Es hat sich herumgesprochen: Die Digitalisierung fordert und verspricht eine ganz neue Agilität, die es den Unternehmen ermöglicht, sehr viel rascher auf Kundenbedürfnisse und sich wandelnde Markterfordernisse zu reagieren. Hierarchische Befehlsketten sind dafür zu träge. Es braucht Alternativen in Form von netzwerkartigen, rollenbasierten Organisationen. Solche gibt es, und sie sind wohlerprobt. Ihr grosser «Haken»: Sie funktionieren nur, wenn jeder darin Beschäftigte willens und fähig ist, die Verantwortung für seine Rolle im Netzwerk vollständig selbst zu übernehmen. Damit sind zwei Fragen zu klären: Wollen alle Menschen Verantwortung? Wie lernt man es, Verantwortung zu übernehmen?
Eine Begriffsklärung
Bevor wir auf diese Fragen eingehen können, gilt es, ein Missverständnis aus dem Weg zu räumen. Im Zuge der Erstarkung der neoliberalen Kräfte ist es üblich geworden, «Eigenverantwortung» einzufordern. Interessanterweise ist der übliche Sprachgebrauch der, dass auf obersten Führungsebenen von Verantwortung gesprochen, von den Menschen an der Basis aber Eigenverantwortung gefordert wird. Wo zwei Begriffe so konsequent unterschiedlich gebraucht werden, können sie kaum dasselbe bedeuten. In der Tat: Verantwortung ist offenbar für Manager, sie lastet ihnen schwer auf den Schultern, und sie soll sich bitteschön eins zu eins im Bonusplan niederschlagen. Eigenverantwortung dagegen ist fürs «Fussvolk» und meint, dass die unterstellten Mitarbeiter doch wohl selbst wissen müssen, was man von ihnen erwartet – ohne, dass es noch extra zu befehlen wäre. Eigenverantwortung ist also gar nicht Verantwortung. Eigenverantwortung meint vorauseilenden Gehorsam. Das freilich ist etwas gänzlich anderes.
Verantwortung kann man nur für Entscheidungen übernehmen. Niemand muss verantworten, dass zwei und zwei vier gibt. Er muss nur richtig rechnen. Entscheide hingegen sind dadurch gekennzeichnet, dass man sie mit guten Gründen auch anders hätte fällen können. Daraus sind zwei wichtige Dinge abzuleiten: Verantwortung kann man nur erwarten, wenn man jemandem Entscheidungsspielraum gegeben hat. Und wenn man jemandem Entscheidungsspielraum gibt, so darf man nicht erwarten, dass der oder die genau so entscheidet, wie man das selbst getan hätte.
Verantwortung bedeutet daher, Rede und Antwort dafür zu stehen, was man aus welchen Gründen selbst entschieden hat. Das ist nicht zu verwechseln mit Tugenden wie Sorgfalt, Professionalität, Zuverlässigkeit, Verbindlichkeit oder Compliance. Jede berufliche Arbeit soll «lege artis» erledigt werden und jede Zusammenarbeit soll auf verlässliche Werte aufbauen können. Aber das ist nicht das, was Verantwortung meint und in agilen Organisationsformen neu gefordert wird.
Nicht jeder will Verantwortung
Nein, nicht alle Menschen wollen Verantwortung. Bevor wir daraus nun aber den voreiligen Schluss ziehen, dass es eben doch nur Führungskräfte seien, denen Verantwortung zukomme, sollten wir uns fragen, warum das so ist.
Zum einen gibt es mancherlei subjektive Gründe, die Übernahme von Verantwortung zu scheuen. Da ist die Angst vor Konsequenzen: Was, wenn die Sache schiefläuft? Oder es gibt die fast allgemeingültige Wahrnehmungsverzerrung, wonach man Erfolge sich selbst, Misserfolge aber anderen oder unglücklichen Umständen zuschreibt. Oder man bewältigt die Komplexität einer Aufgabe, indem man möglichst viel ausblendet, sodass die eigene Verantwortung überschaubar, aber eben unzulässig eingeengt gesehen wird. Oder man flieht in Gehorsam und meint, damit keine Verantwortung tragen zu müssen. Das sind verständliche Gründe, nur sind sie deswegen noch keineswegs akzeptabel. Wenn Menschen in entsprechenden Erfahrungen lernen, Verantwortung zu übernehmen, treten solche subjektiven Gründe denn auch mehr und mehr in den Hintergrund.