Herr Dr. Ilic, mit ihrem im Jahr 2020 gegründeten AI Center möchte die ETH Zürich die Forschung im Bereich künstlicher Intelligenz bündeln. Interdisziplinäre Teams sollen die Erforschung dieser Schlüsseltechnologie vorantreiben. Auf welche Forschungsgebiete setzen Sie schwerpunktmässig, und wo sehen Sie vielleicht noch weisse Flecken?
Am ETH AI Center treiben wir systematisch die Zusammenarbeit über Fachbereichsgrenzen hinweg voran. Wir sind überzeugt, dass gerade an den Schnittstellen zwischen den Disziplinen ein riesiges Potenzial besteht, entscheidende Fortschritte zu erzielen. Zum Beispiel war die Frage, in welche Form sich Proteine falten, lange eine der grössten Herausforderungen in der Biologie. Die dreidimensionalen Strukturen der Proteine – und damit auch deren Funktion – liessen sich nur unter grossem Aufwand modellieren und vorhersagen. Das hat sich unlängst geändert: Das KI-Start-up Deepmind, das zu Googles Mutterkonzern Alphabet gehört, hat eine künstliche Intelligenz entwickelt, die diese Strukturen ausserordentlich präzise vorhersagen kann. Für die Forschung am ETH AI Center haben wir zehn zentrale Bereiche definiert, in denen wir die Weiterentwicklung von Methoden und Anwendungen vorantreiben wollen. Bei einigen stehen der Mensch und seine Gesundheit im Mittelpunkt, bei anderen Themen aus Umwelt und Nachhaltigkeit. Wir haben Schnittmengen mit den Sozial- und Geisteswissenschaften genauso wie mit verschiedenen Ingenieursdisziplinen. Damit spannen wir einen Bogen über weite Teile der Forschung an der ETH.
Wie hat sich das AI Center seit seiner Gründung entwickelt?
Wir sind stark gewachsen; inzwischen sind alle 16 Departemente der ETH Zürich beteiligt. Die Zusammenarbeit über die Fachgrenzen hinweg fördern wir durch unsere Fellows – das sind Doktorierende, die zwei Professuren unterschiedlicher Departemente gleichermassen zugeteilt sind, ihren Arbeitsplatz aber am ETH AI Center haben, wo sie sich ständig mit anderen Fellows austauschen. Und im September beginnt bereits ein zweiter Jahrgang von Fellows sein Doktorat am ETH AI Center. Darüber hinaus haben wir mehr als 20 Unternehmen für eine Industriepartnerschaft mit dem ETH AI Center gewonnen. Darunter sind Grössen wie Viseca, EY oder Zalando. Mit Zalando arbeiten wir zum Beispiel an einer «virtuellen Umkleidekabine». Aber auch weniger bekannte und deutlich kleinere Unternehmen sind am ETH AI Center angegliedert.
Ein weiterer Grundpfeiler unserer Arbeit ist die Unterstützung von jungen Teams bei der Ausgründung ihrer Start-ups. Ethon AI etwa, gegründet von Bernhard Kratzwald und Julian Senoner. Die beiden haben ihr Produkt während ihres Doktorats entwickelt. Die Applikationen von Ethon AI erleichtern die Qualitätskontrolle in der industriellen Fertigung; sie sorgen dafür, dass Produktionsfehler frühzeitig erkannt und effizient vermieden werden. Vor Kurzem haben die beiden Gründer in einer ersten Pre-Seed-Runde die Weiterfinanzierung ihres Start-ups sichergestellt. Ethon AI ist nun ein affiliated Start-up des ETH AI Centers und arbeitet weiterhin eng dem Center zusammen.
Was ist Ihnen in Ihrer Rolle als Geschäftsführer des Zentrums besonders wichtig, was möchten Sie besonders vorantreiben?
Wir haben mit dem ETH AI Center eine grosse Chance, Toptalente aus aller Welt an die ETH zu holen und durch deren Arbeit neue, interdisziplinäre Ansätze in der Forschung anzustossen. Durch die enge Vernetzung mit Industriepartnern und Start-ups eröffnen wir den jungen Talenten zugleich attraktive Karrierepfade, sei es in der Forschung, in der Industrie oder indem sie ein eigenes Unternehmen gründen.
Die ETH Zürich ist bereits seit längerer Zeit in der KI-Forschung engagiert. Warum kommt die Institutsgründung gerade jetzt?
In der Tat ist die ETH bereits seit Jahrzehnten aktiv in der KI-Forschung. Bisher fand diese aber etwas fragmentiert und wenig vernetzt in verschiedenen Departements statt. Mit dem ETH AI Center haben wir einen gemeinsamen Hub ins Leben gerufen, der einerseits den Austausch zwischen den bereits etablierten KI-Forschenden erleichtert und andererseits ganz neue Kollaborationen ermöglicht.
Auf europäischer Ebene existiert das KI-Netzwerk «Ellis». Die ETH ist hier Gründungsmitglied. Was steckt dahinter und wie ist die Verbindung zum AI Center?
Uns ist es wichtig, das Thema KI und seine Auswirkungen nicht in Isolation zu betrachten. Für uns steht Vernetzung und Austausch im Zentrum. Nur gemeinsam können wir die Anwendung künstlicher Intelligenz verantwortungsvoll, sinnstiftend und europäischen Werten entsprechend gestalten.
Kommen wir zur künstlichen Intelligenz auf inhaltlicher Ebene. Zunächst vielleicht die Frage: Wie würden Sie KI erklärend beschreiben?
Es gibt unterschiedliche Perspektiven darauf, was genau ein künstlich intelligentes System ist. Generell meint man damit ein System, das «menschenähnlich» Aufgaben erledigen kann. Also Aufgaben, für die logisches Denken notwendig ist, das Erkennen von Mustern oder Sinnzusammenhängen oder das Klassifizieren von Objekten.
Maschinelles Lernen und die Anwendung von KI nehmen deutlich zu, damit auch deren Komplexität. Wie lässt sich da der Überblick bewahren? Gibt es abrufbare Dokumentationen, etwa über praktische Anwendungen und Reifegrade?
Mittlerweile ist es Forschenden und Anwendern wichtig, die KI-Systeme nicht mehr als Blackbox zu akzeptieren, sondern zu verstehen, was die Systeme gelernt haben und wo sie vielleicht Fehler gemacht haben. Dafür werden fortlaufend neue Werkzeuge und Lösungen entwickelt. In diesem Sinne bewegt sich das Feld gerade stark in Richtung Robustheit, Fairness und Erklärbarkeit selbstlernender Algorithmen.
Was ist eigentlich die Triebfeder für die gewaltigen Sprünge bei der Entwicklung und Anwendung von KI?
Einerseits sicher der technische Fortschritt bei der Rechenleistung, der die Bearbeitung immer umfangreicherer Datensätze ermöglicht. Vor allem aber haben viele Anwendungen die Leute begeistert. Die Erfolge von Firmen wie Deepmind und lebensnahe Anwendungen wie die von IBMs Watson haben viel dazu beigetragen, KI in der Öffentlichkeit sichtbar zu machen.
Stichwort «Machine Learning», also lernende Algorithmen, die ähnlich wie der Mensch aus einer grossen Zahl von Beispielfällen lernen und eine allgemeine Regel abstrahieren. Wie weit ist dies bereits in der Praxis vorhanden, können Sie Beispiele nennen?
Machine Learning ist schon längst ubiquitär. Nehmen Sie zum Beispiel die Methoden der automatischen Bilderkennung, die Robotern und selbstfahrenden Autos erlaubt, unfallfrei voranzukommen. Vergleichbare Methoden sind am Werk, wenn Ihr Handy selbstständig Gesichter auf Ihren Fotos erkennt und diese Personen zuordnet. Ein weiteres Beispiel ist die natürliche Sprachverarbeitung (Natural Language Processing). Diese steckt in den Übersetzungsdiensten Google Translate und Deepl, in den Sprachassistenten Siri und Alexa. Und das ist erst der Anfang. Inzwischen können Sie sogar eine App nutzen, um sich per Machine Learning und künstliche Intelligenz einen für Sie passenden Wein empfehlen zu lassen.