Editorial

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Meinungswechsel

Zeiten starker Veränderungen offenbaren, wie entfernt der Mensch davon ist, ein rationales Wesen zu sein. In mancherlei Hinsicht ist das auch gut so. Einfache Denkprozesse, die ohne Einbezug aller verfügbaren Informationen auf schnelle Lösungen ausgerichtet sind, sogenannte Heuristiken, waren evolutions­biologisch überlebenswichtig. Bei der Informationsflut, die auf das bedingt verarbeitungsfähige Gehirn einströmt, wäre ein sorgfältiges Abwägen aller Fakten schlicht unmöglich.

Automatismen im Denken, mentale Abkürzungen und entsprechend manifestierte Vorurteile sind allerdings auch geleitet durch verzerrte Wahrnehmungen. Diese ­kognitive Verzerrung, englisch cognitive bias, und das impulsgesteuerte Handeln ­führen dazu, unbewusst viele nachteilige Entscheidungen zu treffen. Es gibt weit über 100 dieser wissenschaftlich belegten Verzerrungen, die sich gegenseitig verstärken ­können. Ein Beispiel ist der Unterlassungseffekt. Dabei schätzt man das Risiko einer Handlung im Vergleich zum Risiko der Unterlassung deutlich höher ein, was wiederum zur Verharrung im Status quo führt. Um die Zahl fehlerhafter Entscheidungen zu ­minimieren, ist es ratsam, sich dieser kognitiven Verzerrungen bewusst zu werden. Dies gilt umso mehr, wenn Führungskräfte in einem volatilen Umfeld agieren müssen.

Auf Sicht fahren, nicht zu weit vorausplanen und bereit sein für Richtungswechsel war wohl eine gebräuchliche Devise vieler Unternehmensführer als Reaktion auf die Corona-Massnahmen. Daraus ist die deutlich stärkere Fokussierung auf eine agile Unternehmensführung entwachsen. Eine Grundlage erfolgreichen agilen Handelns ist das Zulassen von Meinungswechseln. Auch das kann allerdings durch kognitive Verzerrungen blockiert sein. «Seine Meinung zu ändern, erfordert manchmal mehr Mut, als bei seiner Ansicht zu verharren», wusste der Dramatiker Friedrich Hebbel schon vor mehr als 150 Jahren. Denn es geht weder darum, seine Fahne in den Wind vermeintlicher Mehrheiten zu hängen, noch kenntnisfrei einer Hilflosigkeit freien Lauf zu lassen, sondern vielmehr, bei einer neuen Faktenlage Perspektivwechsel einzunehmen. Der Vorwurf der Planlosigkeit besteht dann zu recht, wenn dies inflationär geschieht. Meinungswechsel sind daher gut zu begründen und transparent zu kommunizieren.

P.S.: Eine weitere Sichtweise auf das Thema Meinungswechsel lesen Sie im Blick aus der Wissenschaft, in der Ausgabe Nr. 1/2 2022.

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