Privatkunden nutzen täglich die Annehmlichkeiten der Digitalisierung: Sie buchen das Hotelzimmer beim bestbewerteten Anbieter, bestimmen beim Grossverteiler über die neuen Joghurtgeschmacksrichtungen mit. Und auch Geschäftskunden sind die neuen Möglichkeiten der Digitalisierung willkommen: Bei der anstehenden Renovation des Bürogebäudes kommt der Klimaanbieter zum Zug, der nicht nur die energetisch beste Heizung einbaut, sondern auch auf Datenbasis Betriebskosten optimiert und Reparaturausfallzeiten minimiert. Für Anbieter ist die Digitalisierung Chance und Risiko zugleich. Vielfach werden die Risiken betont: Vom digitalen Tsunami ist dann die Rede. Von der Zerstörungskraft. Die Digitalisierung lässt sich aber auch als die perfekte Welle interpretieren, auf deren Kamm sich lange und weit reiten lässt.
Kundenzentrierung als Fähigkeit der Unternehmung
Kundenzentrierung als Erfolgsfaktor akzentuiert sich einmal mehr in der Digitalisierung. Zugleich wird deutlich, dass in der Vuca-Welt Kundenzentrierung kein einmalig erreichbarer Zustand mehr sein kann. Denn hohes Veränderungstempo, Komplexität, Unsicherheit und Mehrdeutigkeiten lassen ein Ausruhen auf dem Erreichten nicht zu. Vielmehr sollte Kundenzentrierung heute als Fähigkeit interpretiert werden. Die Fähigkeit der Unternehmung, immer wieder aufs Neue für ihre Kunden wertschöpfende Produkte und Leistungen zu erbringen – im Idealfall mit den neuen digitalen Möglichkeiten sogar neue Bedürfnisse zu schaffen, um damit die Kundenbeziehung zu stärken und dauerhaft erfolgreich zu sein. Auch ein Surfer steht niemals dauerhaft auf dem Brett. Es gilt immer, die nächste Welle zu finden, anzuschwimmen und dann auszureiten. Die Fähigkeit der Kundenzentrierung besteht aus zehn Treibern, die man gezielt trainieren kann. Sie greifen in der Unternehmung ineinander und verstärken sich gegenseitig. Wie beim Surfer, der mit jeder neuen Welle in jedem Moment die Balance, die Richtung und den richtigen Winkel für optimale Schubkraft finden muss. Die zehn Treiber der Kundenzentrierung sind:
- Zukunftsorientiert führen
- Stets seinen Kunden zuhören, messen, lernen
- Szenarien entwickeln und bewerten
- Sich markenspezifisch selbstbewusst verhalten
- Infrastruktur adaptierbar einrichten
- Produkte und Leistungen konsistent erbringen
- Selbstorganisiert zusammenarbeiten
- Mitarbeitende laufend weiterentwickeln
- Agile Routinen nutzen
- Integriert gegen aussen und innen kommunizieren
Der richtige Trainingsplan ist entscheidend
Die zehn Treiber greifen ineinander. Sie müssen aber nicht alle gleichzeitig entwickelt werden. Dies wäre ein Transformationsprozess «alter Schule»: schwerfällig und langwierig. Und damit der Vuca-Welt nicht angemessen. Vielmehr kann Kundenzentrierung agil entwickelt werden. Zu Beginn analysiert ein Assessment, welche Fragestellungen und Herausforderungen die Unternehmung zur Kundenzentrierung hat. Hat sie schon länger kein wirklich erfolgreiches Produkt mehr lanciert? Gibt es einen Kundenprozess, der den Kundenbedürfnissen nicht so gut entspricht? Soll der Vertrieb mit der Nutzung von Kundendaten erfolgreicher gemacht werden? Sollen die Kunden besser mit relevanten Botschaften angesprochen werden? Für das Pilotprojekt wird die Fragestellung ausgewählt, mit der die Unternehmung rasch einen konkreten Nutzen generieren kann und gleichzeitig eine oder mehrere Komponenten der Kundenzentrierung trainiert. Das Pilotprojekt läuft immer auf zwei Ebenen ab:
Ebene 1:
Auf Ebene 1 wird Kundenzentrierung in der Leistung, im «Was», trainiert. Ein Produkt, Service oder Kundenprozess wird (weiter-)entwickelt. Agil, in raschen Iterationen. Unter konsequenter Einbindung der Kunden. In der Abfolge von Konzept, Prototyp (dem «Minimum Viable Product»), Kundentests, Datenauswertungen und Weiterentwicklungen. Resultat auf der Ebene 1 ist eine Leistung, die eng am Kundenbedürfnis erbracht wird. Die den Kunden also eine hohe Wertschöpfung erbringt. Und dadurch die Kundenbeziehung festigt. Der Nutzen kann mit den KPI (Key Performance Indicators) Net Promoter Score (NPS) oder Produktumsatz nachgewiesen werden.
Ebene 2:
Auf Ebene 2 wird die Kundenzentrierung im «Wie» trainiert: in der agilen und kundenzentrierten Funktionsweise und Optimierung der Organisation. Ein Pilotprojekt startet mit einer Mindestausstattung von Struktur, Prozessen, Teammitgliedern, Messgrössen und Hilfsmitteln (dem «Minimum Viable Operating Model», MVOM). Das Team setzt die Leistungsentwicklung auf Ebene 1 um und reflektiert währenddessen in regelmässigen Retrospektiven systematisch seine Erfahrungen mit dem MVOM: Was hat funktioniert, was muss weiterentwickelt werden, was braucht es zusätzlich, was kann man weglassen? Und es setzt diese Anpassungen konsequent um. Resultat der Ebene 2 ist eine in Grundzügen etablierte agile, kundenzentrierte Organisation, die die Entwicklung und Erbringung der Leistung eng am Kundenbedürfnis ermöglicht. Mit diesem agilen Vorgehen wird gleichzeitig systematisch die eigene Wirksamkeit hinterfragt und die eigene Funktionsweise entlang der jeweils gemachten Erfahrungen stetig verbessert. Der Nutzennachweis ist abhängig von den eingesetzten agilen Verfahren und Anwendungsgebieten. Die prominentesten, «Scrum» und «Kanban», stammen aus der Software-Entwicklung respektive der Produktion. Hier existieren anerkannte quantitative KPI, die für andere Zusammenhänge zwingend hinterfragt und adaptiert werden müssen. In jedem Fall geben qualitative Indikatoren Auskunft über den Fortschritt, zum Beispiel höhere Mitarbeiterzufriedenheit, positivere Vorgesetztenbewertung, spürbar grösseres Wissen über Zusammenhänge, Wechselwirkungen und Schnittstellen in der Organisation.
Die Fähigkeit dauerhaft etablieren
Das beschriebene Verfahren hilft, die Kundenzentrierung als Fähigkeit in der Unternehmung zu verankern. Dabei wird schrittweise die gesamte Organisation an den Bedürfnissen der Kunden ausgerichtet, ohne die eigene Werthaltung preiszugeben. Um diese Ausrichtung in der Vuca-Welt immer wieder aufs Neue zu erreichen, müssen die Mitglieder der Unternehmung sich jeweils auf maximale Wirksamkeit im Sinne der Kundenzentrierung hinterfragen und nachjustieren. Wenn sie das konsequent und systematisch tun, so steigt die Wahrscheinlichkeit, nicht nur die digitale Welle erfolgreich reiten zu können, sondern auch jede nächste Welle, die kommen mag.
Dr. Simone Maier Begré ist Director Organisational Design Consulting beim Brand Leadership Circle. simone.maier@brandleadership.ch, www.brandleadership.ch