Mensch & Arbeit

Psychologie

Die Mitte des Lebens – Zeit des Umbruchs und der Chancen

In den Medien und im Alltagsdiskurs rund um die mittleren Jahre sind Midlife-Crisis, Burnout und berufliche oder partnerschaftliche Neuorientierung ebenso beliebte wie unscharf konzipierte Themen. Dieses Interesse lässt erahnen, dass hinsichtlich der spezifischen Herausforderungen und Chancen dieser Lebensphase viele Fragen offen sind.
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In traditionellen Darstellungen des Lebenslaufs als eine auf- und absteigende Treppe werden Menschen in der Lebensmitte (also zwischen 40 und 50 Jahren) auf dem Gipfel dargestellt. Sind sie wirklich auf dem Zenit? Zum einen kann die Frage bejaht werden: Wie in keiner anderen Altersgruppe konzentrieren sich hier Einfluss, Macht und Verantwortung. Leute dieses Alters haben sich in der Regel familial, beruflich sowie gesellschaftlich verankert und können auf eine solide Basis von Lebenserfahrung zurückgreifen.

Reflexion von Lebensthemen

Zum anderen lässt sich die Frage auch mit einem Nein beantworten: Die Mehrheit von ihnen ist nämlich gleichzeitig mit Anforderungen der jüngeren Generationen (Kinder, Enkelkinder) als auch der älteren Generation (betagte Eltern) konfrontiert. Diese Sandwichposition ist häufig verbunden mit beruflich-familialen Vereinbarkeitsproblemen und gesundheitlichen Belastungen. Wie in keiner anderen Altersgruppe werden zudem die Grenzen der eigenen Ressourcen erstmals bewusst realisiert, genauso wie das Kleinerwerden des Lebenszeitfensters, welches eine Auseinandersetzung mit den ursprünglichen Lebensentwürfen unumgänglich macht.


Das bisher Erreichte beziehungsweise nicht Erreichte wird vor dem Hintergrund sich allmählich eingrenzender beruflicher, familialer und partnerschaftlicher Optionen sowie körperlicher Ressourcen erstmals in seiner Bedeutung so richtig sichtbar. Soll das schon alles gewesen sein? Wie soll der Rest meines Lebens aussehen? Immer nach demselben Muster wie bisher? Allfällige in der Aufbauphase des jungen Erwachsenenalters unterdrückte Aspekte des Selbsts werden zunehmend manifest. Verpasste Chancen sind ein häufiges Thema. Auf jeden Fall fordert auch die Tatsache, dass ab der Lebensmitte die Perspektive auf noch rund 40 weitere Lebensjahre besteht, dazu auf, die Möglichkeiten der Neuorientierung auszuloten.

Neudefinition der Identität

Gerne werden in diesem Zusammenhang Parallelen zur Pubertät gezogen. Auch wenn die Bezeichnung Pubertät hier nicht zutreffend ist, gibt es hinsichtlich der Dynamik dieser Umbruchsphase tatsächlich interessante Parallelen. Analog zur Pubertät stellen die mittleren Jahre eine Herausforderung für die Identitätsentwicklung dar. Geht es in der Pubertät um die Findung und Definition einer Identität als Erwachsener, steht in den mittleren Jahren eine Neudefinition (körperlich, psychisch und sozial) als erfahrene, reife Person an. Ist die Identi-tätsfindung in jungen Jahren dadurch gekennzeichnet, sich sozial und gesellschaftlich zu verorten (ein nach aussen gerichteter Prozess), geht es bei der Neudefinition der Identität in den mittleren Jahren darum, die bisherigen Bemühungen wieder zu den eigenen Bedürfnissen und die ursprünglichen Lebenspläne mit dem Erreichten und dem Künftigen in Relation zu setzen (ein nach innen gerichteter Prozess).

Oft kommen Ereignisse gerade auch im Beziehungsbereich hinzu (häufigstes Alter in der Schweiz bei Scheidungen beträgt 49 Jahre), welche alles Bisherige infrage stellen. Nicht immer geht dieser Prozess einfach vonstatten – sehr oft ist er assoziiert mit Verunsicherungen, mit einer Infragestellung des bisher Gelebten, oder gar mit Rebellion und Ausbrechen aus bisherigen Zwängen. Ist das die viel­evozierte Midlife-Krise? Auch wenn Lebenszufriedenheit und psychische Befindlichkeit in dieser Phase nachweislich signifikant tiefer ausfallen als in anderen Altersgruppen (siehe Abbildung), wäre es unzutreffend, hier von der Midlife-Krise zu sprechen.

Psychische Krisen beziehen sich auf men-schliche Reaktionen, auf distinkte kritische Lebensereignisse – und gerade das muss hier nicht zwingend sein. Es spricht vieles eher dafür, dass es sich hier in erster Linie um chronische Belastungen handelt – beruflicher, familialer oder part-nerschaftlicher Art und in Bezug auf körperliche Veränderungen. Wie die Forschung zeigt, packen die meisten diese Herausforderungen nicht nur gut, sondern verzeichnen einen Gewinn an Lebenserfahrung, Krisenerprobtheit und persönlichem Wachstum.

Die Chancen in der Veränderung

Umbruchsphasen sind nicht nur verunsichernd, sie machen auch achtsam und offen für Neues – und das ist eine grosse Chance. Wie kann diese am besten genutzt werden? Eine gute Möglichkeit bietet die Auseinandersetzung mit dem ursprünglichen Lebensentwurf (was habe ich realisieren können? Was ist liegen geblieben?) in der Antizipation des Zukünftigen (wie möchte ich meine Zukunft gestalten?) und in der neuen Definition der eigenen Identität (wer bin ich und was steckt noch in mir?).

Aus Forschung und Praxis wissen wir, dass solche Bilanzierungen nicht in erster Linie von objektiven Fakten abhängen, sondern stark von der Persönlichkeitsstruktur eines Menschen geprägt sind. Im positiven Falle sind es Persönlichkeiten, die offen sind für Neues und geringe Neurotizismuswerte zeigen – also weniger selbstzentriert und ängstlich sind. Dies im Gegensatz zu jenen, bei denen objektive Fakten auf eine positive Bilanz hinweisen würden, aber oft nicht in der Lage sind, dies zu erkennen. Der Unterschied hängt in hohem Masse von Einstellungen und Haltungen ab.

Zielführend ist das Wissen und die Überzeugung, dass Probleme und Krisen normal und Vorboten von Wandel sind. Man sollte sich ihnen nicht verschliessen, also nicht im Sicherheitszyklus verharren, um Unsicherheit und Konflikte zu vermeiden. Dies zu beherzigen gilt für Manager gerade in Zeiten hoher Arbeitsbelastung. Es ist «gesünder», öfter in kleinere Krisen zu geraten als mit der Zeit in ein grosses und existenzielles Elend.

Die Gnade des Nullpunkts

Der Mystiker Johannes Tauler (1300 bis 1361) spricht in diesem Zusammenhang von der «Gnade des Nullpunkts». Gemäss Tauler befindet sich der Mensch in der Lebensmitte in einer Zerreissprobe, in der er sich aufgefordert sieht, sich selber in die Augen zu schauen und sich besser kennenzulernen. Diese Selbsterkenntnis und Lebensbilanzierung sind Teil eines Reifungsprozesses und ein immanenter Bestandteil menschlicher, geistiger Entwicklung. Tauler verlangt hier «tägliches, ordentliches inneres Üben», welches zur Überwindung dieses Wendepunktes notwendig ist. Dieses Üben besteht darin, innezuhalten, zu bilanzieren, neu zu definieren, zu relativieren, eigene Standards zu entwickeln, offen zu sein für Neues und nicht alles kontrollieren zu wollen.

Diese Vorstellung treffen wir viel später unter anderem bei C. G. Jung (1875 bis 1961) an. Nachdem sich der Mensch in der ersten Lebenshälfte nach aussen orientiert hat, gar orientieren musste, um sich gesel­l­schaftlich zu verankern und berufliche sowie familiale Verantwortung zu übernehmen, findet er in der Lebensmitte aus der Peripherie ins Zentrum zurück, um ein neues Leben aus dem Grund zu führen. Erst das bewusste und selbstverantwortliche Durchleben solch existenzieller Krisen führt gemäss Jung zur ersehnten Identitätsfindung und zu einer tragenden Neudefinition des Lebenssinnes.

Charakterstärken entwickeln

Die Chance solcher Krisen liegt auch in der Wiederentdeckung von Ressourcen, die latent da waren, aber kaum genutzt wurden. Solche Ressourcen sind etwa Werte und Charakterstärken wie Selbstverantwortlichkeit, Willenskraft, Proaktivität und Hoffnung. So übernehmen Menschen mit hoher Selbstverantwortlichkeit die Verantwortung für ihre Geschicke und ihre Befindlichkeit. Denn sie wissen, dass es bei Tiefschlägen darauf ankommt, das Ruder erst recht an sich zu reissen, und den Kurs an die neuen Umstände anzupassen.

Proaktivität wiederum ist die Fähigkeit, Visionen zu entwickeln, ohne den Realitätssinn zu verlieren, eine Langzeitperspektive einzunehmen und Strategien zu entwickeln, um diese auch gut umsetzen zu können. Viele Leute lernen diese Fähigkeit erst dann, wenn sie durch Krisen wachgerüttelt worden sind. Im Nachhinein sind viele dankbar dafür, weil sie gelernt haben, zufriedener und beschei­dener zu sein – vor allem aber auch ge­lassener dem gegenüber, was das Leben bringen wird.

Die Ergebnisse unserer Forschung sprechen dafür, dass die vielfältigen Herausforderungen der mittleren Jahre von der Mehrheit als Chance wahrgenommen werden. So gesehen ist das mittlere Lebensalter eine wunderbare Chance, dem Leben einen neuen Sinn zu geben und die Weichen für die zweite Lebenshälfte zu stellen. Die Lebenszufriedenheitskurve geht ja dann – zumindest im statistischen Mittel – wieder bergauf.

Porträt