Interviews

Interview mit Gern Leonhard

«Die Zukunft beginnt nicht erst in ein paar Jahren, sie ist schon da»

Futurist Gerd Leonhard über das Weiterspinnen von Ideen und Entwicklungen, die sich bereits andeuten, disruptive Veränderungen in der Welt nach der Corona-Pandemie und den Weg ins globale Zeitalter des nachhaltigen Kapitalismus.
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Herr Leonhard, Sie sind Futurist und erklären uns die Zukunft. Wie kamen Sie dazu? 
Ich lebte lange in den USA als Musiker und Produzent. Dort ist der Beruf «Futurist» völlig normal. Mitte der 1990er-Jahre startete ich dort ein Online-Music-Business. Wir fanden In­vestoren und machten so etwas wie Getty Images für Musik-­Lizenzen – einfach mindestens zehn Jahre zu früh. Als 2001 die Inter­netblase platzte, die Börsenkurse im Keller waren und noch 9/11 hinzukam, waren wir Konkurs. Ich schrieb dann mit Dave Kusek «The Future of Music», mein erstes Buch, das sich global verkaufte und in 15 Sprachen übersetzt wurde. Darin ­sagten wir voraus, dass künftig Musik wie fliessendes Wasser immer und überall verfügbar sei. Plötzlich war ich für viele Leute ein ­Futurist. Ach ja, heute mutmassen mein Co-Autor und ich manchmal, dass die Gründer von Spotify ihre Geschäftsidee aus un­serem Buch abgeleitet haben.

Heute sind Sie weltweit als Keynote-Speaker unterwegs. Wie gehen Sie vor bei Ihrer Arbeit: Schauen Sie in eine Glaskugel?
Nein, natürlich nicht. Ich beschäftige mich mit Dingen, die noch nicht ganz da, aber bereits offensichtlich sind; es geht oft um künstliche Intelligenz, Nachhaltigkeit und Cloud Computing. Vielen grossen Firmen, oft auch Regierungen, fehlt einfach die Zeit zu aufwendigen Recherchen. Natürlich lese ich sehr viel, ein Grossteil ist natürlich Fachliteratur. Ich versuche, der Zeit immer drei bis fünf Jahre voraus zu sein. 

Können Sie uns ein Beispiel nennen? 
2010 hielt ich vor Top-Managern eines deutschen Autoher­stellers eine Keynote zur Zukunft der Mobilität. Ich sprach von Carsharing, jungen Menschen, die keinen Fahrausweis mehr ­erwerben wollen und selbstfahrenden Autos. Dafür erntete ich Spott und Gelächter, aber schon damals war klar, dass wir uns vom Benzinmotor verabschieden werden. Sie sehen: Ich werde immer dann geholt, wenn «Imagining the Future» gefragt ist. Das Weiterspinnen von Ideen und Entwicklungen, die sich bereits andeuten. Die Zeichen, dass in zehn Jahren das Öl-Zeitalter endet, sind bereits sichtbar – wenn man es sich eingesteht.

Wie bewegen wir uns in fünf Jahren fort? 
Ein benzingetriebenes Auto zu kaufen, wird eine Rarität sein – ebenso wie bald danach der Besitz eines eigenen Autos. In zehn Jahren erfolgt Mobilität hauptsächlich on-demand. Die Mobilitätsindustrie wird eine Flatrate, ein Abonnement, anbieten, mit dem wir verschiedene Transportmittel nutzen können. Dies kann der ÖV sein, ein selbstfahrendes Auto oder ein E-Trottinett. 

Haben Sie auch Covid vorausgesehen? 
Nein. Es waren eher Bill Gates oder Larry Brilliant, die davor ­gewarnt haben, aber es ist wirklich ein «Black Swan», also ein unvorhersehbares Ereignis.

Wann sind wir wieder «Back to Normal»?
Ich glaube nicht, dass wir jemals zur «Normalität» des Vor-Covid zurückkehren werden. Die disruptiven Veränderungen, welche die Pandemie für Unternehmen und Organisationen zur Folge hat, sind massiv. Die Welt nach Covid wird eine andere sein – ich denke, eine bessere. Die Pandemie hat Entwicklungen gigantisch beschleunigt, die vorher erst im Ansatz vorhanden waren.

Dazu gehört sicher die Digitalisierung. 
Auch, ja. Der Digitalisierungsschub im Zug der Lockdowns hat dazu geführt, dass im stationären Fachhandel, der seit Jahren in der Krise ist, viele Geschäfte noch schneller umdenken müssen. Im Handel führt Corona sicher zu einer breiten Konso­lidierung. Von viel grösserer Tragweite ist das radikale Um­denken, das vielenorts stattgefunden hat.

Woran denken Sie, wenn Sie von einem radikalen ­Umdenken sprechen? 
Covid hat gezeigt, dass die Industrienationen allein diese ­Pandemie nicht eindämmen können. Ohne Einbezug der ­Entwicklungsländer in die Impfkampagnen lässt sich Covid nicht besiegen. Deshalb kommen wir schlussendlich nicht darum herum, diesen Ländern die Impfung zu bezahlen. Viele Regeln des freien Marktes, der Schutz von Patenten auf Medikamenten, müssen wohl dabei – zumindest temporär – ausser Kraft gesetzt werden. Sonst wird es nicht funktionieren. Schlussendlich ist die Pan­demie nichts anderes als eine Feuerprobe dafür, ob wir in der Lage sind, wirklich zusammenzuarbeiten und auch harte ­Entscheidungen zu treffen. Dies betrifft auch den Klimawandel. Die Notwendigkeit eines grundlegenden Wandels hat eine ­weltweite Debatte ausgelöst. 

Kommt es zum globalen Reset, der die Welt ­gerechter, sozialer und nachhaltiger macht?
Ich vermute, es wird in diese Richtung gehen. Die Regeln des Kapitalismus ändern sich gerade gewaltig. Wir gehen ins globale Zeitalter des «Sustainable Capitalism» (nachhaltiger Ka­pitalismus). Darin stehen Sinnhaftigkeit vor Profit und Ökologie vor Ausbeutung der Ressourcen. Verantwortung wird wichtiger – auch in der Wirtschaft. Konsumenten werden künftig das Verhalten von Unternehmen genau beobachten. Wie hat sich das Unternehmen während der Covid-Krise verhalten? Hat es sich solidarisch gezeigt? Konnte man sich auf es verlassen? Hat das Unternehmen veraltete Regeln gebrochen? Die Menschen realisieren auch, dass der kollektive Nutzen – eine gute Gesundheitsversorgung und eine intakte Natur – wichtiger ist als die Anhäufung von Eigentum und Konsum. Nachhaltigkeit ist für die Wirtschaft künftig ein strategisches Muss.

Müssen wir uns vom Wachstum verabschieden?
Nein, denn Nullwachstum ist eigentlich doch eher wider die menschliche Natur. Wir wollen und brauchen Fortschritt. Und doch könnte es zu einem «Gesundschrumpfen» einzelner Branchen kommen, im Tourismus zum Beispiel. Ich hielte es für ­richtig, Kreuzfahrten zu beschränken. Sie sind ein ungesunder Auswuchs des Reisens. Ich bin mir zudem sicher, dass Arbeit in Zukunft einen neuen Wert erhält, und dann landen wir wieder bei der Idee des garantierten Minimumeinkommens. Um dies zu finanzieren, könnte ich mir eine Digitalsteuer oder eine sogenannte «digitale Dividende» vorstellen. 

Welche sind die wirtschaftlichen Gewinner?
Unternehmen, die Lösungen für die CO2-Reduzierung an­bieten, gehören sicher zu den Gewinnern, denn die Dekarbo­nisierung ist das grösste Business der nächsten 20 Jahre. Die ­Pandemie hat uns vor Augen geführt, wie verletzlich die globalen Lieferketten sind, nun könnte dies der Kreislaufwirtschaft zum Durchbruch verhelfen. Also alle Firmen, die mit Nach­haltigkeit und erneuerbaren Ressourcen zu tun haben, können mit einer goldenen Zukunft rechnen. Zudem stehen wir am ­Anfang der Entwicklung neuer Technologien, zum Beispiel bei den Batterien. Der Trend, wieder vermehrt in der Nähe zu ­produzieren und in regionale Wertschöpfungsnetze zu ­in­vestieren, wird sich verstärken. Zu den Gewinnern gehören auch die Gesundheitsvorsorge. Es ist nicht ausgeschlossen, dass dank der mRNA-Technologie, auf der ja viele Covid-Impfstoffe basieren, innerhalb der nächsten zehn Jahre der Krebs besiegt werden kann. Grundsätzlich können sich alle Unternehmen, die mit diesen neuen Paradigmen vertraut sind, gute Chancen ausrechnen.

Wie stehen die Chancen der Schweiz, unbeschadet aus der Pandemie zu kommen?
Ziemlich gut. Sie hat eine äusserst innovative KMU-Wirtschaft mit unzähligen Hidden Champions und verfügt über ­hervor­ragende Forschung in den Bereichen künstlicher Intel­ligenz, Robotik und Health Care. Was dem Land allzu oft fehlt, sind mehr Mut, Leadership zu leben, und Risikofreude. Diese ­Eigenschaften, im Grunde genommen ist es das «Zukunfts-­Denken», braucht es, wenn man vorausgehen und die grossen Themen der Welt früher als andere anpacken will. Umso mehr hat es mich gefreut, dass Bundesrätin Simonetta Sommaruga in Glasgow bei «COP26» (Anm. der Red.: UN-Klimakonferenz in Glasgow 2021) gesagt hat, dass wir den Kohleverbrauch nicht bloss reduzieren, sondern gleich ganz darauf verzichten sollten. Das fand ich mutig.

Worauf müssen sich Schweizer KMU in Zukunft einstellen? 
Sie sollten die technologischen Möglichkeiten, die sich heute anbieten, «umarmen», gleichzeitig aber auch menschliche Werte wie die Privatsphäre schützen. Dazu gehören heute zum Beispiel alle Facetten von Industrie 4.0. Sie bietet Schweizer KMU beste Möglichkeiten auf dem Weltmarkt. Die Schweizer KMU-Wirtschaft wird sich in der Folge künftig noch globaler ausrichten. Voraussetzung dazu ist, dass sie vermehrt auf das Anbieten virtueller Produkte umschwenkt. Viele KMU werden auch von der «Glokalisierung» profitieren. Der Begriff steht ­dafür, die Produktion wieder vermehrt in die Schweiz zu ver­lagern. Unternehmen profitieren künftig auch von virtuellen Netzwerken, die es ihnen erlauben, flexibel Talente aus der ­ganzen Welt zu rekrutieren.

Die Arbeitnehmer kommen also vermehrt unter Druck? 
Nicht unbedingt. Es ist eine Tatsache, dass Covid die Arbeits­kultur verändert hat. Viele Angestellte haben im Homeoffice ihr Potenzial entfaltet und Unternehmergeist entwickelt. Speziell die USA erleben zurzeit eine Welle von Kündigungen, man ­redet dort von «The Great Resignation». Immer mehr Angestellte machen sich selbstständig und wollen nicht mehr ein kleines ­Rädchen in einer grossen Firma sein. 

Roboter und die Digitalisierung bedrohen Jobs. Was sagen Sie dazu?
Das ist teilweise so, aber die Angst vor der Zukunft spielt bei ­diesen Bedrohungen eine grosse Rolle. Repetitive Abläufe und Routinen führen in Zukunft immer mehr Roboter oder Softwareprogramme aus. Aber überall dort, wo Intuition, Emotionen oder Visionen gefragt sind, haben Maschinen das Nach­sehen. Sie können es nicht. Hier geht es nicht ohne den mensch­lichen Faktor. Unsere Zukunft ist, wieder mehr Mensch zu ­werden, nicht weniger.

Ist den Maschinen nicht zu trauen?
Es kommt darauf an. Die digitale Transformation kann in jedem traditionellen Unternehmen Erstaunliches bewirken. Alles sollte so gut vernetzt sein wie notwendig, aber nicht mehr. Andernfalls riskieren wir den Aufbau einer neuen Art von Meta-In­telligenz, die unseren «freien Willen» eindämmen könnte. Wenn wir uns also über die Autorität der heutigen digitalen Wächter sorgen, müssen wir uns fragen, wie unsere Zukunft denn aus­sehen sollte. Dort geht es dann um Verantwortung, ­Gesetze und Vorschriften für Apps und digitale Servicedienstleistungen. Ich warne deshalb oft vor den unbeabsichtigten ­Folgen des exponentiellen technologischen Fortschritts. Ohne Regulierungen wird es in Zukunft nicht gehen.

Was wünschten Sie sich für die Schweizer KMU-­Wirtschaft? 
Die Transformation der Schweizer Wirtschaft in Richtung Nachhaltigkeit ist das grosse Thema heute. Hier sehe ich eine Unmenge von Start-ups mit Potenzial, zum Beispiel im Bereich des klimaneutralen Fliegens. Hier könnte die Schweiz global eine bedeutende Rolle spielen. Risikokapitalgeber vergeben sich hier aktuell eine Menge Chancen.

Welchen Ratschlag für die Zukunft geben Sie dem CEO eines KMU mit?
Die Welt dreht sich immer schneller. Die Zukunft ist schon heute da, sie beginnt also nicht erst in ein paar Jahren. KMU-Leaders sollten genaue Beobachter der Veränderungen in der Welt und der Branche sein, also ein Bein in der Gegenwart ­haben, eines bereits in der Zukunft. Ich nenne es hybrides ­Denken: Heute leben und morgen verstehen und planen. Ich rate KMU immer wieder, ihren Mitarbeitern gedanklichen ­Freiraum zu geben, damit sie über die Zukunft nachdenken können. Fünf Prozent der Arbeitszeit dafür aufzuwenden, macht sich bezahlt.

Die Pandemie hat Verunsicherung hervorgerufen und Ängste geweckt. Sagen Sie uns, müssen wir Angst ­haben vor der Zukunft?
Nein, die Zukunft ist viel besser, als viele denken – wir müssen nur besser darauf vorbereitet sein. Technologie und Wissenschaft verbessern ja unser Leben schon tagtäglich. Ich verstehe die Ängste vor Veränderungen wie zum Beispiel der Hyper-Technologisierung. Aber wenn man sich anschaut, was sich durch sie in den letzten Jahren verbessert hat, dann bin ich optimistisch. Der Sieg über viele schwierige Krankheiten ist in Sicht, Kern­fusion könnte innert der nächsten 15 Jahre unsere Energie­probleme lösen, und smarte Maschinen nehmen uns langweilige Arbeiten ab. Die «Green Economy» ohne Kohle, und dann ohne Öl und Gas löst unsere Klimaprobleme und lässt neben­-bei, wie es das World Economic Forum WEF erwartet, Millionen gänzlich neue Jobs entstehen. Die Zukunft wird gut. Ich bin überzeugt davon.

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