Interviews

Im Gespräch mit Adrian Jungo

«Man muss immer auch einen Plan B haben»

Adrian Jungo, Präsident des Fachverbandes für Einkauf und Supply Management procure.ch, über die Auswirkungen der Digitalisierung, die Qualitätsmerkmale eines modernen Einkäufers und Tendenzen im Global Sourcing.
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Herr Jungo, Sie sind seit Mai diesen Jahres neuer Präsident des Einkaufsverbands procure.ch. Welche aktuellen und zukünftigen Handlungsfelder sehen Sie als Verbandspräsident?

Procure.ch hat im vergangenen Jahr seine neue «Strategie 2015 bis 2018» verabschiedet, die eine gute Grundlage für unser aktuelles und zukünftiges Handeln bildet. Die Mission unseres Fachverbands gibt die Rahmenbedingungen vor. Dabei stehen vor allem zwei Stossrichtungen im Fokus, aus denen sich auch die Herausforderungen ableiten. Die eine ist, den Einkäufern in der Schweiz eine Plattform zu bieten und ein Netzwerk zur Verfügung zu stellen, innerhalb dessen sie sich austauschen können. Zudem sind wir eine Anlaufstelle für die berufsbezogene Aus- und Weiterbildung. Wir verstehen uns also als erste Wahl rund um die Themen Beschaffung, Ausbildung, Weiterbildung. Diesen Anspruch müssen wir festigen und auch noch bekannter machen. Mit fast 1000 Mitgliedern hat der Verband dafür eine gute Basis.

So weit zu den Grundlagen. Was sind Ihre persönlichen Ziele?

Ich bin überzeugt, dass die Einkaufszunft in der Schweiz einen starken Verband braucht, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Und so wie sich Unternehmen transformieren müssen, muss dies auch ein Verband wie procure.ch tun. Ich glaube zum Beispiel, dass mit der vierten industriellen Revolution die Bedeutung von Netzwerken stark zunehmen wird. Der Verband wird sich daher stärker für Kooperationen und Netzwerke öffnen müssen, zum Beispiel auch gegenüber anderen Branchen, wo wir noch nicht so stark sind. Ich sehe gerade hier ein grosses Potenzial für unseren Fachverband. Dazu möchte ich einen persönlichen Beitrag leisten.

Sie sprechen die Transformation an. Die Digitalisierung verändert die Wertschöpfungskette nachhaltig, bewährte Prozesse müssen neu gedacht werden. In welchen Bereichen wird es Ihrer Meinung nach die schwerwiegendsten Veränderungen geben?

Die Digitalisierung wird die Industriegesellschaft insgesamt in einem Masse verändern, wie man es zuvor nicht erlebt hat. Sie bringt innert kürzester Zeit neue Wettbewerber hervor, rüttelt an bislang unerschütterlichen Glaubenssätzen und zwingt Unternehmen, ihre Geschäftsmodelle neuen Erfordernissen anzupassen. Dabei geht es nicht nur um die Digitalisierung von Geschäftsprozessen, sondern darum, mit Hilfe der Digitalisierung komplett neue Wertschöpfungsmodelle zu entwickeln. Bei all diesen Prozessen kommt es darauf an, rasant wachsende Datenmengen zu analysieren und mit dem Ziel eines überragenden Kundennutzens bedarfsgerecht zu vernetzen. Der Einkauf hat die Chance, die mit der Digitalisierung verbundenen neuen Möglichketen des eigenen Unternehmens zum Aufbau vernetzter und integrativer Geschäftsmodelle von Beginn an massgeblich mitzugestalten und zu prägen.

Was bedeutet der Veränderungsprozess für die Wertschöpfungsketten, und wo sehen Sie Optimierungspotenziale?

Die Optimierung ist ein dauerhafter Prozess. Das Managen von Wertschöpfungsketten nimmt weiter zu. Da spielt das Internet eine immer grössere Rolle, etwa dabei, in Echtzeit Warenströme im Griff zu haben, also nur das zu produzieren, was gerade im Markt gefordert wird. Die permanente Digitalisierung von Informationsströmen vereinfacht dies. Insgesamt erfordern der zunehmende Wettbewerb in globalen Märkten, kürzere Produktlebenszyklen und steigende Kundenerwartungen eine ganzheitliche Betrachtung durch das Supply Chain Management. Die Unternehmensfunktionen Einkauf und Logistik sind daher in die strategischen Überlegungen zur Wertschöpfungskette einzubeziehen. Unternehmensziele müssen auf die Wertschöpfungskette heruntergebrochen werden.

Bedingt das eine stärkere Fokussierung auf Kern­kompetenzen?

Ja, es gibt eine klare Tendenz zur Konzentration auf Kernkompetenzen und zur Verringerung der Fertigungstiefe. Dadurch entwickeln sich zunehmend arbeitsteilige Lieferketten. Durch die Abkopplung nicht wertschöpfender Prozesse wird die Konzentration auf die eigentlichen Kernkompetenzen möglich. Und je mehr sich Unternehmen auf ihre Kernkompetenzen beschränken, desto wichtiger wird die Stellung des Einkaufs im Unternehmen. Der Einkauf ist verantwortlich für das strategische Lieferantenmanagement, die Innovationsförderung und Nachhaltigkeit in der Beschaffung. Gleichzeitig gibt es einen Trend zu Kooperationen in Netzwerken. Denn die Konzentration auf Kernleistungen sowie die Globalisierung der Märkte haben dazu geführt, dass in manchen Bereichen nicht mehr Unternehmen, sondern unternehmensübergreifende Wertschöpfungsketten miteinander im Wettbewerb stehen. Um Wettbewerbsvorteile zu erzielen, müssen sich die beteiligten Unternehmen als flexible Netzwerke präsentieren und durch marktfähige Strukturen und effektive Koordination auszeichnen.

Bleiben wir noch kurz beim Thema digitale Transformation. Welche Entwicklungen sehen Sie auf dem Arbeitsmarkt?

Es wird einen Strukturwandel im Arbeitsmarkt geben. Das kann man heute sicher schon sagen. In bestimmten Bereichen werden Jobs wegfallen. Die Digitalisierung ist aus meiner Sicht vor allem aber auch eine Chance für Hochlohnländer wie die Schweiz. Die Digitalisierung bietet für Schweizer Unternehmen grosses Potenzial, zumal insbesondere Effizienzsteigerungen möglich sind. Schweizer Firmen können dank der Digitalisierung den Mehrwert verbessern und die Integration der verschiedenen Funktionen und Prozesse erhöhen. Das sind gute Voraussetzungen, um den Industriestandort Schweiz zu stärken. Ich bin überzeugt, dass der technische Fortschritt immer wieder neue Arbeitsplätze schafft. Wichtig ist allerdings, dass wir den Wandel aktiv begleiten und gestalten müssen.

Und wo sehen Sie mögliche Gefahren?

Heute ist alles vernetzt. 95 Prozent aller Suchanfragen gehen an Google. Für eine Volkswirtschaft wie die Schweiz ist es natürlich von sehr hoher Bedeutung, ein stabiles Netzwerk zu haben. Neben dem Schienen- und Strassennetz wird auch das digitale Netz von entscheidender Bedeutung sein. Die Wirtschaftskriminalität wird zunehmen, ebenso Cyberattacken. Das wird wiederum zu neuen Berufsfeldern, etwa im Sicherheitsbereich, führen. Ich glaube auch, dass es zur technologischen Entwicklung, bei der die Maschine und nicht der Mensch die Hauptrolle spielt, eine Gegenbewegung geben wird, in der Vertrauen wieder wichtiger werden muss. Zum Beispiel durch längere und engere Bindung oder sogar Partnerschaft. Es wird also auch zum Bild des Einkäufers gehören, noch mehr in vertrauensvolle Zusammenarbeit zu investieren.

Wie zeichnen Sie denn das Berufsbild eines modernen Einkäufers, und wie beschreiben Sie seine interne Positionierung?

Die steigende Komplexität und Vielfältigkeit der Aufgaben führen dazu, dass die Aufgaben des Einkäufers anspruchsvoller werden. Einkauf und Supply Chain Management bringen einen Wettbewerbsvorteil. Der Gewinn liegt also buchstäblich im Einkauf, da er einen Grossteil der direkten und indirekten Kosten des Unternehmens bestimmt und durch die Steuerung der Lagerbestände und Lieferantenverbindlichkeiten entscheidend das investierte Kapital des Unternehmens beeinflusst. Gleichzeitig ist das Potenzial von Einkauf und Supply Chain Management bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Die Bedeutung des Einkaufs als Kernfunktion wird daher zunehmen. Dies, der technologische Wandel und die strategische Bedeutung von Lieferantenevaluation, -integration und -management führen zu einem veränderten Profil der Funktionen im Einkauf.

Was heisst das konkret?

Der moderne Einkäufer wird immer häufiger als Schnittstellenmanager zwischen den verschiedenen internen Abteilungen fungieren, in denen er die Fachabteilungen beratend unterstützt und zwischen dem Unternehmen und externen Lieferanten vermittelt. So hat der Einkäufer durch den regelmässigen Austausch mit Kollegen und Lieferanten die Chance, Innovationen voranzutreiben und neue Ideen, Lösungen und Produkte zu entwickeln. Heutzutage ist Fachkompetenz im Einkauf ebenso wie das Wissen über die zu beschaffenden Güter und Märkte eine wichtige Voraussetzung, um als kompetenter Ansprechpartner wahrgenommen zu werden. Vermehrt gelten auch Soft-Skills wie Kommunikationsstärke, Konfliktmanagement und Teamfähigkeit als wichtige Grundvoraussetzungen für einen erfolgreichen Einkäufer.

Wie kann denn der zukünftige «Einkäufer 4.0» zum Innovationstreiber werden?

Der Einkäufer wird einen Rollenwandel hin zum Wertschöpfungs- und Risikomanager durchleben. Er muss künftig neben seiner angestammten Tätigkeit auf andere Teams zugehen und über die gesamte Supply Chain versuchen, zu Optimierungen und Prozessverbesserungen beizutragen, ebenso Risiken besser einzuschätzen beziehungsweise zu vermeiden. Der Einkauf wird zum Gestalter neuer, dynamischer Wertschöpfungspartnerschaften, die er als Netzwerke orchestrieren wird. Dabei bedient er sich neuester technologischer Möglichkeiten wie dem Internet der Dinge und Big Data.

Wie können sich Unternehmen fit für die Transfor­mation, respektive fit für die Zukunft machen?

So wie früher der operative Einkauf ein Angebot mit einem Schreiben eingeholt hat, das wird es bald nicht mehr geben. Solche Dinge werden automatisiert werden, ebenso die Schnittstellen zu Firmen. Gerade im niedrigeren kaufmännischen Sektor werden ganze Bereiche wegfallen. Die Frage ist, wie sich hier der Einkäufer weiterentwickeln und an anderer Stelle integrieren kann. Denn eine Geschäftsbeziehung aufzubauen, kreative Ideen einzubringen, das gehört noch nicht zur Leistungsfähigkeit eines Roboters. Das heisst, zunächst einmal müssen wir die Digitalisierung, ihre Möglichkeiten, Chancen und Risiken verstehen lernen. Procure.ch hat daher einen Arbeitszirkel mit verschiedenen Firmen gegründet, um zu diesem Thema ein neues Weiterbildungsmodul zu entwickeln. Wir müssen uns also auf die neuen Dinge fokussieren. Das wird zum Beispiel Risikomanagement sein, Nachhaltigkeit im Einkauf oder auch Softwareeinkauf. Denn Produkte, Dienstleistungen und Software werden verschmelzen. Generell wird die permanente Weiterbildung, Stichwort «lebenslanges Lernen», immer wichtiger. Gut Qualifizierte werden profitieren.

Herr Jungo, zum Schluss möchten wir Sie noch um einen Ausblick bitten.

Volatilität wird eine immer grössere Rolle spielen. Das gilt zum Beispiel für Währungen oder politische Entscheidungen. Es gilt, permanent wachsam zu sein, Massnahmen für verschiedene Szenarien in der Schublade zu haben. Es sind verschiedene Szenarien zu erarbeiten, je nachdem, wie sich Entwicklungen in der Zukunft gestalten. Früher konnte man viel besser und langfristiger planen, heute sollte man immer auch einen Plan B haben. Man muss also in mehreren Dimensionen denken. Risikomanagement wird immer wichtiger. Ein weiterer Punkt ist, auch in diesem Zusammenhang, dass Sharing Economy deutlich zunehmen wird. Es ist nicht allen Firmen möglich, gerade auch KMU, alles leisten zu können. Da bietet es sich an, sich zusammenzutun. Hier kann procure.ch helfen, entsprechende Zugänge aufzuzeigen.

 

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