Kommentar & Meinung

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Mit «Workocracy» ins neue Arbeitszeitalter

Die traditionellen Arbeitsmodelle werden den heutigen Anforderungen nicht mehr gerecht, denn sowohl die Ansprüche der Mitarbeiter an das Arbeitsumfeld als auch die des Arbeitgebers an die Mitarbeiter haben sich geändert.
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Gemäss Studien beschränkt sich die produktive Zeit auf drei bis fünf Stunden täglich, trotzdem sitzt der Grossteil der Arbeitenden jeden Tag acht bis neun Stunden im Büro. Insgesamt betrachtet ist Arbeiten somit zu einem gewissen Grad Zeitverschwendung. Vielerorts, auch in der Finanzbranche, wird physische Präsenz noch immer zu hoch bewertet: Wer viel Präsenz zeigt, wird eher befördert. Und so wurden auch moderne Arbeitsmodelle bisher mit Skepsis betrachtet. 

Auch in unserem Unternehmen wurde in der Vergangenheit zum Beispiel Homeoffice eher als Ausnahme gesehen und nur in speziellen Fällen gewährt. Sich selbst organisierende Teams oder gar mehr als fünf Wochen Ferien, sprich Ferien nach Bedarf, wurden bisher nicht thematisiert. Doch dann kam der mit dem Corona-Virus verbundene Lockdown und stellte neue Anforde­rungen an Arbeitsplatzmodelle. Ende März 2020 war die halbe Schweiz im Homeoffice. Inzwischen besteht Homeoffice-Pflicht für Schweizer Unternehmen – das gilt natürlich auch für unsere Mitarbeiter. Für uns ist dies der passende Zeitpunkt, das bereits im vergangenen Jahr eingeführte neue Arbeitsmodell nochmals um ein Wesentliches flexibler zu gestalten: eigenständige Einteilung von Arbeitszeiten und -orten sowie Urlaub nach eigenem Ermessen.

Anfängliche Skepsis schnell verflogen 
Die Bedenken, die zum Teil mit Start des Lockdowns noch vorhanden waren, haben sich auch bei uns schnell als unbegründet erwiesen. Auch von zu Hause aus arbeiteten unsere Mitarbeiter hoch motiviert, Qualitätseinbussen gab es nicht zu verzeichnen. Und dies, obwohl die Arbeits­bedingungen bei vielen erschwert waren. Sei es durch Kinder, die ein Tages- beziehungsweise Schulprogramm benötigten, oder durch den Umstand, ganz allein von zu Hause aus zu arbeiten. Bei der schnellen und problemlosen Umstellung ins Homeoffice kam uns zugute, dass ein vollständig virtueller Arbeitsplatz schon vor der Zeit des Lockdowns Realität war. Für die Mitarbeiter ging es im März 2020 primär darum, sich zu Hause einen gemütlichen, funktionierenden Arbeitsplatz einzurichten und mit den neuen Gegebenheiten zurechtzukommen. 

Die guten Erfahrungen dieser Zeit decken sich mit jenen, die ich bei früheren Arbeitgebern gemacht habe: Homeoffice, flexible Arbeitszeiten und andere moderne Arbeitsmodelle erhöhen die Effizienz. Wenn keine Stunden mehr abgesessen werden müssen, steigen Einsatzbereitschaft und Identifikation mit dem Unternehmen, was ebenfalls einen positiven Einfluss auf die Qualität der Arbeit hat. Mein damaliges Team bestand zu 80 Prozent aus Frauen, die ständig Familie und Karriere jonglieren mussten. Das Modell der freien Arbeitszeitwahl erhöhte nicht nur massiv ihre Einsatzbereitschaft, sondern auch die Qualität der Arbeit. Die Effizienz wurde auf ein höheres Level gehoben mit dem Nebeneffekt, dass auch Krankheitstage oder andere Ausfalltage drastisch zurückgingen. 

Teammitglieder bestimmen
Es sind dieselben Erkenntnisse, die das Zwangsexperiment im Jahr 2020 geliefert hat: Die Zukunft gehört flexiblen Arbeitsmodellen. Freiheit und Vertrauen verdrängen Zeitabsitzen und Kontrolle. Doch angesichts der guten Nachrichten 
bezüglich Corona-Impfung ist absehbar, dass die Home­office-Massnahmen für manches Un­ternehmen nicht ewig gelten werden. 

Und dennoch haben wir uns nach dem Ende des Frühlings-Lockdowns dazu entschieden, dass wir nicht zum «Nine-to-Five-Modell» als Business as usual zurückkehren. Im Gegenteil: Die guten Erfahrungen der letzten Monate haben uns in der Absicht bestärkt, unser Arbeitsmodell von Grund auf umzustellen; und das nach 20 Jahren Firmengeschichte. Das entsprechende Projekt «Workocracy» (Work und Democracy) wird bereits seit Anfang Oktober in den europäischen Units um­gesetzt.

«Workocracy» ist wörtlich zu verstehen, sprich: wann, wo, wie – und wie viel – gearbeitet wird, bestimmten die Teammitglieder demokratisch und in Absprache untereinander. Dies umfasst die Soll-Arbeitsstunden, Gleitzeitenregelung, Arbeitsort und sogar die Anzahl der Ferienwochen. Im Zentrum steht die einwandfreie Erfüllung des Auftrags, nicht die Art und Weise, wie es geschieht. Was uns trotzdem wichtig ist: Das gesamte Team trifft sich während des Lockdowns virtuell, ansonsten einmal pro Woche im Büro, dies, um weiterhin den Teamgeist und das Zusammengehörigkeitsgefühl zu fördern. 

Die Voraussetzungen
Damit ein Modell mit derart vielen Freiheiten funktionieren kann, müssen gewisse Voraussetzungen erfüllt sein. An erster Stelle steht Vertrauen. Einerseits muss das Management in die Mitarbeiter das nötige Vertrauen setzen und andererseits davon ausgehen können, dass alle an einem Strick ziehen und dass die gewährten Freiheiten nicht ausgenutzt werden. An zweiter Stelle folgen Kommunikation und die Kommu­nikationsfähigkeit des Managements mit dem Team und der Teammitglieder untereinander. Nur wenn sich alle gerecht behandelt fühlen, profitieren auch alle und können somit ihr volles Potenzial ausschöpfen.

Falls der Eindruck bei einem Teammitglied entsteht, es arbeite mehr als die anderen, ist dies ein wichtiger Punkt, der umgehend besprochen werden muss. Wenn etwas mal nicht «rund läuft», wird dies im Optimalfall offen von jedem angesprochen. Aus der Praxis wissen wir jedoch, dass sich Menschen hierbei unterschiedlich verhalten. Es gilt also, aufeinander zu achten. Von Natur aus kommunikativere Teammitglieder sollten für weniger extrovertierte Kollegen in die Bresche springen und Unstimmigkeiten ansprechen. Eine besondere Rolle kommt dabei uns Führungskräften zu. Wir müssen den Überblick behalten und korrigierend eingreifen, wenn sich das Team in die falsche Richtung bewegt. Dazu braucht es verschiedene Fähigkeiten: Empathie, hohe Kommunikationsfähigkeit und nicht zuletzt Qualitäten in Konfliktmanagement. «Open-Door- und -Ohr-Politik» darf nicht nur eine Phrase sein.

Die ersten Erfahrungen des Projekts «Workocracy» sind äusserst vielversprechend. Wir haben das Ziel, das neue Arbeitsmodell bis Ende 2021 vorerst auf die europäischen Units zu beschränken, dann planen wir jedoch, dieses global aus­zurollen.