Mensch & Arbeit

Gesundheitsmanagement

Psychische Probleme: Die frühe Prävention ist entscheidend

Im Umgang mit psychisch auffälligen Mitarbeitern sind Führungskräfte schnell überfordert. Nicht zuletzt, weil sie keine Unterstützung erhalten. Eine solche Situation endet meist mit der Kündigung des Mitarbeiters. Der Beitrag zeigt, warum daher eine Früherkennung des Problems so wichtig ist und wie Führungskräfte reagieren können.
PDF Kaufen

«Wer genau hinschaut, erkennt die Anzeichen. Psychische Probleme am Arbeitsplatz – ein Leitfaden für Vorgesetzte», lautet der Titel einer Broschüre, heraus­gegeben von einer Sozialversicherung. Die Überschrift auf der ersten Seite heisst: «Früherkennung. Handeln Sie, bevor Ihnen der Kragen platzt.» Richtig an dieser Aussage ist, dass Mitarbeiter mit psychischen Problemen eine enorme Herausforderung sind für Vorgesetzte, Kollegen und natürlich am meisten für sich selbst. 

Zu wenig Unterstützung

Was leider nicht funktioniert, ist die obige Vorstellung, dass Vorgesetzte die Aufgabe der Früherkennung von psychisch belasteten Mitarbeitern übernehmen können. Eine Befragung von 1236 Deutschschweizer Führungskräften, die sich an eine Situation mit einem psychisch auffälligen Mitarbeiter erinnerten, zeigt deutlich die Grenzen auf: Führungskräfte sind bei psychischen Problemsituationen überfordert. 

In mehr als 80 Prozent der Fälle endet die Tragödie mit der Kündigung des Mitarbeiters. Ausserdem werden diese Ereignisse als äusserst belastend und kostspielig für alle Beteiligten erlebt, auch für das Unternehmen. Die Befragung zeigt auch, dass die Führungskräfte in der Regel keine nützliche Unterstützung erhielten, sei es vom eigenen Vorgesetzten, von Human Resources oder von Ärzten. 

Wenn aber der Kragen zu platzen droht, kann man nicht mehr von Früherkennung sprechen. Wenn psychisch bedingtes auffälliges Verhalten oder der Leistungsabfall eines Mitarbeiters vom Vorgesetzten erkannt werden, ist die psychische Leidensgeschichte des Betroffenen in einem bereits weit fortgeschrittenen Stadium. Das Unternehmen muss sich dann auf eine lange, beschwerliche und teure Reise einstellen, bis sich das Problem löst. 

Was «gute Führung» ausmacht 

Was eine Führungskraft trotzdem tun kann, damit es nicht so weit kommt, ist demnach eine wichtige und berechtigte Frage. Eine naheliegende Antwort darauf ist: gute Führung. Als erfolgsentscheidende Kompetenz einer Führungskraft sollte dies das wichtigste Bestreben sein. Eine aufschlussreiche Studie dazu vom Institut für Führung und Personalmanagement der Universität St. Gallen zeigt, wie gute Führung die psychische Gesundheit der Mitarbeiter fördert.

Gute Führung besteht gemäss den Autoren aus einer Kombination von ergebnisorientierter und inspirierender Führung.

  • Ergebnisorientierte Führung (auch transaktionale Führung genannt) beinhaltet, dass Führungskräfte klar und transparent kommunizieren, ihren Mitarbeitern ein differenziertes Feedback geben und regelmässig bei guter Leistung loben, aber auch konstruktive Kritik bei schlechter Leistung äussern. 
  • Inspirierende Führung (auch transformationale Führung genannt) bedeutet, dass Führungskräfte selbst ein Vorbild für hohen Einsatz und grosses Engagement sind, ihren Mitarbeitern ein inspirierendes Bild der Zukunft aufzeigen, sie individuell unterstützen und sie zum Mitdenken anregen.

Die Autoren der oben genannten Studie definieren noch einen weiteren, für die Gesundheit wichtigen Führungsaspekt: die gesunde Führung. Sie beinhaltet, dass Vorgesetzte achtsam mit sich und ihren Mitarbeitern umgehen und sich für die Gesundheit ihrer Mitarbeiter verant­wort­­lich fühlen. Sie sind zudem ein gutes Vorbild in Bezug auf die eigene Gesundheit, was positiv ansteckend wirkt. Die Studie zeigt, dass sich die psychische Gesundheit der Mitarbeiter innerhalb einer Firma mit guter Führung durch eine gesunde Führung zusätzlich um etwa ein Drittel verbessert. 

Gute und gesunde Führung, auch bei bester Umsetzung, bietet jedoch keinen ausreichenden Schutz gegen mögliche psychische Belastungen und Erkrankungen von Mitarbeitern, denn deren Ursachen sind mehrheitlich privater Natur. 75 Prozent aller psychischen Störungen beginnen vor dem 25. Altersjahr, also oft vor dem Eintritt ins Arbeitsleben. Sie liegen also in einem Bereich ausserhalb des Wirkungskreises von guter und gesunder Führung. Dies gilt auch für die all­täglichen Probleme und Sorgen, die Mitarbeitende belasten. Rund 70 Prozent aller Anliegen sind privater Natur, während arbeitsbezogene Themen nur etwa 30 Prozent aller Fälle ausmachen.

Dieses Verhältnis 70:30 mag überraschen, weil so häufig über die Arbeit als Krankmacher gesprochen wird. Arbeit, wenn sie Mitarbeiter nicht unter- oder überfordert, ist erwiesenermassen entscheidend für das Erhalten der psychischen Gesundheit. Für Mitarbeiter mit psychischen Problemen ist eine Arbeit häufig ein wichtiger Faktor, um wieder gesund zu werden. Oder umgekehrt: Ein durch psychische Probleme verursachter Arbeitsplatzverlust führt für den betroffenen Mitarbeiter häufig zu einer weiteren Verschlechterung der Gesundheit, zu einem erhöhten Risiko von chronischen Krankheiten und zu permanenter Arbeitsunfähigkeit. 

Die Gefährdungsbeurteilung 

Das Arbeitsschutzgesetz fordert die systematische Ermittlung und Reduzierung von Stressquellen und Ursachen für psychische Belastungen am Arbeitsplatz. Kritische Situationen können zum Beispiel im Rahmen von Gefährdungsanalysen zur psychischen Belastung identifiziert werden. (Früh-)Indikatoren für psychische Belastungen mit Risikopotenzial sind beispielsweise ineffektive Vertretungsregeln, unausgewogene Anforderungs- /Fähigkeitsdisbalance, Arbeitsorganisation mit permanentem Zeitdruck, dunkle, hemmende Arbeitsumgebung, ergonomisch inadäquate Arbeitsmittel, Aufgaben mit Multitasking-Anforderung, unfreundliche Arbeitsatmosphäre, keine geregelten Pausen, Projektarbeit unter ständigem Erfolgs- und Zeitdruck.

Ziel der Gefährdungsbeurteilung ist nicht die psychologische Diagnostik oder die psychologische Therapie, sondern das Sicherstellen der erfolgsrelevanten betrieblichen Abläufe im Rahmen der Füh­­r­ungsverantwortung. Jedoch unterliegen die privaten Probleme und Sorgen der zu schützenden Privatsphäre des Mitarbeiters und nur die Arbeitsverhältnisse können von der Führungskraft angesprochen werden. Das Thema private Faktoren und persönliches Verhalten des Mitarbeiters wird grundsätzlich ausgeklammert. Aber gerade die Änderung des Verhaltens ist der wichtigste Faktor für die Wiederherstellung und den Erhalt der psychischen Gesundheit. Diese Tatsache erschwert eine psychische Gefährdungsbeurteilung im Sinne der Gesundheitsprävention erheblich. 

Falsch ist bei diesem Ansatz ausserdem die Annahme, dass Führungskräfte die unmittelbarste Beziehung zu den Mitarbeitern und deren Arbeitsalltag haben. Falsch ist auch die Behauptung, dass die Vorgesetzten als Erste mitbekommen, wenn ein Mitarbeiter aufgrund eines psychischen Problems die Arbeit nicht mehr so gut erledigen kann wie zuvor. Es ist nicht der Vorgesetzte, sondern der Mitarbeiter selbst, der sich am nächsten steht und der zuerst erkennt, dass er unter etwas leidet. Dass sein Wohlbefinden reduziert und etwas bei ihm nicht in Ordnung ist. Echte Früherkennung im Sinne der wirklichen Frühzeitigkeit kann daher am besten von den Betroffenen selbst wahrgenommen werden.

Präsentismus vermeiden

Für den Erhalt der Gesundheit der Mitarbeiter ist die frühe Prävention entscheidend. Sie muss weit vor dem Stadium beginnen, in welchem Mitarbeiter bereits durch Verhaltensänderungen oder Leistungsminderungen auffallen. Es geht also auch um das Vorbeugen von «Präsentismus», welcher viel grössere Leistungsverluste und Kosten verursacht als die Krankentage in Unternehmen. (Die betriebswirtschaftlich relevante Definition von Präsentismus: die nicht eingebrachte Leistung bei der Arbeit anwesender Mit­arbeiter aufgrund von Leiden, Sorgen und Problemen.)

Mitarbeitern, die aufgrund ihrer Pro­bleme und Sorgen leiden, sieht man im Anfangsstadium die Belastungen beziehungsweise das verminderte Leistungs­vermögen in der Regel nicht an. Präsentismus ist oft unsichtbar für andere, denn Mitarbeiter können ihren Stress und ihr Leiden oft gut kaschieren. Das Phänomen Präsentismus wie auch anfängliche psychische Belastungen und Beanspruchungen (abhängig von den Fähigkeiten und Möglichkeiten des Mitarbeiters mit den psychischen Belastungen umzugehen, entsteht die psychische Beanspruchung) können bildlich mit dem Eisberg-Modell dargestellt werden. Am Anfang sind demnach Leistungseinbussen durch Stress oder Sorgen kaum von aussen sichtbar; sie sind unter dem Wasser und verursachen 90 % der Verluste und Einschränkungen. Daher ist die wirksamste und günstigste Prävention, wenn Betroffene sofort selbst etwas dagegen tun können. Bevor es zu einer erheblichen Belastung auch für den Vorgesetzten, Kollegen und das Unternehmen wird. 

Eigenverantwortlich handeln

Wirksame Verminderung von Präsentismus wie auch von psychischen Problemen kann nur erzielt werden, wenn betroffene Mitarbeiter im Sinne der Eigenverantwortung selbst etwas dagegen unternehmen. Daher ist gesund bleiben eine Führungsaufgabe, die jeder Mensch wahr-nehmen sollte. Die Aufforderung an Führungskräfte, sich für die Gesundheit ihrer Mitarbeiter verantwortlich zu fühlen, könnte sogar kontraproduktiv sein. Wenn sich Führungskräfte zu viel in die Gesundheitsfragen ihrer Mitarbeiter einmischen, reduziert dies deren Eigenverantwortung. 

Die Bereitschaft zur Übernahme von Eigenverantwortung benötigt oft eine Einstellungsänderung. Um diese bei sich und bei den Mitarbeitern zu erfahren, empfiehlt sich folgende Übung. Man nehme einen Stift in die Hand und halte ihn über den Boden. Nun lässt man ihn fallen. Der Stift fällt zu Boden. Jetzt beantworte man die Frage: Warum fällt er zu Boden?

Mit über 90 Prozent Wahrscheinlichkeit lautet die Antwort: «Die Schwerkraft zieht ihn an.» Dies ist die spontane Antwort in fast allen Fällen. Nur ganz wenige sagen: «Ich habe ihn losgelassen.» Richtig sind natürlich beide Antworten. Aber es besteht im Sinne der Eigenverantwortung ein grosser Unterschied zwischen den beiden Antworten. Wird die Ursache in der Schwerkraft gesehen, so ist sie aus­serhalb des eigenen Einflussbereichs. Die Eigenverantwortung für das Geschehene wird abgegeben, indem der Grund in äusserlichen Gegebenheiten gesucht wird. In dieser selbst gewählten «Opferrolle» kann wenig zur Verbesserung einer Situation beigetragen werden. Es wird nur eine Hälfte des Problems erkannt, und zwar die Hälfte, die nicht wirklich beeinflusst werden kann.

Massnahmen

Um die Eigenverantwortung für die psychische, aber auch für die physische Gesundheit zu fördern, können Vorge­setz­­te zum Beispiel folgende Massnahmen ergreifen: 

  • Die Gesundheit zum wichtigsten Gut erklären. Es gibt keine Aufgabe oder Arbeit, für die es sich lohnt, seine Gesundheit zu opfern. Gesundheit ist zwar nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts. Wenn jemand seiner Gesundheit zum Beispiel wegen zu viel Stress schadet, dann schadet dies auch der Arbeit, den Kollegen und dem Unternehmen. 
  • Zusammen mit den Mitarbeitern un­gesunde Gewohnheiten identifizieren. Zum Beispiel: E-Mails am Wochenende lesen oder versenden, durcharbeiten statt Pausen einlegen, Überstunden machen, Arbeit mit nach Hause nehmen, Problemen aus dem Weg gehen oder unter den Teppich kehren, abschalten am Abend mit Bier und Fernsehen, kein Sport, die Familie zu kurz kommen lassen. 
  • Die Mitarbeiter fragen, was sie für ihre Gesundheit als wichtig erachten. Und dann Wege besprechen, wie sie diese Aspekte mit ihrer Arbeit vereinbaren können. Dabei soll die Verantwortung für die Umsetzung ganz den Mitar­­bei­tern überlassen werden. Vorgesetzte sollen in ihrer Rolle als Vorgesetzte bleiben, sie sind weder Coach noch Psychologe noch der beste Freund der Mitarbeiter.
  • Einen offenen Geist, die Toleranz und den Humor, den Mut der Mitarbeiter, den «Stier bei den Hörnern zu packen», fördern. Lösungen suchen statt Schuldige. Fehler zuzugeben erhöht die Glaubwürdigkeit und das Vertrauen. Miss­erfolge sind Gelegenheiten, Neu-es zu lernen und Dinge zu verbessern. So werden Schuld- wie auch Scham­gefühle reduziert, die häufig mit psychischen Belastungen und Beanspru­chungen einhergehen. 
  • Mitarbeiter sollen die Möglichkeit haben, sich frei, anonym, vertraulich und kostenlos von kompetenten Spezialisten beraten zu lassen, zum Beispiel in Form einer externen Mitarbeiterberatung (EAP). Mit einem solch niederschwelligen und attraktiven Angebot werden die besten Voraussetzungen für Führungskräfte und Mitarbeiter geschaffen, um Führungskompetenz zu entwickeln und gesund zu bleiben.
Porträt