Mensch & Arbeit

Arbeitsmethodik

Die Entdeckung der Langsamkeit

Ein hohes Arbeitstempo ist nicht immer gleichbedeutend mit hoher Effektivität. Tempoholiker arbeiten kontraproduktiv, weil hohes Tempo Nachteile hat. Der Druck, in immer kürzerer Zeit mehr Leistung zu erbringen, führt zum schnellen Verschleiss der Ressourcen und ist auf längere Sicht gesehen wenig ratsam.
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Das Arbeitstempo in den Betrieben nimmt zu. «Normales» Arbeitstempo ist schwer messbar, und wer schneller arbeitet, kann eine bessere Beurteilung vom Vorgesetzten erwarten. Es heisst also, in immer kürzerer Zeit mehr leisten zu müssen. «Das Gras wächst nicht schneller, wenn du daran ziehst», sagt ein afrikanisches Sprichwort. Wir aber glauben, die natürlichen Grenzen der Beschleunigung ungestraft überschreiten zu können. Deshalb sagt man auch: «Mach langsam, ich habe es eilig». Hohes Arbeitstempo hat seinen Preis: grösserer Verschleiss, höhere Fehlerquote. Es ist wie beim Autofahren. Hohes Tempo verlangt mehr Konzentration, erhöht das Unfallrisiko und verbraucht mehr Sprit. Deswegen ist langsamer sicherer.

Wer mit Terminen überhäuft ist, muss mit dem Tempo zulegen. Vergabe und Annahme von Terminen sind der Grund für grössere Geschwindigkeit. Auch die häufigen Arbeitsunterbrechungen verlangen geändertes Verhalten bei der Erledigung einer Aufgabe. In der Urlaubszeit oder bei kranken Kollegen entsteht auch Hektik, denn die Arbeit der Abwesenden muss von Anwesenden geschafft werden. Aber auch die innere Ungeduld der Arbeitenden führt zur Temposteigerung.

Dass man mit Langsamkeit oft weiter kommt als mit Tempo, wusste schon Johann Peter Hebel. In seiner Geschichte «Der verachtete Rat» erzählt er, wie ein Fuhrmann auf dem Weg nach Basel einen Fussgänger fragt, ob es ihm wohl noch vor Toresschluss in die Stadt reiche. «Schwerlich, doch wenn ihr recht langsam fahrt, vielleicht. Ich will auch noch hinein», lautet die merkwürdige Antwort. Der Fuhrmann treibt also die Pferde an, damit er ganz sicher rechtzeitig ankommt. Aber die Eile fordert ihren Tribut: Die Hinterachse des Wagens bricht, der Fuhrmann muss im nächsten Dorf übernachten. Der Fussgänger, der eine Stunde später durch das Dorf geht und den Wagen erblickt, meint: «Hab ich euch nicht gewarnt, hab ich nicht gesagt: Wenn ihr langsam fahrt!».

Mittlerweile hat der Tempo-Wahn auf Besprechungen übergegriffen. Die Agenda ist voll und die Besprechungsdauer wird gekürzt. Statt ein Thema zu vertiefen, wird oberflächlich vorgegangen, es ist eben keine Zeit für die nötige Sorgfalt. Kein Wunder, dass es zu falschen Entscheidungen kommt. Auch am schnellen Redetempo erkennt man, welche Rolle die Geschwindigkeit spielt. Und beim Essen in der Kantine muss es auch schnell gehen.

Das Risiko

Tempoholiker versuchen vieles auf einmal zu erledigen. Am Bildschirm die E-Mails zu lesen und gleichzeitig einen Kollegen etwas fragen, oder gleichzeitig telefonieren. Ob man auf Dauer ein so hohes Tempo ohne Folgen übersteht? Etwa 30 Prozent aller Fehler entstehen durch übermässiges Tempo, durch mangelnde Sorgfalt. Fehlerkorrektur kostet nicht nur Zeit, sondern schafft auch Frust beim Betreffenden. Oft müssen auch nachgeordnete Stellen oder Kollegen die Fehler, die in der Eile entstanden sind, wieder ausbaden – ein weiterer Zeitverlust. Bleiben Fehler unentdeckt, kann das Konsequenzen für den Betrieb oder den Mitarbeiter haben. Entscheidungen, die im Eiltempo durchgeboxt werden, müssen nachgebessert werden und die Erkenntnis «Hätten wird uns mehr Zeit gelassen» kommt zu spät.

An den Umgang mit hohem Arbeitstempo kann man sich gewöhnen. Man entwickelt dabei sogar die Fähigkeit, bei schnellem Arbeiten gleichzeitig mehrere Dinge zu erledigen. Da bleiben Sorgfalt und Gründlichkeit auf der Strecke: essen, reden und gleichzeitig Musik hören. Von jedem ein bisschen, aber nichts richtig. Wenn man in Stosszeiten das Tempo gelegentlich erhöht, ist das Risiko begrenzt. Hohes Arbeitstempo kann das eingespielte Team vorübergehend bewältigen, dauerhaft führt es zu Konsequenzen und erhöhtem Stresspegel.

Enge Zeitvorgaben dürfen nicht zur Regel werden. Vor allem die neuen, noch nicht voll eingearbeiteten Mitarbeiter kommen mit dem Arbeitstempo nicht zurecht. Bei der Personalbeurteilung darf der etwas Langsamere nicht benachteiligt werden. Wie schnell heisst es dann «der ist aber gemütlich, braucht viel Zeit, kommt nicht voran». Gute Ideen und neue Gedanken reifen in der Ruhe und nicht bei hohem Tempo. Wenn es auf Kreativität ankommt, muss ausreichend Zeit vorhanden sein.

Der Versuch, das Tempo zu drosseln, zeigt, dass es eine Gegenbewegung gibt. Allerdings ist die Definition «Normaltempo» bei administrativen Arbeiten fast nirgendwo definiert. Während in der Fertigung, am Fliessband der Takt vorgegeben ist, fehlt in der Verwaltung noch die Erfahrung. Routinearbeiten können in kurzer Zeit erledigt werden, aussergewöhnliche Arbeiten erfordern Zeitzugaben, die zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern zu klären sind. Schnelle Ergebnisse erreicht man nur mit eingearbeiteten Mitarbeitern, höhere Geschwindigkeit ist nur unter bestimmten Voraussetzungen denkbar. Wer zwar langsamer, dafür aber effizienter arbeitet, bringt dem Unternehmen mehr als der Hektiker, der drängelt und Unruhe schafft. Wie der Autofahrer auf der Überholspur mit geringem Abstand zum Vordermann. Langsamkeit darf nicht automatisch mit Unfähigkeit, Trägheit oder Inkompetenz gleichgesetzt werden. Erst beim Nachdenken wird klar, dass Schnelligkeit mit Intelligenz und Leistungsfähigkeit nichts zu tun haben muss.

Kunden fühlen sich schnell abgefertigt, wenn Kontakte rasch durchgezogen werden. Freundlichkeit hat auch mit Geduld und mit der Hinwendung zu tun, wenn ein Mitarbeiter etwas mehr Zeit braucht, um sich aus­zudrücken. Gesprächspartner, die Geduld erfahren, fühlen sich besser und sind stärker motiviert. Hektik gehört nicht zur Unternehmenskultur, auch wenn es bei Einzelnen hektisch zugeht.

Schliesslich hängt das Arbeitstempo auch mit der Zeitplanung zusammen. Besonders wichtige Aufgaben brauchen mehr Zeit, das ist eine Frage der Planung. Dabei muss man sehr individuell planen, Prioritäten setzen und auf tägliche Veränderungen flexibel reagieren.

Unter bestimmten Bedingungen ist eine Tempoerhöhung kurzzeitig möglich. Die perfekte Beherrschung der Aufgabe, um die es geht, ist die Basis für Schnellerwerden. Innerhalb der Einarbeitungszeit darf das Tempo nicht erhöht werden. Es ist wie in der Fahrschule, wo ein Schüler in der ersten Zeit bewusst langsam fährt, um Fehler zu vermeiden. Hinzu kommt die ungestörte Atmosphäre, denn Ablenkungen sind Bremsklötze. Nur hohe Konzentration macht es möglich, etwas schneller zu werden. Ausserdem ist das Leistungshoch ein wichtiger Punkt. Wer diese wenigen Stunden nutzt, kann fehlerfrei und schnell arbeiten.

Mit dem Tempoholiker sind weitere Stress­typen verbunden, zum Beispiel: der Workaholiker und der Perfektionist. Wer es allen recht machen will, nicht Nein sagen kann und immer Aufgaben annimmt, muss auch schneller arbeiten, um das Arbeitspensum zu schaffen. Wie so oft liegt insgesamt die Wahrheit irgendwo in der Mitte. Geschwindigkeit ist nicht a priori schlecht und Langsamkeit nicht immer die Lösung. Die Kunst ist, beide Zeitformen in den jeweils angebrachten Situationen anzuwenden.