Viele Start-up-Unternehmen sind stolz darauf, dass in ihnen ein Laissez-Faire-Führungsstil gelebt wird. Ihre Gründer und Inhaber, oftmals frischgebackene Hochschul-Absolventen, verstehen sich nicht als Führungskräfte, sondern eher als Mentoren, die Projekte sponsern und ihren «Mitstreitern» mit Rat und Tat zur Seite stehen – ohne Kontrolle und Feedback. «Feedback gibt der Kunde – nicht die Führung», lautet ihr Credo. «Eine solche Organisationsform ist verrückt und kann nicht von Erfolg gekrönt sein», denken viele erfahrene Manager beim ersten Hinschauen. Doch sie ist nicht verrückt – das beweisen der Erfolg und das rasche Wachstum zahlreicher Start-ups.
Führungsideale
In den Unternehmen und in der Öffentlichkeit ist Führung ein zentrales Thema. Und darüber, was eine gute Führung ausmacht, wird seit Jahrzehnten, wenn nicht gar Jahrhunderten diskutiert. In diesem Prozess werden die Anforderungen an Führung immer präziser beschrieben.
Zudem werden Rollen- und Funktionsbeschreibungen erstellt und spezielle Auswahlsysteme dafür entwickelt. Und zur Führungskraft wird man ausgebildet, und Führung wird meist auch pekuniär honoriert. Führung scheint in Unternehmen unabdingbar. Doch zugleich kostet schlechte Führung viel Geld, denn sie führt schnell zu Friktionen und wirtschaftlichen Verlusten – insbesondere dann, wenn
- sich eine zu enge «Brille» mit einer grossen Entscheidungsmacht paart und
- eine mangelnde Beachtung und Wertschätzung der Mitarbeiter zu einer Demotivation führt.
Um gute Führungskräfte buhlt deshalb die Wirtschaft, und diese haben ihren Preis. Immer wieder hört man von Unternehmensführern den Satz: «Unternehmen brauchen eine starke Führung, um die Probleme der Zukunft zu lösen.» Erst kürzlich fiel dieser Satz im Rahmen der Auseinandersetzung zwischen Martin Winterkorn und Ferdinand Piëch über die künftige Führung von VW. Und nicht selten hört man auch, dass der Streit um die Macht zwischen den Platzhirschen auf der Führungsebene ganze Organisationen lähmen kann. Dann sieht man auch die Kehrseite von Führung, und es stellen sich die Fragen:
- Wie kann man den Umschlag von Führungsmacht in Herrschaftssicherung vermeiden?
- Braucht man heute wirklich noch solche «Führungssysteme», die sich primär mit sich selbst beschäftigen? Und:
- Machen wir nicht zu viel Kult um ein Führungsideal, das vielleicht nicht mehr funktioniert?
Denn unbeantwortet ist nach wie vor die Kernfrage, ob sich komplexe Organisationen wirklich führen lassen.
Führung in komplexen Systemen
In ihren Analysen zu komplexen Organisationsstrukturen zeigten der Systemforscher Frederik Vester, der das vernetzte Denken im deutschen Sprachraum populär machte, sowie der Forscher und Hochschullehrer Dieter Dörner, wie schwierig «steuernde Eingriffe» in vernetzten Systemen sind – und zwar unabhängig davon, ob es sich hierbei um ein Unternehmen, eine Kommune oder einen Staat handelt. Dieter Dörner ging dieses Thema experimentell an. Dabei wurde immer wieder evident,
- wie wenig einzelne, allein auf sich gestellte Entscheider in komplexen Situationen gute Wege und Lösungen finden können und
- wie schnell sie Systeme zum Scheitern führen.
Sichtet man jedoch die aktuelle Management-Literatur, wie zum Beispiel die Konzepte von Fredmund Malik, dann wird darin immer noch stark auf die Führungskraft gesetzt. Für Malik kulminiert das Thema im Begriff Management und dieses ist – so sein Credo – wie jede andere Profession durchaus erlernbar. Schlüsselfunktionen eines gelingenden Managements sind für ihn:
- Ressourcen-Orientierung,
- der Beitrag zum Ganzen,
- die Konzentration auf weniges,
- das Nutzen von Stärken,
- Vertrauen und positives Denken.
Damit gelingt es ihm durchaus, Führung zu «entmythologisieren» und enger funktional zu beschreiben. Viel breiter und differenzierter stellt sich die Frage nach Führung bei Oswald Neuberger. Doch auch sein Werk beantwortet die Frage nach der Legitimation von Führung nicht überzeugend. Dabei bedenkt Neuberger durchaus die Problematik von Führung in komplexen Systemen. Kritisch beurteilt er zum Beispiel den Ansatz von Peter Gomez und Gilbert Probst aus St. Gallen, die mithilfe einer einfachen Steuerungsstruktur (aktive, kritische passive und neutrale Faktoren) glauben, komplexe Systeme steuern zu können. Eine Alternative zum bisherigen Führungssystem hat Neuberger in seinem Standardwerk aber nicht entwickelt.
Bei Organisationen, die einfache, monokausal funktionierende Systeme sind, ist es durchaus vorstellbar, dass eine Führungskraft, an die richtige Stelle gesetzt, die Organisation gut steuert. Und unbestreitbar lassen sich auch heute noch Betriebe so aufbauen, dass sie hierarchisch gegliedert sind und auf dem Prinzip pyramidaler Steuerung beruhen. Für eine standardisierte Massenproduktion hat sich ein solches System durchaus als effektiv erwiesen. Allerdings bedurfte es meist eines expliziten Gebrauchs der Macht, damit es lief – oft zulasten der Mitarbeitenden.
Alternative Führungssysteme
Dieses Organisationsprinzip stösst jedoch in einer multikomplexen Umwelt immer mehr an seine Grenzen. Also kann man sich fragen, ob ein Steuerungsgremium von Experten mit unterschiedlicher Expertise und breiterem Blick anstelle einsamer Leitungsfunktionen treten könnte. Dieses Prinzip verfolgen viele Start-up-Unternehmen. Und die Geschichte zeigt: Solche Kollegialgremien, die wie Mitbestimmungsgremien paritätisch besetzt sein können, können durchaus funktionieren – trotz aller Machtspiele, die in ihnen auch immer ablaufen.
Eine Alternative wäre eine Führung durch eine «Facharistokratie». Auch sie gab es in der Geschichte immer wieder, und sie war durchaus erfolgreich. Notwendig sind bei einem solchen Führungssystem Regeln der kollegialen Zusammenarbeit und Rückkopplungsschleifen wie zum Beispiel die Möglichkeit zur Abberufung durch einen «Souverän». In solchen Gemeinwesen wie einem demokratischen Staat gibt es einen klar ausgewiesenen Souverän: das Volk. Und Führung wird – zumindest der Intention nach – von diesem legitimiert. Und wie ist das in den Unternehmen? Dort sind es die Eigentümer, die Führung einsetzen und abberufen können.
In der aktuellen Diskussion um «agile» Unternehmen als Reaktion auf eine agilere, schnelllebigere und komplexere Umwelt wird die Führungsfrage neu aufgeworfen. Demografie und Schlagwörter wie Generation Y sowie «Normalarbeitsverhältnisse» beleben diese Diskussion. Dabei werden nicht nur die Anforderungen an Führung neu justiert, sondern grundsätzlich die Frage gestellt: Können die bisherigen Systeme von Führung diesen Ansprüchen noch gerecht werden?