Herr Kipfer, auch wenn künstliche Intelligenz noch in den Kinderschuhen zu stecken scheint, ist KI eigentlich schon nichts Neues mehr. Warum soll sie gerade jetzt so entscheidend sein?
Wir befinden in uns nach wie vor in einer aussergewöhnlichen Lage. Viele Wirtschaftszweige sehen sich mit unsicheren wirtschaftlichen Perspektiven konfrontiert. Der Sommer ist nun überstanden, aber was jetzt kommt und welche wirtschaftlichen Auswirkungen diese unvorhersehbaren Entwicklungen haben werden, ist schwer zu sagen. Gerade in Krisenzeiten, in denen Wirtschaft und Gesellschaft mit der wohl grössten Planungsunsicherheit in der jüngeren Zeit konfrontiert sind, will sichergestellt sein, dass alle zur Verfügung stehenden Mittel optimal genutzt werden, um möglichst stabil als auch agil durch die Krise zu kommen. Und wie jede Krise ist auch diese Krise eine Chance – eine Chance, sich so gut wie möglich zu wappnen für eine unsichere Zukunft und dafür alle vorhandenen Möglichkeiten zu nutzen, um sich bestmöglich vorzubereiten. Die optimale Nutzung künstlicher Intelligenz kann dabei eine wichtige, wenn nicht sogar wettbewerbsentscheidende Rolle spielen.
Bleiben wir noch kurz in der Gegenwart. Um KI optimal nutzen zu können, benötigt es doch vermutlich erst einmal ein Grundwissen, welche Nutzungsmöglichkeiten für das individuelle Unternehmen sinnvoll sind. Wie würden Sie den Durchdringungsgrad von KI in Schweizer Unternehmen, speziell KMU, einschätzen? Gibt es eventuell Nachholbedarf?
Eine 2019 veröffentlichte PwC-Studie zeigte, dass 85 Prozent der CEOs weltweit erwarten, dass KI ihre Aktivitäten in den nächsten fünf Jahren radikal verändern wird; die Schweizer CEOs hingegen waren noch immer vorsichtig, und rund 23 Prozent von ihnen gaben an, dass sie davon ausgehen, dass KI keinen Einfluss auf ihre Geschäftstätigkeiten habe. Weniger als zehn Prozent gaben an, KI in ihrem Unternehmen zu haben. Dafür gibt es viele Gründe. Einige Schweizer Unternehmen hatten in den letzten Jahren andere Prioritäten, wie zum Beispiel den starken Schweizer Franken. Darüber hinaus haben einige Unternehmen Vorbehalte gegenüber der Technologie in Bezug auf die Leistung oder stehen der Automatisierung kritisch gegenüber. Ein wichtiges Element ist die Datenverarbeitung und -verfügbarkeit. Je umfangreicher die verfügbaren Daten sind, desto mehr können KI-Systeme lernen. Auch öffentliche Fördermassnahmen spielen eine wichtige Rolle. Dazu gehören klare rechtliche Rahmenbedingungen und die Förderung von Forschung. Im Vergleich zu anderen Ländern verfügt die Schweiz trotz guter Rahmenbedingungen noch nicht über eine KI-Strategie auf Bundesebene. Viele Unternehmen in der DACH-Region betreiben vor allem aus Angst vor Cyber-Angriffen keine vollständige digitale Transformation. Als weitere Haupthindernisse werden die Kosten, der Mangel an verfügbarem Know-how und der Mangel an qualifiziertem Personal genannt. Das gegenwärtige Umfeld führt jedoch zu einem Mentalitätswandel. Dieser Trend beschleunigte die digitale Transformation in der Schweiz und schuf gleichzeitig die Notwendigkeit, sich mit den zusätzlichen Cybersicherheitsrisiken auseinanderzusetzen, die mit der Arbeit an entfernten Standorten in allen Unternehmen verbunden sind.
In welchen Bereichen findet KI vor allem Anwendung, wo liegen noch ungeschöpfte Potenziale?
Künstliche Intelligenz dringt rasch in alle Wirtschaftszweige vor und zieht alle Unternehmen an, vom KMU bis zu multinationalen Konzernen. Im Gesundheitswesen beispielsweise steht KI hinter vielen neuen Produkten. Mit KI können klinische Entscheidungen quantitativer und genauer getroffen werden. KI ermöglicht auch eine vorausschauende Wartung, was zur Verbesserung der Produktleistung beiträgt und kostspielige Ausfallzeiten reduziert. Einer der wichtigsten Bereiche, in denen KI auch effizient zum Tragen kommt, ist die Prävention und Aufdeckung von Betrug im Finanzsektor. KI ist in der Lage, historische Daten schnell zu verarbeiten und aus ihnen zu lernen, um dieses Lernen auf die aktuelle Realität anzuwenden und Betrug zu erkennen. Grosses Potenzial sehen wir vor allem im Bereich Finanzen und HR, um in beiden Bereichen Daten effizienter zu nutzen – nicht zuletzt um rasch datenbasierte Geschäftsentscheidungen treffen zu können.
Wie ist künstliche Intelligenz nun mit Zukunftsplanung verbunden?
Es geht um die Widerstandsfähigkeit eines Unternehmens im Angesicht von Widrigkeiten. Ein wichtiger Aspekt von Widerstandsfähigkeit ist Voraussicht. Künstliche Intelligenz ist kein Blick in die Glaskugel – kommt aber nahe heran. Die automatisierte Sammlung und Analyse von Daten unterstützt Unternehmen dabei, sich auf unterschiedliche Risikoszenarien vorzubereiten. Dabei ist es wichtig, zwischen Vorhersage und Szenariomodellierung zu unterscheiden. Bei einer Prognose handelt es sich um die Vorhersage, wo sich ein Unternehmen oder der Markt an einem zukünftigen Zeitpunkt befinden wird. Die Basis dafür liefern relevante historische Daten. Von Szenariomodellierung spricht man hingegen, wenn Analysten eine Reihe wahrscheinlicher Szenarien erstellen, indem sie mögliche entscheidende Veränderungen einbeziehen.
Welchen Einfluss hat die Pandemie auf diese Art von Planung?
Grundsätzlich sind Prognosen abhängig von enormen Mengen an Daten, die aus erster Hand stammen und öffentlich zugänglich sind. Covid-19 hat Unternehmen jedoch auf ein völlig unbekanntes Terrain geführt. Eine Erhebung von McKinsey zeigt, dass Unternehmen nach wie vor geteilter Meinung sind, was die Erholung von der Pandemie betrifft. Die allgemeine Erwartung tendiert in Richtung einer gedämpften, langsamen Erholung. Und genau hier liegt die Krux: Uns fehlen die historischen Daten, auf die wir normalerweise angewiesen sind, um eine Krise zu analysieren. Ausserdem fehlen uns Trends für eine verlässliche Vorhersage, wie die Bedingungen nach Krisenende aussehen werden.