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Interview mit Nicolas Bürer

«Wir besitzen keine Rohstoffe, aber unsere Gehirne, Talente und Geld»

Nicolas Bürer, Geschäftsführer des Vereins Digitalswitzerland, über das digitale Potenzial in der Schweiz, die Abhängigkeiten von internationalen Firmen und das Problem der digitalen Sicherheit.

Digitalswitzerland versteht sich nach eigenen An­gaben als «schweizweite, sektorübergreifende Ini­tiative, die das Ziel verfolgt, die Schweiz als führenden internationalen Standort für digitale Innovation zu stärken und zu festigen». Herr Bürer, zunächst die Frage: Wer kam auf die Idee, dieses hehre Ziel mit der Gründung eines Vereins zu verfolgen?
Die Idee hatte Marc Walder, der CEO von Ringier. In der Medienlandschaft wurde damals oft das Thema digitale Dis­ruption behandelt. Marc Walder hatte den Eindruck, dass die Schweiz diese verschläft und dass man einen Motivationsschub braucht, um das zu ändern. Deswegen hat er 2015 den Verein Digital Zürich 2025 gegründet, der schon nach einem Jahr in Digitalswitzerland umbenannt wurde.
 
Warum der englische Name und nicht eine Bezeichnung in den Landessprachen?
Bürer: Der Name «Digital suisse» wird von einem anderen Verein benutzt. Die Bezeichnung «Switzerland» wird international akzeptiert, auch in der Schweiz.
 
Arbeiten Sie auch mit internationalen Vereinen zusammen?
Vor zwei Jahren begannen wir damit, uns international zu engagieren, aber die Schwerpunkte sind immer noch Projekte in der Schweiz. Weltführend in der Digitalisierung sind immer noch die USA und China, zu den weiteren Spitzenländern zählen im Moment Grossbritannien, Deutschland, Frankreich, Skandinavien oder Singapur – die Schweiz kann in absehbarer Zeit dazugehören.
 
Was müsste man in der Schweiz unternehmen, um auch auf dieses Niveau zu kommen? Es gibt Fachleute, die der Überzeugung sind, die Schweiz könnte welt­führend sein.
Das Ziel, umfassend weltführend zu sein, wäre unrealistisch. Aber wir besitzen das Potenzial, in sechs bis zehn Themen­feldern eine Spitzenposition innerhalb der weltweiten Kon­kurrenz zu ent­wickeln. Wir haben das ja vor gut hundert Jahren auch schon geschafft, zum Beispiel mit Chemie oder der Uhrenin­dustrie. Das erreichen wir auch mit der Digita­lisierung.
 
Auf welchen Gebieten kann die Schweiz sich beispielsweise spezialisieren?
Ein wichtiges Thema ist die digitale Dezentralisierung, zum Beispiel bei der Datenspeicherung. Heute ist diese sehr zentral, sodass unerlaubter Zugang zu anderen Daten relativ einfach ist. Sind Daten dezentral gespeichert, erhöht das die Sicherheit; der Zugriff wird für Unbefugte schwierig. Spionage auf staatlicher oder privater Ebene wäre dann kaum mehr möglich. In einigen Staaten verarbeitet man alle Daten auf staatlichen Servern und die Bürger werden sogar per Kamera aus­spioniert. Das hat nichts mehr mit Demokratie zu tun und verletzt die Souveränität der Bürger, indem der Staat Zugriff zu Informationen über das Privatleben der Einwohner erhält. Solche Tendenzen sind eine riesige Herausforderung.
 
Ein Beispiel sind Corona-Impfpässe, mit denen man Gesundheitsdaten, die traditionell als sensible Daten gelten, überall bekannt geben kann oder sogar dazu verpflichtet wird. Wie sehen Sie das?
Dabei geht es nur um einzelne Informationen, und in solchen Situationen ist eine Abwägung zwischen Nutzen und Eingriff in die Privatsphäre erforderlich. Der Trend Datenkontrolle versus Bürgersouveränität verläuft immer in Wellen, in Krisenzeiten ist man kompromissbereit. Wenn diese Corona-Geschichte in ein paar Jahren vorbei ist, werden die Leute eventuell nicht mehr so viele Kompromisse machen.

Die Jugend ist gewohnt, private Daten zu publizieren, die bei Tik Tok in der chinesischen Diktatur ver­breitet werden. Wie könnte man erreichen, dass sie in Europa bleiben?
Im Moment sind die meisten sozialen Netzwerke in den USA und China, Europa spielt leider noch keine grosse Rolle als Heimat von solchen Social-Media-Firmen. Netzwerke wie Tik Tok haben mehr psychologische Macht als viele Staaten. Wir arbeiten in der Schweiz schon lange mit chinesischer Infrastruktur, diese ist in China ausgezeichnet. Die Teilnahme an sozialen Medien ist freiwillig, da entscheidet jeder selber, was er einstellt. Vorbehalten bleiben natürlich die unfreiwilligen Publikationen über eine Person, das ist unangenehm und in vielen Fällen strafbar. Datensouveränität ist auch eine der grossen Herausforderungen.
 
Der Bund hat einen Grossauftrag in der Höhe von 110 Millionen Franken an amerikanische Firmen sowie den chinesischen Anbieter Alibaba vergeben. Was halten Sie davon?
Es wäre utopisch und nicht realistisch, wenn wir glauben, ohne die grossen internationalen Firmen wie Microsoft, IBM usw. auszukommen. Wir brauchen aber die hundertprozentige Garantie dieser Unternehmen, dass die Daten in Europa beziehungsweise in der Schweiz bleiben und nicht missbraucht werden.
 
Wie kann man das kontrollieren?
Im Prinzip kaum. Vertrauen ist im digitalen Zeitalter ein wichtiges Element. 
 
Was bauen wir in Europa und speziell in der Schweiz selber auf, um unabhängig von der Infrastruktur der Grossmächte zu werden?
Dieses Ziel wird schon lange nicht nur für die Schweiz, sondern für ganz Europa angestrebt. Es gibt europäische Projekte, zum Beispiel Gaia-X. Dabei handelt es sich um einen Standard für ein Cloud-Infrastruktur-Ökosystem in Europa. Ziel der Gaia-X-­Initiative ist es, Unternehmen und Bürgern Datensouveränität zu ermöglichen und gleichzeitig den Komfort und die Innovationskraft der Cloud zu nutzen.

Gibt es in der Schweiz Entwicklungen, mit denen wir an der Weltspitze stehen, zum Beispiel bei der Quantencomputertechnik?
Diese gehört zu den Spezialitäten der Schweiz. In den nächsten fünf bis zehn Jahren werden wir führend in der Quantencomputertechnik sein, zum Beispiel für Forschung. Wir werden sehen, für welche Einsatzgebiete das zusätzlich möglich ist. Wir besitzen aber andere Perlen. Der drittgrösste Supercomputer der Welt steht im Moment in Lugano im Swiss National Supercomputer Center (www.cscs.ch). Ein wichtiges Kriterium sind dabei die Rechnungsvorgänge pro Sekunde. In der Schweiz ist die Verschmelzung von Hardware und Software weit entwickelt. Wir verfügen über eine sehr gute Hardware-Industrie, auch in Bezug auf Roboter und Server, dazu gibt es in der Schweiz führende Data-Center. Weiter wurden in der Digitalbranche erstklassige Start-ups gegründet, die sicher die Schweiz nach vorne bringen werden.

 
Welchen Stand haben diese Entwicklungen; wann gibt es beispielweise bezahlbare Haushaltroboter? Das würde vor allem alten Leuten das Leben sicher sehr erleichtern.
Heute sind schon gute Staubsaugerroboter erhältlich und es ist zu erwarten, dass Haushaltroboter in den nächsten Jahren viel mehr leisten können, zum Beispiel Wäsche erledigen und den Abfall entsorgen. Für solche Geräte muss man die Balance finden zwischen Nutzen, Preis und Risiken. Alexa zum Beispiel kann die Gespräche der Privatkunden aufzeichnen, das ist für viele Menschen schon ziemlich intrusiv. Durch die Aufzeichnungen der Fitnessuhren können Google und andere Unternehmen mehr über unsere Gesundheit erfahren als wir selber oder unser Hausarzt. Auch die Handys registrieren einiges über uns, sie kennen zum Beispiel unseren Aufenthaltsort.

Wie hat sich die Corona-Pandemie auf die Digital­branche ausgewirkt?
Corona ist zwar eine tragische Pandemie, aber digitale Innovationen wurden trotzdem dadurch gefördert. In der Schweiz haben wir einige Problemlösungen im ökonomischen System entwickelt. Unser Verein hat das Ziel, dass die Schweiz nicht nur in Forschung und Industrie an erster Stelle steht, sondern dass auch die Bevölkerung miteinbezogen wird. Diese informieren wir zum Beispiel über versteckte Risiken. Jährlich organisieren wird den Swiss Digital Day, letztes Jahr hatten wir mehr als 80 000 Teilnehmer. Der nächste Swiss Digital Day findet am 10. November 2021 statt. (www.digitaltage.swiss)
 
Datensicherheit wird seit Jahren von vielen Unter­nehmen vernachlässigt. Was unternimmt man in der Schweiz dagegen?
Das Risiko der Spionage ist ein unschöner Aspekt der Digitali­sierung. Für viele Unternehmen verursacht das hohe Kosten. Es besteht geradezu ein Kriegszustand, weil die Hacker viele Daten steuern und die organisierte Cyberkriminalität in den nächsten Jahren stark wachsen wird. Die Schweiz betreibt Forschungen auf dem Gebiet der digitalen Sicherheit, da könnten wir bald zu den Top Ten gehören.
 
Erfüllt das Bildungssystem der Schweiz die notwen­digen Anforderungen?
Wir haben das beste Bildungssystem der Welt. Vor allem das duale System mit dem Weiterbildungsangebot ist unschlagbar. Dazu verfügen wir über eine sehr gute Infrastruktur, um das innovativste Land in der Welt zu sein und zu bleiben. Wir besitzen zwar keine Rohstoffe, aber dafür unsere Gehirne, Talente und Geld.

Welche Entwicklungen sind in den nächsten fünf Jahren zu erwarten?
Es wird Erleichterungen des Privatlebens geben, wie schon erwähnt, der Haushaltroboter oder selbstfahrende Autos. Dazu werden Nutzer und Hersteller abwägen zwischen Nutzen und Risiken. Was gut ist, wird sich weiterentwickeln, was schlecht ist, verschwinden. Das war schon immer so und in Zukunft wird es auch so sein. Unter anderem hoffe ich sehr, dass die digitale Entwicklung dem Klimaschutz zugutekommen wird. Beispielsweise entwickelt man neue Techniken, um den CO₂-Ausstoss zu berechnen und stark zu reduzieren.
 
Umweltmanagement ist mehr als Klimaschutz, das beginnt bei der Produkteplanung und hört beim Recycling auf. Wird die digitale Entwicklung entsprechende Analysen ermöglichen und die weltweite Verbreitung der Umwelttechnik fördern?

Zu diesem Zweck kann die digitale Technik Systeme und die Infrastruktur entwickeln. Beispielsweise über Wertschöpfungsketten kann man Daten heute umfassend sammeln, und das erleichtert die Analysen. Auch Katastrophenschutz und andere Sicherheitsmassnahmen lassen sich mit einer reichhaltigen Datensammlung besser organisieren, sodass es weniger Unfälle und Tote geben wird. Aber mit den Computern lassen sich nur die Datengrundlagen zusammenstellen. Der Mensch als intelligentes Wesen muss entscheiden, was er damit anfängt. Viele Schadenfälle beruhen immer noch auf menschlichem Versagen.

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