Frau Walser, mögen Sie eigentlich den Spagat?
Ja – und wie! Aber warum fragen Sie?
Sie führen gleich zwei KMU, da braucht es allerhand an Fertigkeiten.
Exakt – und der Spagat ist, wenn ich mir das so überlege, ein gutes Beispiel: Die gerade Linie, die bei einem perfekten Spagat entsteht, ist für mich so etwas wie das Sinnbild meiner unternehmerischen Tätigkeit: In all meinem Denken, Handeln und Reagieren will ich authentisch bleiben, aufrichtig und wach, um das grosse Ganze nie aus dem Blick zu verlieren und das kleine Wichtige nie zu vernachlässigen.
Ein Beispiel?
Ich komme eben zurück aus Indien. Dort sind wir nach der Pandemie daran, die Vertriebsstrukturen wieder hochzufahren, um in diesem Riesenmarkt weiter zu wachsen. Die Menschen, das Business allgemein, die Geschäftskultur sind so viel anders als bei uns hier in Europa, und trotzdem bleibt manches gleich. Es braucht neben klarer Analyse auch empathisches Einfühlungsvermögen, die richtigen Worte im richtigen Moment und die Zuversicht, dass der eingeschlagene Kurs zum Ziel führt.
Apropos: Welche Meilensteine wollen Sie in Europa setzen?
Wir müssen weiter unseren Weg gehen, ohne auf die Konkurrenz zu schielen. Ich verstehe de Sede als agiles, innovatives und erfolgreiches Unternehmen, das aus nachhaltigen Materialien Skulpturen für die Ewigkeit schafft. Seit fast zehn Jahren darf ich nun diese Manufaktur leiten – und wenn ich zurückblicke, erfüllt es mich mit Stolz, was unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geleistet haben: Wir haben uns als Traditionsunternehmen unseren Platz im Markt nicht nur erobert, sondern die Marke gefestigt und die Bekanntheit gesteigert, ohne Abstriche bei unseren Ansprüchen an Qualität, Exzellenz und Innovation zu machen.
Aber de Sede zehrt doch hauptsächlich vom Ruhm ikonischer Modelle.
Einspruch! Zwar ist der berühmte «Tatzelwurm», unser legendäres DS-600, das Firmengründer und Sattlermeister Ernst Lüthy exakt vor einem halben Jahrhundert lanciert hat, auch heute noch immer stark gefragt. Aber mit dem DS-707, in dem der kanadisch-britische Designer Philippe Malouin für uns die postmoderne Ära Schweizer Möbeldesigns mit den klaren Strukturen des Brutalismus verbunden hat, ist uns vor Kurzem ein Wurf gelungen, der rund um den Erdball einschlug. Wir achten und nutzen also gleichsam die Qualität von gestern und schaffen neue Meisterwerke für die Zukunft: formvollendete und nachhaltige Skulpturen, die Generationen überdauern.
Braucht es denn mit der Langlebigkeit Ihrer Produkte überhaupt noch neue Modelle?
Unbedingt. Gerade die Erfahrungen aus der Pandemie haben dem Möbelmarkt nochmals richtig Schub verliehen. Wir alle merkten im Homeoffice, wie sich unsere Bedürfnisse ans Wohnen, ans Arbeiten, an die Erholung und die Möglichkeiten zum Rückzug geändert haben. Früher stand die Polstergruppe im Wohnzimmer, im Esszimmer gabs einen Tisch und in der Küche wurde gekocht. Heute werden diese Räume multipel genutzt. Unser Team hat dazu zusammen mit einem deutschen Designer einen faltbaren Filz-Hocker und einen faltbaren Tisch entwickelt, damit überall in einer Wohnung unabhängig von der restlichen Einrichtung gearbeitet werden kann: Möbel also, die flexibel sind und mehrfach nutzbar.
Wie hat Corona Ihr Unternehmen geprägt?
Sehr stark, wie jedes Unternehmen, denke ich. Wir hatten den Betrieb etwa acht Wochen lang total geschlossen; bei uns haben immer alle gearbeitet oder niemand. Aber wir fanden auch Zeit, neue Ideen zu entwickeln, die Strategie zu schärfen, die Abläufe zu optimieren.
Und wie war der Geschäftsgang?
Wir sind gut durchgekommen. Aber nun freuen wir uns riesig darauf, unsere Produkte und die neue Kollektion wieder direkt dem Fachhandel und den Endkunden vorstellen zu dürfen. Anfang Juni startet der Salone del Mobile, die traditionelle Mailänder Möbelmesse – dort präsentiert sich de Sede mit einem zauberhaften Auftritt unter dem Motto «Change is our lives»: Alles dreht sich, alles bewegt sich – und wir schaffen mitten in dieser bewegten Zeit eine Oase, in der man innehalten und durchatmen kann.
Spüren Sie die aktuelle Rohstoffknappheit, gibt es Lieferschwierigkeiten?
Ja, das spüren wir extrem. Im Moment liefert Russland nicht mehr, in China gibt es Schwierigkeiten und wegen Corona hat Australien die Wirtschaft heruntergefahren. Vor allem werden die Rohstoffe teurer, nicht zuletzt das Holz. Vor zwei Jahren haben wir Holzplatten für 350 Franken eingekauft, heute kosten diese 1400 Franken. Wir sind gezwungen, in nächster Zeit unsere Preise zu erhöhen.
Und wie kommunizieren Sie diese schlechte Nachricht?
Dass wir nicht nach billigeren Lösungen gesucht haben und keine Abstriche bei unserer Qualität und unseren Leistungen machen. Im Gegenteil: Dass wir noch immer auf Kundenwunsch produzieren, nicht auf Vorrat. Dass wir die Beratung der Kunden intensivieren, indem wir unsere Vertriebsmitarbeiter und die Angestellten unserer Fachhändler noch besser schulen. Und dass wir, als Unternehmen, das hauptsächlich in der Schweiz produziert, sehr nachhaltig wirtschaften. Das alles sind keine schlechten Nachrichten, sondern ist eine wunderbare Botschaft: Unsere Skulpturen sind auch morgen noch das, was sie gestern waren.
Sie stellen also ein Qualitätsversprechen in den Mittelpunkt?
Wir bemühen uns, präzise Handwerkskunst mit den natürlichen Materialien, die wir verarbeiten, in Einklang zu bringen. Das ist der Grundgedanke unserer Arbeit. Jedes unserer Polstermöbel ist ein Unikat, hergestellt mit grösstem Respekt für die verarbeiteten Materialien, für das Endprodukt und für die Umwelt.
Steigert die Nachhaltigkeit Ihren Absatz?
Ich weiss es nicht und es interessiert mich auch nicht, weil es kein Verkaufsargument sein darf. Ein externer Advisor sagte mir einmal: «Etwas Nachhaltigeres als eure Produktion gibt es nicht! Und ihr redet nicht einmal darüber, obwohl dies superwichtig wäre in der heutigen Zeit.» Er hat recht: Für uns ist Nachhaltigkeit seit Jahren dermassen selbstverständlich und normal, dass wir gar nicht auf die Idee kamen, diesen Aspekt hervorzuheben! Wir verarbeiten ein Abfallprodukt, wir verarbeiten Naturmaterialien, wir sind uns momentan sogar am Überlegen, wie wir die nicht mehr verwertbaren Lederschnipsel als Polstermaterial nutzen können. Ich habe mir auf die Fahne geschrieben, dass ich in Zukunft in der Öffentlichkeit stärker über die Nachhaltigkeit von de Sede kommunizieren muss.
Sie könnten dazu auch eine grosse Werbekampagne machen.
Wir machen keine Werbung. Wenn wir dafür Geld ausgeben, bezahlen dies letztlich die Kunden. Es nützt uns mehr, wenn wir über soziale Medien wie Instagram oder Pinterest zeigen können, dass Roger Federer beispielsweise auf einem Sofa von de Sede sitzt, Mick Jagger, Tina Turner oder Snoop Dogg sich im DS-1025 «Terrazza» von de Sede fläzen oder im letzten «James Bond» von Daniel Craig ein Möbelstück von de Sede eine Rolle spielte. Das alles steigert die Reichweite unserer Marke – und führt dazu, dass wir bei Interior-Designern und Innenarchitekten immer mehr zu einem Love Brand werden.
Wie haben Sie denn das geschafft?
Als ich 2014 de Sede übernahm, stand die Möbelmanufaktur faktisch vor dem Aus. Und es ist unbestritten, dass es Unternehmen gibt, die irgendwann überholt sind und aus guten Gründen aufgegeben werden. Aber ein Traditionsunternehmen und eine Manufaktur, die ergonomische Qualitätsmöbel herstellt, brauchen wir heute in der Schweiz, zumal viele Leute mehr sitzen und sich weniger bewegen als früher. Mit viel Herzblut, Leidenschaft, Engagement und einem tollen Team sind wir heute über dem Berg – und lernen alle Tag für Tag noch dazu.
Nämlich?
Als ich bei de Sede einstieg, hatten sich das Management und die Produktion entfremdet. Die Direktion verstand nichts von der Manufaktur und fällte Entscheide, die man handwerklich gar nicht umsetzen konnte. So entstand eine Kluft, die zum Absturz führte. Wenn man eine Manufaktur führt, benötigt man ein tiefes Verständnis und Kenntnisse des Handwerks. Und für das Finanzielle braucht man einen hochqualifizierten CFO.