler.

Mitarbeitende sensibilisieren

Wichtig ist bei der Anstellung einer von einem Hörverlust betroffenen Person aber nicht nur, den Arbeitsplatz barrierefrei zu gestalten. Vielmehr gilt es auch, den Kollegen der betroffenen Mitarbeitenden Wissen zu vermitteln. Es muss ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass die Betroffenen in vielen Fällen nicht bereits mit einem geminderten Hörvermögen zur Welt gekommen sind. Sie müssen sich erst mit ihrer Situation vertraut machen. 

Oft müssen sie in einem ersten Schritt ein seelisches Tief überwinden. Ein gutes Umfeld ist für sie deshalb essenziell. Dies gilt auch für das Arbeitsumfeld. Fürthaler betont: «Es ist wichtig, den Betroffenen die Ängste vor den Herausforde­rungen am Arbeitsplatz zu nehmen.»

Die Beratungsstellen für Schwerhörige und Gehörlose (BFSUG) bieten deshalb Sensibilisierungen direkt im Unternehmen an. Ziel dieser Sensibilisierung ist es, den Kollegen des Betroffenen zu erklären, was genau seine Schwierigkeiten sind und wie sich diese auf die Arbeit auswirken. Manchmal begleiten Fürthaler und seine Mitarbeitenden die Sensibilisierungen auch. Mittels Demo-Geräten können sie den Kollegen des Betroffenen aufzeigen wie die Geräte funktionieren und was sie tun können, um ihrem Mitarbeitenden den Berufsalltag zu erleichtern. 

Anreize schaffen

Fürthaler ist sich bewusst, dass die Integration eines Arbeitnehmers mit einem Hörverlust nach viel Aufwand für den Arbeitgeber klingt. Deshalb glaubt er auch, dass viele KMU auf die Frage, ob sie einen hörbeeinträchtigten Mitarbeitenden einstellen würden, mit einem «Lieber nicht» antworten würden. «Dies ist aber auf fehlendes Wissen zurückzuführen, denn die Begehung eines Arbeitsplatzes nimmt lediglich einen halben bis einen ganzen Arbeitstag in Anspruch. Die Kosten für diese Begehung wie auch für die Beschaffung der Hörhilfsmittel werden vollumfänglich von der IV getragen. Den dafür erforderlichen Antrag stellt die Gleichcom AG für die Betroffenen», erläutert Fürthaler. Somit ist die Einstellung eines Mitarbeitenden mit einem Hörverlust auch für kleinere Unternehmen problemlos tragbar – und für den Betroffenen von unmessbarem Wert.

Früher sind Personen mit einem Hörverlust statt integriert in die Frühpension geschickt worden. Die Rente fällt dabei aber so gering aus, dass die Betroffenen teils in eine finanzielle Notlage geraten sind. Der Bund hat deshalb Massnahmen ergriffen, die es für Unternehmen reizvoller gestalten soll, Arbeitnehmende mit einem Hörverlust einzustellen. So hat die IV beispielsweise die Möglichkeit, KMU Mitarbeitende zur Probe zu vermitteln. 

Die Betriebe sind dadurch in der Lage, sich mit der Situation vertraut zu machen und so zu einer besseren Einschätzung zu gelangen, ob die Zusammenarbeit mit einem Mitarbeitenden mit Hörverlust für sie funktioniert. Die Monatslöhne für die drei- bis sechsmonatige Probezeit werden von der IV getragen.

Dieses Vorgehen lohnt sich für alle Beteiligten. Denn ein Betroffener, der sein Job aufgrund des Hörverlusts verliert und aufs RAV muss, verursacht hohe Kosten, während die Integration des Betroffenen in einen Betrieb mit deutlich weniger Aufwand verbunden ist – und das Allerwichtigste: Der Mitarbeitende findet so den Weg zurück in die Arbeitswelt.

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