Interviews

Interview mit Andreas Geistlich

«Eine gute Marke und das Vertrauen in die Produkte sind nicht kopierbar»

Dr. Andreas Geistlich, Verwaltungsratspräsident der Geistlich Pharma AG, über die Kraft von Familienunternehmen, den Umgang mit der Corona-Krise und mögliche Folgen der Begrenzungsinitiative.
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Herr Dr. Geistlich, Ihr Unternehmen ist seit 1851 im Familienbesitz. Begonnen hat alles mit einer Leim produzierenden kleinen Firma in Zürich. Die Entwicklung ging, wie es Ihre Chronik beschreibt, vom Knochen- und Gewebeverarbeiter zum international gefragten Regenerationsexperten. Was ist unter einem Regenerationsexperten zu verstehen?
Die regenerative Medizin will defekte Teile des Körpers wiederherstellen. Dieses Prinzip kann auf Zellen, Gewebe oder auf Organe angewendet werden. Geistlich Pharma hat einen starken Fokus auf die Regeneration von Geweben. Das heisst, wir wollen mit biologischen Matrizen dem Körper helfen, sich selbst zu heilen.

Welche Branchen zählen zu Ihren Abnehmern res­pektive Zielgruppen?
Unsere Produkte kommen bei Zahnchirurgen, Sportchirurgen und Dermatologen zum Einsatz. Auch klassische Pharmazie findet man bei uns: in den Bereichen Infektionsbekämpfung bei der Dialyse und in der Onkologie.

Welche Produkte sind derzeit am meisten gefragt und welches sind die Hauptumsatzträger?
Unsere Produkte für den Knochen- und Weichgewebeaufbau sind in der Oralchirurgie marktführend.

Sie arbeiten mit Naturmaterialien? Wie setzen Sie diese ein?
Wir reinigen tierisches Gewebe dergestalt auf, dass es geeignet ist, dem menschlichen Körper als Leitschiene für neues Wachstum zu dienen. So werden Rinderknochen in einem zweiwöchigen Prozess zu «Geistlich Bio-Oss», unserem Flaggschiff für die Knochenregeneration. Kollagene vom Schwein werden zur schützenden Membran «Geistlich Bio-Gide» oder zu volumenbildenden Strukturen wie «Geistlich Mucograft» für die Zahnfleisch­regeneration, «Geistlich Derma-Gide» für Wundheilung oder «Geistlich Chondro-Gide» für den Knorpelaufbau im Gelenk.

Wo lassen Sie Ihre Produkte produzieren?
Wir produzieren sehr vieles selbst, hier in der Schweiz. Der Standort Schweiz ist für uns ideal, denn er verkörpert unseren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und höchste Qualität. Es gibt hier ein starkes Pharma- und Medtech-Netzwerk und viele gut ausgebildete Leute.

Wie ist Ihr Unternehmen strukturiert und welche Voraussetzungen beziehungsweise Ausbildungen müssen die Mitarbeiter in den entsprechenden Be­reichen mitbringen?
Die vertikale Integration bei Geistlich ist sehr hoch. Sie reicht von Beschaffung, Logistik und Produktion über Forschung, Produktregistrierung bis hin zu Verkauf und Schulung. Mecha­niker halten die Maschinen in Schuss und IT-Leute kümmern sich um unsere moderne IT-Infrastruktur. Ein Küchenteam hält die Mannschaft bei guter Laune. Das heisst, wir beschäftigen Menschen mit den unterschiedlichsten Fähigkeiten und Profilen. Häufig bilden wir auch interdisziplinäre oder internationale Teams. Deshalb ist Teamfähigkeit bei uns gerade so wichtig wie eine solide Ausbildung oder ein attraktiver Werdegang.

Wie ist Ihr Vertrieb organisiert?
Die verschiedenen Märkte betreuen wir mit eigenständigen Business Units. Die meisten Produkte verkaufen wir weltweit über unsere zwölf Tochtergesellschaften und über ein grosses Netz von Distributoren und Agenten.

Die Geistlich Pharma AG hat auch eine Niederlas­sung in China. Wie würden Sie dort die aktuelle Lage be­urteilen?

Wir gründeten unsere Tochtergesellschaft in China im Jahre 2008. Schon damals, während der Olympischen Spiele, war die Aufbruchstimmung greifbar. Heute gehört China zu unseren grössten Absatzmärkten. Die Entwicklung ist gewaltig. Für gut positionierte Produkte ist der chinesische Markt sehr at­traktiv. Dies ist eine Chance für Europa und vor allem auch für die Schweiz. Auf der anderen Seite ist die Abhängigkeit von chi­nesischen Lieferanten ein Risiko für die Versorgung mit Verbrauchsgütern und – wie man in der Corona-Krise gesehen hat – auch für unser Gesundheitswesen.

Und wie laufen die Geschäfte mit Amerika?

Die USA sind einer der wichtigsten Märkte im Gesundheits­wesen und auch einer der drei grössten Märkte von uns. Ent­sprechend ist er sehr dynamisch und umkämpft. Mittlerweile sind Zulassungen für neue Medizinprodukte in den USA schneller zu erreichen als in Europa, weshalb wir neue Produkte vermehrt zuerst in den USA lancieren werden.

Wie sichern Sie Ihre Erfindungen gegen Industrie­spionage?

Eine gute Marke und das Vertrauen in die Produkte sind nicht kopierbar. Technologische Neuheiten werden mit Patenten gezielt geschützt.

Kommen wir kurz zu einem aktuellen Thema. Wie hat sich die Corona-Krise auf Sie und Ihr Unternehmen bislang ausgewirkt?

Wir schwimmen mit dem Strom: Die Absätze sind in den einzelnen Ländern von Ost nach West vorübergehend fast vollständig eingebrochen und haben sich nun teilweise wieder erholt. Wir mussten energisch auf die Bremse treten, Investitionen verschieben, einen Einstellungsstopp verhängen, Kurzarbeit und Homeoffice anordnen – das volle Programm. Die Liquidität sichern wir über die Hausbank und die Muttergesellschaft ab. Homeoffice und digitale Meetings haben in der Firma in den vergangenen Monaten ihre Bewährungsprobe bestanden und werden nun wohl vermehrt zum Einsatz kommen. Aber der persönliche Kontakt lässt sich dadurch nicht vollständig ersetzen. Selber habe ich die erzwungene entschleunigte Zeit übrigens sehr genossen. 

Welche Szenarien halten Sie bezüglich der Pandemie bereit?

Sowohl Fallzahlen wie auch die konjunkturelle Situation sind höchst labil, und die Konsumfreude ist tief. Gleiches gilt für elektive Eingriffe, also Operationen, welche plan- und somit auch verschiebbar sind. Auch sind viele Ärzte mit zusätzlichen Hygienemassnahmen konfrontiert und können deshalb weniger operieren. Die Lockerung der Einsparungsmassnahmen in unserer Firma geschieht deshalb mit grosser Vorsicht.

Was sollten die Politiker unternehmen, um einen Wirtschaftseinbruch zu verhindern?

Zuerst ist nun das Stimmvolk gefragt! Im Herbst gehört die Begrenzungsinitiative abgelehnt, denn sie kann dem Werkplatz Schweiz langfristig weit mehr schaden als die Corona-Krise. Auch dürfen die unterschiedlichen Unterstützungen der Firmen nicht zu einem Eingriff des Staates in die Hoheit der Unter­nehmen missbraucht werden. Und dann gilt es, für zukünftige Pandemien besser gerüstet zu sein. Einen zweiten Lockdown können wir uns nicht leisten.

Kommen wir noch einmal zurück zu Geistlich als Familienunternehmen. Welche Unterschiede bestehen zwischen der jetzigen Unternehmensführung und der von früheren Generationen?

Die Antwort auf diese Frage könnte Bücher füllen. Jede Generation muss letztendlich ihren eigenen Weg definieren. Wir haben bei Geistlich Pharma Geschäftsleitung und Verwaltungsrat klarer getrennt, als dies früher der Fall war, und sind als Familie mehr in den Hintergrund getreten. Die Zeit des klassischen Patrons ist vorbei, aber die Familie steht nach wie vor ein für ihre Werte.

Worauf muss nach Ihrer Erfahrung ein Familien­unternehmen besonderen Wert legen?

Eine Familie ist etwas lebendiges und kein homogener Block. Es wird geboren, gestorben, geheiratet, vererbt. Familienunternehmen und Unternehmerfamilien müssen auf solche Vorgänge vorbereitet sein. Die Kraft der Familienunternehmen liegt in deren Glaubwürdigkeit, denn wir bürgen mit unserem Namen: Wo Geistlich draufsteht, soll auch Geistlich drin sein! Die Pflege der Werte und der Qualität ist somit essenziell.

Sie sind Verwaltungsratspräsident und damit eigentlich nicht mehr im operativen Geschäft tätig. Ist das bei so hoher familiärer Verbundenheit überhaupt möglich?

Ja, das ist möglich. Ich verstehe mich als Bindeglied zwischen Familie und Firma. Ich bin erste Ansprechperson der Geschäftsleitung bei wichtigen Fragestellungen. Als promovierter Naturwissenschaftler verstehe ich die Produkte natürlich sehr gut.

Wo sehen Sie die Grenzen zwischen Geschäftsführung und Verwaltungsrat?

Auch das: eine epische Frage! Das Ziel ist die Fortführung des Unternehmens und die Steigerung des Unternehmenswertes. Die ultimative Verantwortung dafür liegt beim Verwaltungsrat. Er muss die Richtung definieren, die Leitplanken festlegen und die wichtigen personellen Entscheide treffen. Die Umsetzung und das operative Geschäft liegen in der Hoheit der Geschäftsleitung. Hier wiederum nimmt der Verwaltungsrat eine kontrollierende Funktion ein. Dazu hat er Anspruch auf umfassende Informationen zu allen Themen und auf volle Transparenz durch die Geschäftsleitung. Von dieser erwarte ich, dass sie mit den anvertrauten Mitteln so umgeht, als wären es ihre eigenen.

Eine letzte Frage: Wie sollte sich die Schweiz zur EU stellen, und welche wirtschaftlichen Auswir­kungen erwarten Sie durch ein mögliches Rahmenabkommen?

Natürlich kann sich Geistlich auch ohne ein institutionelles Rahmenabkommen und mit wieder eingeführten technischen Handelshemmnissen den Marktzugang zu Europa offen halten. Dies ist aber mit zusätzlichen administrativen Hürden und Kosten verbunden. Kleineren Unternehmen wird dies somit viel mehr zu schaffen machen als uns. Der freie Zugang zum internationalen Arbeitsmarkt ist aber gerade so wichtig: Bei uns im Team arbeiten momentan 85 Menschen aus 16 EU-Ländern, sowie deren 13 aus Nicht-EU-Staaten. Sie alle helfen mit, den Produktions- und Innovationsstandort Schweiz aufrechtzu­erhalten. Ich plädiere deshalb für eine offene Schweiz, stehe aber auch hinter den flankierenden Massnahmen.

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