Herr Leonhard, Sie sind Futurist und erklären uns die Zukunft. Wie kamen Sie dazu?
Ich lebte lange in den USA als Musiker und Produzent. Dort ist der Beruf «Futurist» völlig normal. Mitte der 1990er-Jahre startete ich dort ein Online-Music-Business. Wir fanden Investoren und machten so etwas wie Getty Images für Musik-Lizenzen – einfach mindestens zehn Jahre zu früh. Als 2001 die Internetblase platzte, die Börsenkurse im Keller waren und noch 9/11 hinzukam, waren wir Konkurs. Ich schrieb dann mit Dave Kusek «The Future of Music», mein erstes Buch, das sich global verkaufte und in 15 Sprachen übersetzt wurde. Darin sagten wir voraus, dass künftig Musik wie fliessendes Wasser immer und überall verfügbar sei. Plötzlich war ich für viele Leute ein Futurist. Ach ja, heute mutmassen mein Co-Autor und ich manchmal, dass die Gründer von Spotify ihre Geschäftsidee aus unserem Buch abgeleitet haben.
Heute sind Sie weltweit als Keynote-Speaker unterwegs. Wie gehen Sie vor bei Ihrer Arbeit: Schauen Sie in eine Glaskugel?
Nein, natürlich nicht. Ich beschäftige mich mit Dingen, die noch nicht ganz da, aber bereits offensichtlich sind; es geht oft um künstliche Intelligenz, Nachhaltigkeit und Cloud Computing. Vielen grossen Firmen, oft auch Regierungen, fehlt einfach die Zeit zu aufwendigen Recherchen. Natürlich lese ich sehr viel, ein Grossteil ist natürlich Fachliteratur. Ich versuche, der Zeit immer drei bis fünf Jahre voraus zu sein.
Können Sie uns ein Beispiel nennen?
2010 hielt ich vor Top-Managern eines deutschen Autoherstellers eine Keynote zur Zukunft der Mobilität. Ich sprach von Carsharing, jungen Menschen, die keinen Fahrausweis mehr erwerben wollen und selbstfahrenden Autos. Dafür erntete ich Spott und Gelächter, aber schon damals war klar, dass wir uns vom Benzinmotor verabschieden werden. Sie sehen: Ich werde immer dann geholt, wenn «Imagining the Future» gefragt ist. Das Weiterspinnen von Ideen und Entwicklungen, die sich bereits andeuten. Die Zeichen, dass in zehn Jahren das Öl-Zeitalter endet, sind bereits sichtbar – wenn man es sich eingesteht.
Wie bewegen wir uns in fünf Jahren fort?
Ein benzingetriebenes Auto zu kaufen, wird eine Rarität sein – ebenso wie bald danach der Besitz eines eigenen Autos. In zehn Jahren erfolgt Mobilität hauptsächlich on-demand. Die Mobilitätsindustrie wird eine Flatrate, ein Abonnement, anbieten, mit dem wir verschiedene Transportmittel nutzen können. Dies kann der ÖV sein, ein selbstfahrendes Auto oder ein E-Trottinett.
Haben Sie auch Covid vorausgesehen?
Nein. Es waren eher Bill Gates oder Larry Brilliant, die davor gewarnt haben, aber es ist wirklich ein «Black Swan», also ein unvorhersehbares Ereignis.
Wann sind wir wieder «Back to Normal»?
Ich glaube nicht, dass wir jemals zur «Normalität» des Vor-Covid zurückkehren werden. Die disruptiven Veränderungen, welche die Pandemie für Unternehmen und Organisationen zur Folge hat, sind massiv. Die Welt nach Covid wird eine andere sein – ich denke, eine bessere. Die Pandemie hat Entwicklungen gigantisch beschleunigt, die vorher erst im Ansatz vorhanden waren.
Dazu gehört sicher die Digitalisierung.
Auch, ja. Der Digitalisierungsschub im Zug der Lockdowns hat dazu geführt, dass im stationären Fachhandel, der seit Jahren in der Krise ist, viele Geschäfte noch schneller umdenken müssen. Im Handel führt Corona sicher zu einer breiten Konsolidierung. Von viel grösserer Tragweite ist das radikale Umdenken, das vielenorts stattgefunden hat.
Woran denken Sie, wenn Sie von einem radikalen Umdenken sprechen?
Covid hat gezeigt, dass die Industrienationen allein diese Pandemie nicht eindämmen können. Ohne Einbezug der Entwicklungsländer in die Impfkampagnen lässt sich Covid nicht besiegen. Deshalb kommen wir schlussendlich nicht darum herum, diesen Ländern die Impfung zu bezahlen. Viele Regeln des freien Marktes, der Schutz von Patenten auf Medikamenten, müssen wohl dabei – zumindest temporär – ausser Kraft gesetzt werden. Sonst wird es nicht funktionieren. Schlussendlich ist die Pandemie nichts anderes als eine Feuerprobe dafür, ob wir in der Lage sind, wirklich zusammenzuarbeiten und auch harte Entscheidungen zu treffen. Dies betrifft auch den Klimawandel. Die Notwendigkeit eines grundlegenden Wandels hat eine weltweite Debatte ausgelöst.
Kommt es zum globalen Reset, der die Welt gerechter, sozialer und nachhaltiger macht?
Ich vermute, es wird in diese Richtung gehen. Die Regeln des Kapitalismus ändern sich gerade gewaltig. Wir gehen ins globale Zeitalter des «Sustainable Capitalism» (nachhaltiger Kapitalismus). Darin stehen Sinnhaftigkeit vor Profit und Ökologie vor Ausbeutung der Ressourcen. Verantwortung wird wichtiger – auch in der Wirtschaft. Konsumenten werden künftig das Verhalten von Unternehmen genau beobachten. Wie hat sich das Unternehmen während der Covid-Krise verhalten? Hat es sich solidarisch gezeigt? Konnte man sich auf es verlassen? Hat das Unternehmen veraltete Regeln gebrochen? Die Menschen realisieren auch, dass der kollektive Nutzen – eine gute Gesundheitsversorgung und eine intakte Natur – wichtiger ist als die Anhäufung von Eigentum und Konsum. Nachhaltigkeit ist für die Wirtschaft künftig ein strategisches Muss.
Müssen wir uns vom Wachstum verabschieden?
Nein, denn Nullwachstum ist eigentlich doch eher wider die menschliche Natur. Wir wollen und brauchen Fortschritt. Und doch könnte es zu einem «Gesundschrumpfen» einzelner Branchen kommen, im Tourismus zum Beispiel. Ich hielte es für richtig, Kreuzfahrten zu beschränken. Sie sind ein ungesunder Auswuchs des Reisens. Ich bin mir zudem sicher, dass Arbeit in Zukunft einen neuen Wert erhält, und dann landen wir wieder bei der Idee des garantierten Minimumeinkommens. Um dies zu finanzieren, könnte ich mir eine Digitalsteuer oder eine sogenannte «digitale Dividende» vorstellen.
Welche sind die wirtschaftlichen Gewinner?
Unternehmen, die Lösungen für die CO2-Reduzierung anbieten, gehören sicher zu den Gewinnern, denn die Dekarbonisierung ist das grösste Business der nächsten 20 Jahre. Die Pandemie hat uns vor Augen geführt, wie verletzlich die globalen Lieferketten sind, nun könnte dies der Kreislaufwirtschaft zum Durchbruch verhelfen. Also alle Firmen, die mit Nachhaltigkeit und erneuerbaren Ressourcen zu tun haben, können mit einer goldenen Zukunft rechnen. Zudem stehen wir am Anfang der Entwicklung neuer Technologien, zum Beispiel bei den Batterien. Der Trend, wieder vermehrt in der Nähe zu produzieren und in regionale Wertschöpfungsnetze zu investieren, wird sich verstärken. Zu den Gewinnern gehören auch die Gesundheitsvorsorge. Es ist nicht ausgeschlossen, dass dank der mRNA-Technologie, auf der ja viele Covid-Impfstoffe basieren, innerhalb der nächsten zehn Jahre der Krebs besiegt werden kann. Grundsätzlich können sich alle Unternehmen, die mit diesen neuen Paradigmen vertraut sind, gute Chancen ausrechnen.