In der Ausgabe 10/2016 (Seite 14) des «KMU-Magazin» hat der Verfasser in seinem Beitrag argumentiert, die Digitalisierung werde zunehmend auf Eigenverantwortung aller – statt auf formale Hierarchie – setzen müssen, und dabei nur kurz erwähnt, dass die Übernahme von Eigenverantwortung eine minimale Reife der persönlichen Handlungslogik aller Beteiligten voraussetze. In einer Vertiefung dieses Punktes soll hier beleuchtet werden, was mit «Ich-Entwicklung» und der damit angesprochenen Reife der persönlichen Handlungslogik psychologisch gemeint ist.
Die persönliche Handlungslogik
Die Studien von Jane Loevinger und Susanne Cook-Greuter in den USA sowie Thomas Binder in Deutschland zeigen, dass sich Menschen nicht nur in ihrer Persönlichkeit (etwa gemäss dem Modell der sogenannten «Big Five») oder in ihrer Intelligenz unterscheiden, sondern – und zwar weitgehend unabhängig davon – auch in der Reife ihrer persönlichen Handlungslogik. Der Prozess der Herausbildung dieser Reife der persönlichen Handlungslogik wird als Ich-Entwicklung bezeichnet (Literaturhinweise zu diesen Forschungen stellt der Verfasser zur Verfügung).
Bei dem entwicklungspsychologischen Konzept der Ich-Entwicklung handelt es sich um eine Verdichtung empirischer Befunde, nicht um eine Theorie. Die über Jahrzehnte erhobenen Befunde zeigen, dass sich Menschen in ihrer Reife der persönlichen Handlungslogik unterscheiden. Sie zeigen weiter, dass der Prozess dieser Ich-Entwicklung in Stufen erfolgt, also nicht stetig. Dabei wird deutlich, dass Menschen eine Zeit lang im Rahmen der dominierenden Muster einer Stufe denken, argumentieren sowie handeln – und dass sie dann (vielleicht) einen Sprung auf eine nächste Stufe machen.
Solche Sprünge in der Ich-Entwicklung sind irreversibel – wenn man von gelegentlichen Rückfällen im Denken und Handeln absieht, die sozusagen als Ausnahme die Regel bestätigen. Offenbar ist die Abfolge der Stufen bei allen Menschen gleich, und es werden auch keine Stufen übersprungen. Irgendwo aber bleiben Individuen in ihrer Entwicklung stehen – was auch immer dafür verantwortlich sein mag.
Stufen der Ich-Entwicklung
Ein grosser Teil der Ich-Entwicklung erfolgt im normalen Prozess der Entwicklung von der Kindheit bis zur ausgereiften erwachsenen Persönlichkeit – die wir etwa bei vielleicht fünfunddreissig Jahren erwarten können. Was die unterschiedlichen Grade der Reife der persönlichen Handlungslogik ausmacht, sind primär Aspekte der Differenzierung und der Bewusstheit. Jane Loevinger hat zeigen können, dass sich entsprechende Unterschiede in der Sprache abbilden. Aufgrund dieser Erkenntnis hat sie einen Test entwickelt, der aus 36 Satzergänzungen – auf der Basis umfangreicher Vergleichsdaten – die Ich-Entwicklungsstufe ermitteln lässt. Thomas Binder hat diesen Test auf deutschsprachige Verhältnisse adaptiert (siehe www.i-e-profil.de). Loevinger unterscheidet neun Stufen (als E1 bis E9 etikettiert), die in drei Gruppen zerfallen:
Die vorkonventionellen frühen Stufen E1 bis E3, die konventionellen mittleren Stufen E4 bis E6 und die postkonventionellen späten Stufen E7 bis E9. Die vorkonventionellen Stufen durchläuft praktisch jedes Kind, sie brauchen hier nicht zu interessieren. Auf den konventionellen Stufen finden sich etwa 80 Prozent der Menschen heutzutage, sie sollen deshalb skizziert werden:
E4: die gemeinschaftsorientierte Stufe. Die Menschen orientieren sich hier primär an der für sie relevanten Bezugsgruppe. Sie tun (und lassen) die Dinge, weil «man» diese Dinge tut oder lässt. Die Anerkennung durch andere ist für sie sehr wichtig. Die Anpassung an die Gruppe geht bis hin zu Äusserlichkeiten. Etwa zwölf Prozent der Erwachsenen sind auf dieser (plus fünf Prozent auf einer früheren) Stufe.
E5: die rationalistische Stufe. Bestimmend für diese Menschen ist, sich von anderen unterscheiden zu können und einer eigenen Rationalität zu folgen. Sie sehen vermehrt, dass es unterschiedliche Rationalitäten gibt, aber sie halten primär die eigene für allein richtig. Auf dieser Stufe finden sich etwa 38 Prozent der Menschen.
E6: die eigenbestimmte Stufe. Mit dieser Stufe vermögen Menschen sehr viel besser zu relativieren. Sie haben ihren eigenen Standpunkt, aber sie verstehen auch, dass andere einen anderen haben können. Sie können sich und andere besser anhand von Motiven und anderen inneren Aspekten beschreiben und diese verstehen und sie gelangen so zu einer reflektierteren Handlungslogik und steigern ihre Fähigkeit zur Selbstkritik. Auf dieser Stufe stehen etwa 30 Prozent der Menschen.
Auf die postkonventionellen Stufen gehen wir hier nicht ein. Sie werden als relativierend (E7), systemisch (E8) sowie integriert (E9) etikettiert und umfassen etwa 15 Prozent der Menschen. Bei diesen Stufen nehmen besonders Bewusstheit und Differenzierung/Relativierung in der persönlichen Handlungslogik noch einmal deutlich zu. Im heutigen Wirtschaftsleben gilt E6 als das erstrebenswerte Ideal. Wir können davon ausgehen, dass sich Menschen auf den postkonventionellen späteren Stufen kaum oder nur schwerlich in das hierarchisch organisierte, durch viel Fremdbestimmung ausgezeichnete Wirtschaftsleben unserer Zeit integrieren lassen. Und sie wären auf Dauer ebenso wenig bereit, darin eine führende Rolle zu übernehmen.