Die Chancen in der Veränderung
Umbruchsphasen sind nicht nur verunsichernd, sie machen auch achtsam und offen für Neues – und das ist eine grosse Chance. Wie kann diese am besten genutzt werden? Eine gute Möglichkeit bietet die Auseinandersetzung mit dem ursprünglichen Lebensentwurf (was habe ich realisieren können? Was ist liegen geblieben?) in der Antizipation des Zukünftigen (wie möchte ich meine Zukunft gestalten?) und in der neuen Definition der eigenen Identität (wer bin ich und was steckt noch in mir?).
Aus Forschung und Praxis wissen wir, dass solche Bilanzierungen nicht in erster Linie von objektiven Fakten abhängen, sondern stark von der Persönlichkeitsstruktur eines Menschen geprägt sind. Im positiven Falle sind es Persönlichkeiten, die offen sind für Neues und geringe Neurotizismuswerte zeigen – also weniger selbstzentriert und ängstlich sind. Dies im Gegensatz zu jenen, bei denen objektive Fakten auf eine positive Bilanz hinweisen würden, aber oft nicht in der Lage sind, dies zu erkennen. Der Unterschied hängt in hohem Masse von Einstellungen und Haltungen ab.
Zielführend ist das Wissen und die Überzeugung, dass Probleme und Krisen normal und Vorboten von Wandel sind. Man sollte sich ihnen nicht verschliessen, also nicht im Sicherheitszyklus verharren, um Unsicherheit und Konflikte zu vermeiden. Dies zu beherzigen gilt für Manager gerade in Zeiten hoher Arbeitsbelastung. Es ist «gesünder», öfter in kleinere Krisen zu geraten als mit der Zeit in ein grosses und existenzielles Elend.
Die Gnade des Nullpunkts
Der Mystiker Johannes Tauler (1300 bis 1361) spricht in diesem Zusammenhang von der «Gnade des Nullpunkts». Gemäss Tauler befindet sich der Mensch in der Lebensmitte in einer Zerreissprobe, in der er sich aufgefordert sieht, sich selber in die Augen zu schauen und sich besser kennenzulernen. Diese Selbsterkenntnis und Lebensbilanzierung sind Teil eines Reifungsprozesses und ein immanenter Bestandteil menschlicher, geistiger Entwicklung. Tauler verlangt hier «tägliches, ordentliches inneres Üben», welches zur Überwindung dieses Wendepunktes notwendig ist. Dieses Üben besteht darin, innezuhalten, zu bilanzieren, neu zu definieren, zu relativieren, eigene Standards zu entwickeln, offen zu sein für Neues und nicht alles kontrollieren zu wollen.
Diese Vorstellung treffen wir viel später unter anderem bei C. G. Jung (1875 bis 1961) an. Nachdem sich der Mensch in der ersten Lebenshälfte nach aussen orientiert hat, gar orientieren musste, um sich gesellschaftlich zu verankern und berufliche sowie familiale Verantwortung zu übernehmen, findet er in der Lebensmitte aus der Peripherie ins Zentrum zurück, um ein neues Leben aus dem Grund zu führen. Erst das bewusste und selbstverantwortliche Durchleben solch existenzieller Krisen führt gemäss Jung zur ersehnten Identitätsfindung und zu einer tragenden Neudefinition des Lebenssinnes.
Charakterstärken entwickeln
Die Chance solcher Krisen liegt auch in der Wiederentdeckung von Ressourcen, die latent da waren, aber kaum genutzt wurden. Solche Ressourcen sind etwa Werte und Charakterstärken wie Selbstverantwortlichkeit, Willenskraft, Proaktivität und Hoffnung. So übernehmen Menschen mit hoher Selbstverantwortlichkeit die Verantwortung für ihre Geschicke und ihre Befindlichkeit. Denn sie wissen, dass es bei Tiefschlägen darauf ankommt, das Ruder erst recht an sich zu reissen, und den Kurs an die neuen Umstände anzupassen.
Proaktivität wiederum ist die Fähigkeit, Visionen zu entwickeln, ohne den Realitätssinn zu verlieren, eine Langzeitperspektive einzunehmen und Strategien zu entwickeln, um diese auch gut umsetzen zu können. Viele Leute lernen diese Fähigkeit erst dann, wenn sie durch Krisen wachgerüttelt worden sind. Im Nachhinein sind viele dankbar dafür, weil sie gelernt haben, zufriedener und bescheidener zu sein – vor allem aber auch gelassener dem gegenüber, was das Leben bringen wird.
Die Ergebnisse unserer Forschung sprechen dafür, dass die vielfältigen Herausforderungen der mittleren Jahre von der Mehrheit als Chance wahrgenommen werden. So gesehen ist das mittlere Lebensalter eine wunderbare Chance, dem Leben einen neuen Sinn zu geben und die Weichen für die zweite Lebenshälfte zu stellen. Die Lebenszufriedenheitskurve geht ja dann – zumindest im statistischen Mittel – wieder bergauf.