Interviews

Interview mit Hanspeter Kipfer

Mit künstlicher Intelligenz die Zukunft planen

Hanspeter Kipfer, Country Manager von Oracle Schweiz, über Anwendungsgebiete der künstlichen Intelligenz (KI), wo sich ihr Einsatz besonders lohnt und worauf bei der Imple­mentierung von KI zu achten ist.

Herr Kipfer, auch wenn künstliche Intelligenz noch in den Kinderschuhen zu stecken scheint, ist KI eigentlich schon nichts Neues mehr. Warum soll sie gerade jetzt so entscheidend sein? 

Wir befinden in uns nach wie vor in einer aussergewöhnlichen Lage. Viele Wirtschaftszweige sehen sich mit unsicheren wirtschaftlichen Perspektiven konfrontiert. Der Sommer ist nun überstanden, aber was jetzt kommt und welche wirtschaft­lichen Auswirkungen diese unvorhersehbaren Entwicklungen haben werden, ist schwer zu sagen. Gerade in Krisenzeiten, in denen Wirtschaft und Gesellschaft mit der wohl grössten Planungsunsicherheit in der jüngeren Zeit konfrontiert sind, will sichergestellt sein, dass alle zur Verfügung stehenden Mittel optimal genutzt werden, um möglichst stabil als auch agil durch die Krise zu kommen. Und wie jede Krise ist auch diese Krise eine Chance – eine Chance, sich so gut wie möglich zu wappnen für eine unsichere Zukunft und dafür alle vorhan­denen Möglichkeiten zu nutzen, um sich bestmöglich vorzu­bereiten. Die optimale Nutzung künstlicher Intelligenz kann dabei eine wichtige, wenn nicht sogar wettbewerbsentscheidende Rolle spielen. 

Bleiben wir noch kurz in der Gegenwart. Um KI optimal nutzen zu können, benötigt es doch vermutlich erst einmal ein Grundwissen, welche Nutzungsmöglichkeiten für das individuelle Unternehmen sinnvoll sind. Wie würden Sie den Durchdringungsgrad von KI in Schweizer Unternehmen, speziell KMU, einschätzen? Gibt es eventuell Nachholbedarf?

Eine 2019 veröffentlichte PwC-Studie zeigte, dass 85 Prozent der CEOs weltweit erwarten, dass KI ihre Aktivitäten in den nächsten fünf Jahren radikal verändern wird; die Schweizer CEOs hingegen waren noch immer vorsichtig, und rund 23 Prozent von ihnen gaben an, dass sie davon ausgehen, dass KI keinen Einfluss auf ihre Geschäftstätigkeiten habe. Weniger als zehn Prozent gaben an, KI in ihrem Unternehmen zu haben. Dafür gibt es viele Gründe. Einige Schweizer Unternehmen hatten in den letzten Jahren andere Prioritäten, wie zum Beispiel den starken Schweizer Franken. Darüber hinaus haben einige Unternehmen Vorbehalte gegenüber der Technologie in Bezug auf die Leistung oder stehen der Automatisierung kritisch gegenüber. Ein wichtiges Element ist die Datenverarbeitung und -verfügbarkeit. Je umfangreicher die verfügbaren Daten sind, desto mehr können KI-Systeme lernen. Auch öffentliche Fördermassnahmen spielen eine wichtige Rolle. Dazu gehören klare rechtliche Rahmenbedingungen und die Förderung von Forschung. Im Vergleich zu anderen Ländern verfügt die Schweiz trotz guter Rahmenbedingungen noch nicht über eine KI-Strategie auf Bundesebene. Viele Unternehmen in der DACH-Region betreiben vor allem aus Angst vor Cyber-Angriffen keine vollständige digitale Transformation. Als weitere Haupthindernisse werden die Kosten, der Mangel an verfügbarem Know-how und der Mangel an qualifiziertem Personal genannt. Das gegenwärtige Umfeld führt jedoch zu einem Mentalitätswandel. Dieser Trend beschleunigte die digitale Transformation in der Schweiz und schuf gleichzeitig die Notwendigkeit, sich mit den zusätzlichen Cybersicherheitsrisiken auseinanderzusetzen, die mit der Arbeit an entfernten Standorten in allen Unternehmen verbunden sind. 

In welchen Bereichen findet KI vor allem Anwendung, wo liegen noch ungeschöpfte Potenziale?

Künstliche Intelligenz dringt rasch in alle Wirtschaftszweige vor und zieht alle Unternehmen an, vom KMU bis zu multinationalen Konzernen. Im Gesundheitswesen beispielsweise steht KI hinter vielen neuen Produkten. Mit KI können klinische Entscheidungen quantitativer und genauer getroffen werden. KI ermöglicht auch eine vorausschauende Wartung, was zur Verbesserung der Produktleistung beiträgt und kostspielige Ausfallzeiten reduziert. Einer der wichtigsten Bereiche, in denen KI auch effizient zum Tragen kommt, ist die Prävention und Aufdeckung von Betrug im Finanzsektor. KI ist in der Lage, historische Daten schnell zu verarbeiten und aus ihnen zu lernen, um dieses Lernen auf die aktuelle Realität anzuwenden und Betrug zu erkennen. Grosses Potenzial sehen wir vor allem im Bereich Finanzen und HR, um in beiden Bereichen Daten effizienter zu nutzen – nicht zuletzt um rasch datenbasierte Geschäftsentscheidungen treffen zu können. 

Wie ist künstliche Intelligenz nun mit Zukunftsplanung verbunden? 

Es geht um die Widerstandsfähigkeit eines Unternehmens im Angesicht von Widrigkeiten. Ein wichtiger Aspekt von Widerstandsfähigkeit ist Voraussicht. Künstliche Intelligenz ist kein Blick in die Glaskugel – kommt aber nahe heran. Die automatisierte Sammlung und Analyse von Daten unterstützt Unternehmen dabei, sich auf unterschiedliche Risikosze­narien vorzubereiten. Dabei ist es wichtig, zwischen Vor­hersage und Szenariomodellierung zu unterscheiden. Bei einer Prognose handelt es sich um die Vorhersage, wo sich ein Unternehmen oder der Markt an einem zukünftigen Zeitpunkt befinden wird. Die Basis dafür liefern relevante his­torische Daten. Von Szenariomodellierung spricht man hingegen, wenn Analysten eine Reihe wahrscheinlicher Szenarien er­stellen, indem sie mögliche entscheidende Ver­änderungen einbeziehen. 

Welchen Einfluss hat die Pandemie auf diese Art von Planung? 

Grundsätzlich sind Prognosen abhängig von enormen Mengen an Daten, die aus erster Hand stammen und öffentlich zugänglich sind. Covid-19 hat Unternehmen jedoch auf ein völlig unbekanntes Terrain geführt. Eine Erhebung von McKinsey zeigt, dass Unternehmen nach wie vor geteilter Meinung sind, was die Erholung von der Pandemie betrifft. Die allgemeine Erwartung tendiert in Richtung einer gedämpften, langsamen Erholung. Und genau hier liegt die Krux: Uns fehlen die histo­rischen Daten, auf die wir normalerweise angewiesen sind, um eine Krise zu analysieren. Ausserdem fehlen uns Trends für eine verlässliche Vorhersage, wie die Bedingungen nach Krisenende aussehen werden.

Ohne historische Daten funktioniert also auch keine Risikoplanung? 

Nicht ganz. An dieser Stelle kommt die Szenariomodellierung ins Spiel: Sie hilft Unternehmen, sich ein breites Spektrum möglicher Zukunftsszenarien vorzustellen, mehrere davon zu planen und zu beurteilen, wie auf jedes Einzelne zu reagieren ist. Wenngleich der Prozess immer noch von Daten abhängt, benötigt er keine historischen Daten, die für ein bestimmtes Szenario relevant sind. Stattdessen wird eine Reihe von wahrscheinlichen Ergebnissen entworfen, auf die sich Unternehmen vorbereiten können und sollten angesichts einer Zukunft, in der wenig sicher ist. 

Wie genau funktioniert eine solche Szenariomodellierung? Vielleicht könnten Sie das an einem Beispiel erklären.

Die Szenariomodellierung hilft Ihnen dabei, ein breites Spektrum zukünftiger Möglichkeiten zu visualisieren, für mehrere Szenarien zu planen und zu beurteilen, wie auf jedes einzelne Szenario zu reagieren ist. Ein Beispiel ist McDonalds. Das Unter­nehmen hat vor Kurzem seine gesamte Unternehmensplanung auf Oracle Planning and Budgeting Cloud umgestellt und damit sichergestellt, dass es modernste Planungswerkzeuge einsetzen kann. Auf diese Weise kann es Budgetierungs- und Planungs­gewinne erzielen, indem es die Bereitstellungszeiten um bis zu 50 Prozent verkürzt – bei verbesserter System­leistung, während die erforderliche Zeit der für den Übergang neu entwickelten An­wendungen von einer Test- in eine Produktionsumgebung um 80 Prozent verkürzt wurde.

Trotz der bereits breiten Nutzung von KI war die Wirtschaft schlecht oder gar nicht auf die Pandemie vorbereitet. Lohnt sich die Investition in künstliche Intelligenz trotzdem? 

Das ist richtig. Die jüngsten Erfahrungen haben gezeigt, dass ein noch ausgereifterer Ansatz für die Szenariomodellierung er­forderlich ist. Denn obwohl viele Organisationen vor der Krise aktiv Zukunftsszenarien modelliert haben, konnten nur wenige die Pandemie vorhersehen oder für sie planen. Die Lehre daraus: Man kann nicht für jedes Ergebnis planen, aber Unternehmen sollten anfangen, in Zukunft für ein breiteres Spektrum möglicher Szenarien vorzusorgen. Während der Pandemie zum Beispiel spielte und spielt KI eine wichtige Rolle. Chatbots helfen bei der Beantwortung der Flut von Fragen im Zusammenhang mit der Pandemie, und Modelle des maschinellen Lernens (ML) waren für die Modellierung der Auswirkungen der sich wieder öffnenden Volkswirtschaften unverzichtbar. KI hilft grundsätzlich, die Qualität und die geschäftlichen Auswirkungen finanzieller und betrieblicher Entscheidungen zu verbessern – die Investition lohnt sich also auf jeden Fall. Die Technologien entwickeln sich auch rasant weiter und bieten täglich Optimierungen. Auch wir arbeiten laufend an Innovation und Produktverbesserungen, um unseren Kunden durch zielführend eingesetzte Technologie noch mehr Arbeit abnehmen zu können. 

Was können Unternehmen sonst tun, um ihre Widerstandfähigkeit zu stärken? 

Regelmässigere, umfassendere Szenariomodelle allein werden nicht ausreichen, um die Widerstandsfähigkeit zu gewährleisten. Daten sind das Futter für Analysen. Je mehr davon zur Verfügung stehen, umso einfacher werden traditionelle Prognosen. Beide Prognosemethoden sind notwendig, um Unter­nehmen bei der Zukunftsplanung zu unterstützen. Absolut entscheidend sind dabei die Qualität der Daten und deren Verwaltung. Sehr grosse Datenmengen können schwer zu ver­walten sein. Umso wichtiger ist es, Daten so zu sammeln, dass eine auf allen vorhandenen Daten basierende und koordinierte Reaktion in einer Krisensituation möglich ist. Gleichzeitig besteht das Risiko, dass Unternehmen zu langsam sind, um auf rasch abzeichnende Trends, Herausforderungen oder Chancen zu reagieren. Deshalb ist Geschwindigkeit ein weiterer wichtiger Faktor. Die Zeit, die für manuelle und unnötige Aufgaben – einschliesslich Datenbereinigung oder Eingabe für die Analyse – benötigt wird, ist schlicht eine Verschwendung von Ressourcen. KI kann diese Aufgaben übernehmen. Eine Investition, die sich auf jeden Fall lohnt. 

Welche Lösungen bietet Oracle, um besser mit solchen Datenmengen umzugehen? 

Unsere Cloudtechnologie ist sicherlich eine Technologie, die entscheidend dazu beitragen kann, strategische Informationen für eine agile und schnellere Entscheidungsfindung auf verdauliche Weise zu übersetzen. Eingebettete KI-Anwendungen und -Lösungen können Prognosen und Vorhersagen durch die Automatisierung manueller Datenprozesse erheblich beschleunigen. Dies trägt zur Agilität bei, da die Mitarbeiter weniger Zeit mit dem Sammeln und Verifizieren von Daten verbringen. Mit den richtigen Informationen können Führungskräfte und Geschäftszweige schneller und mit grösserer Sicherheit Entscheidungen treffen – und dabei Zeit und Kosten einsparen. Künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen, die direkt in Cloudlösungen integriert sind, bieten zudem Echtzeit-Zugang zu wichtigen Informationen – manchmal sogar, bevor der operative Bedarf entsteht – und garantieren eine hohe Widerstandsfähigkeit
gegenüber Unerwartetem.

Welchen organisatorischen und auch finanziellen Aufwand benötigt eine entsprechende Einbindung von KI-Anwendungen und -Lösungen?

Für Neukunden bietet Oracle über 200 «Modern Best Practices», das heisst viele Standardprozesse, die von Kunden individuell nach eigenen Anforderungen konfiguriert werden können. Die entscheidende Frage sollte dabei nicht unbedingt lediglich der Kostenfaktor darstellen, sondern vielmehr der langfristige und nachhaltige Mehrwert einer solchen integrierten und skalierbaren Lösung.

Hat Covid-19 den Bedarf nach KI erhöht? 

Die letzten Monate haben unzählige Organisationen dazu veranlasst, ihre IT-Bedürfnisse neu zu bewerten. Jeden Tag sprechen wir mit Unternehmen oder öffentlichen Einrichtungen, die ihre Infrastrukturen aufrüsten müssen, ohne ihre Ausgaben zu erhöhen oder die Sicherheit ihrer Daten zu opfern. Niemand von uns kann vorhersagen, was in den kommenden Monaten vor uns liegt, aber ich bin der festen Überzeugung, dass es absolut unerlässlich ist, über Technologien zu verfügen, die helfen können, diese neuen Anforderungen zu erfüllen. 

Eine Frage mit Blick auf die nahe Zukunft, ganz un­abhängig von der aktuellen Krisensituation. Welche Entwicklung wird KI abseits der reinen Datenbetrachtung in den nächsten Jahren noch nehmen? Welchen Einfluss sehen Sie vor allem in den Bereichen Produktentwicklung und Marketing?

Eine der leistungsstärksten Arten, durch die KI Unternehmen unterstützt, ist die Optimierung von Geschäftsprozessen. In der Fertigung haben künstliche Intelligenz und Automatisierung das Spielfeld grundsätzlich verändert. Fast alles – vom Lieferketten- und Bestandsmanagement bis hin zur vorausschauenden Wartung – wurde verbessert. Die Hyperperso­nalisierung von Marketingkampagnen, die dank der KI-Technologie und des maschinellen Lernens möglich ist, kann Geschäftsergebnisse zudem auch dadurch steigern, dass re­levante Inhalte zum richtigen Zeitpunkt geliefert werden können. Und jetzt, wo Chatbots und andere KI-gestützte Kommunikationssysteme einen Kundendienst rund um die Uhr anbieten können, wird ein Grossteil der Arbeit bereits erledigt, bevor Mitarbeiter überhaupt in den eigentlichen Kundenkontakt treten.

Künstliche Intelligenz, so heisst es, werde traditionell administrative Managementaufgaben abschaffen. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus, und wie wird KI Managerrollen weiter verändern?

KI hilft der Führungsebene, insbesondere CFOs, ganz einfach gesagt, Papierkram abzubauen, damit sie sich auf strategische Aufgaben konzentrieren kann. Sie wird den Menschen nicht ersetzen, sondern ihn im besten Fall von sich wiederholenden – und oft langweiligen – Aufgaben befreien. Um diese Möglichkeiten zu nutzen, müssen CFOs die Qualität der Daten und Prozesse rigoroser sicherstellen. Virtuelle Agenten können zum Beispiel dazu beitragen, die Produktivität einer Abteilung zu steigern, die Aufgaben wie Kontenabstimmung und Compliance wahrnimmt. Gleichzeitig kann KI ein sehr wichtiges Planungstool sein. Durch die Nutzung langfristiger Datenmodelle können KI-Anwendungen beispiellose Informationen darüber liefern, was die Zukunft für ein Unternehmen bereithält und welche Zukunftsszenarien die Leistung und das Wachstum beeinflussen könnten. 

Herr Kipfer, eine letzte Frage noch: Was raten Sie Unternehmen, die KI bislang noch nicht auf ihrem Strategiefahrplan haben? Gibt es eine Art Leitfaden für die Einführung von KI oder KI-Projekten, und wo sehen Sie Stolperfallen?

Am sinnvollsten ist es, wenn KI-Initiativen eng mit den strategischen Prioritäten abgestimmt sind. Und fangen Sie klein an. Wählen Sie Anwendungsfälle auf der Grundlage der vielversprechendsten KI-Bereiche in Ihrer Branche aus. CIOs sollten sich auch um die Einrichtung von KI-Teams bemühen und müssen bestimmen, welche Rollen und Fähigkeiten erforderlich sind. Dabei müssen sich die Verantwortlichen bewusst sein, dass KI eine viel umfassendere Disziplin ist als maschinelles Lernen. Organisationen sollten so früh wie möglich ihre wichtigsten KI-Geschäftsnutzungskategorien und die erforderlichen Fähigkeiten identifizieren und priorisieren. Um Lösungen skalieren zu können, KI-Lösungen in die Infrastruktur der Organisation zu integrieren und um die effiziente Nutzung zu gewährleisten, müssen CIOs und IT-Verantwortliche Kompetenzen aufbauen.

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