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Warum Chinas Erzeugungskosten seit Jahren zurückgehen

Obwohl die Gehälter in den vergangenen Jahren jeweils im fast zweistelligen Bereich gewachsen sind, sind Chinas Erzeugungskosten heute geringer als im Jahr 2008. Das gewaltige Automatisierungs-Potenzial bedeutet zudem, dass China auch bei weiterhin steigenden Löhnen zu wettbewerbsfähigen Preisen wird produzieren können.
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Europa, die USA und Japan sehen sich mit stagnierenden Preisen konfrontiert. Überraschenderweise gilt das auch für China, wo die Gehälter in den vergangenen Jahren jeweils im fast zweistelligen Bereich angestiegen sind. Dazu kommt, dass Chinas Wirtschaft – in absolutem BIP-Wachstum gerechnet – im laufenden Jahrzehnt (2011 bis 2015) doppelt so schnell wächst als von 2001 bis 2010. Deswegen würde man erwarten, dass auch die Erzeugungskosten genauso wachsen wie die Lohnkosten und die Wirtschaft.

Erzeugerpreisindex rückläufig

Paradoxerweise geht aber der Erzeugerpreisindex (PPI) seit 2011 Jahr für Jahr zurück (siehe Abb. 1). Der PPI-Index hält die Entwicklung des Durchschnittspreises von Waren fest, die von den Fabriken verkauft werden. Die durchschnittlichen Preise, die in China an die Produzenten gezahlt wurden, waren Ende 2014 im Vergleich zum Vorjahr um 3,3 Prozent gesunken. Im gerade begonnenen Jahr des Schafes werden die Preise laut UBS um weitere 2,6 bis 3,2 Prozent fallen. Eine langsame Weltwirtschaft hat die Nachfrage gebremst, was sich in den niedrigeren Erzeugungskosten ausdrückt. Ein Hauptfaktor für die sinkenden Kosten in den vergangenen Monaten waren sicherlich Waren- und Rohstoffpreise. Dennoch erklären die geringen Warenpreise nicht den seit 2011 anhaltenden Rückgang der Erzeugungskosten.

Der Erzeugerpreisindex ist heute auf demselben Level wie 2008. Noch überraschender ist, dass die Erzeugerpreise seit dem Jahr 1996 (das Ausgangsjahr des Indexes) nur um 16,4 Prozent gewachsen sind. Gerade in Zeiten, in denen Controlling und Kostenreduzierung für Unternehmen so wichtig sind, um Gewinnmargen zu behalten, ist der Erzeugerpreisindex ein bedeutendes, oft aber übersehenes Element der chinesischen Wirtschaft.

Unkontrollierbare externe Faktoren spielen heutzutage eine starke Rolle. Man denke an die Währungsaufwertung, die die Waren von Schweizer Unternehmen auf internationalen Märkten auf einen Schlag um 15 Prozent verteuert haben. Gerade deswegen erscheint es besonders wichtig, diese Entwicklungen in China zu versehen. Wie sind diese paradoxen Entwicklungen zu erklären?

Explodierende Lohnkosten

Die explodierenden Lohnkosten tun Chinas Konkurrenzfähigkeit keinen Abbruch. Ein erster wichtiger Punkt: Von 2006 bis 2014, in nur acht Jahren, die unter anderem die schlimmste Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg umfassten, haben sich Chinas durchschnittliche Löhne in der Fertigung verdreifacht (siehe Abb. 2).

Diese explodierenden Lohnkosten werden oft als entscheidender Punkt für Chinas allgemeine Wirtschaftsentwicklung und Konkurrenzfähigkeit gesehen. Es wird darauf geschlossen, dass China seinen Höhepunkt als Produktionsstandort bereits überschritten hat. Internationale Unternehmen, die die Produktion in neue Billiglohnländer oder zurück in den Heimatmarkt verlagern, werden als Beispiele dafür präsentiert, dass Chinas Konkurrenzfähigkeit erodiert.

Sporadische Berichte über Arbeitskräftemangel in Chinas Küstenregionen werden in den Mittelpunkt gerückt. Die Deutung: Die Gegebenheiten des Marktes führen zum Anstieg der Lohnkosten, was wiederum Chinas Konkurrenzfähigkeit an seine Grenzen bringt. Deswegen glauben viele Beobachter, dass sich Unternehmen nach neuen, mehr profitträchtigen Produktionsstandorten umsehen müssen.

Die meisten dieser Berichte und Analysen übersehen das Faktum, dass die Löhne in der Fertigung vor allem deswegen wachsen, weil die Regierung die Mindestlöhne anhebt (siehe Abb. 3). Das ist Teil von Chinas Strategie, den Inlandsverbrauch zu fördern. Tatsächlich wächst der Inlandsverbrauch nämlich dann am stärksten, wenn die Niedrigverdiener etwas mehr zum Ausgeben in der Tasche haben. Die Mehrverdiener tendieren öfter dazu, einen grösseren Teil ihres Gehalts zu sparen. Dazu kommt, dass Chinas Mittelklasse heute immer noch eine Minderheit der Konsumenten ausmacht. Erhöht man die Kaufkraft der Mittelklasse, erzielt man deswegen nicht den optimalen Effekt für Gesamtkonsumation im Land.

Zurück in die Heimat

Der drastische Anstieg der Mindestlöhne drängt sicherlich jene Unternehmen in Billiglohnländer wie Bangladesch oder Kambodscha, die billige, arbeitsintensive Produkte in grosser Zahl herstellen. Dazu zählen Bauwoll-T-Shirts für den Massenmarkt, Sportschuhe, Plüschtiere und mehr.

Es ist auch ein Fakt, dass viele internationale Unternehmen wieder den Weg in die Heimat suchen. Laut einer Umfrage der Boston Consulting Group verlegen 21 Prozent der amerikanischen Firmen in China die Produktion wieder zurück in die USA oder planen diesen Schritt. BCG vermutet, dass mindestens 200 Firmen bereits zurückgezogen sind. Auch japa­nische Grossunternehmen machen den­selben Schritt: Panasonic hat im Januar bekannt gegeben, dass das Unternehmen den Grossteil der Herstellung von Haushaltsgeräten von China nach Japan ver­lagern wird.

Als Hauptgrund für diese Schritte werden wachsende Lohnkosten angegeben. Wenn es aber nur um wachsende Lohnkosten ginge, würden solche Unternehmen eher in Billiglohnländer wie Vietnam ziehen. Oder zum Beispiel nach Indonesien, das sogar noch niedrigere Lohnkosten als Vietnam vorweist.

Trotz den schnell wachsenden Lohnkosten sind die Löhne im chinesischen Binnenland immer noch vergleichbar mit Vietnam. Zum Beispiel Anhui, mit dem Hochgeschwindigkeitszug in wenigen Stunden von Shanghai erreichbar, hat nur um 20 Prozent höhere Lohnkosten als Vietnam. Es müssen also auch andere bestimmende Faktoren im Spiel sein.

Stark wachsender Export

Wenn der Anstieg der Lohnkosten ein kritischer Faktor für die Abwanderung von produzierenden Unternehmen wäre, müsste man annehmen, dass chinesische Ausfuhren an Boden verlieren. Es passiert aber das Gegenteil. Chinas Export-Performance ist aussergewöhnlich. Nach Chinas Beitritt zur Welthandelsorganisation im Jahr 2001 wuchsen die Ausfuhren in schwindelerregende Höhen auf fast 1,2 Billionen US-Dollar im Jahr 2009. China löste Deutschland als Top-Exporteur der Welt ab. In derselben Zeitperiode wuchs Chinas Anteil an den weltweiten Exporten von 4,3 Prozent auf 9,6 Prozent.

Dazu kommt, dass dieses Wachstum sowohl bei arbeitsintensiven Produkten vom Fliessband als auch in der Schwer­industrie und im Bereich Hightech passierte. Chinas Anteil an den Weltexporten stieg in der Kleidungsbranche von 17,4 auf 32,1 Prozent, bei Möbeln von 7,5 auf 25,9 Prozent, bei Schiffen von 4,1 auf 19,5 Prozent, in der Telekommunikation von 6,5 auf 27,8 Prozent und bei Bürogeräten und Computern von 4,9 auf 32,6 Prozent.

Seit 2009 nimmt Chinas Anteil am Welthandel weiterhin zu. Das Land hat die Exporte seit 2007 verdoppelt: Damals wurden pro Monat Waren im Wert von 100 Milliarden US-Dollar exportiert, Ende 2014 waren es Waren im Wert von 200 Milliarden US-Dollar. Damit hat China das durchschnittliche Exportwachstum der Weltwirtschaft ständig übertroffen. 2009 war China für 9,6 Prozent der weltweiten Exporte (in US-Dollar) verantwortlich, 2013 bereits für 11,7 Prozent (siehe Abb. 4).

Gesunde Textilindustrie

Zieht man alle Faktoren in Betracht, wird schnell klar, dass die stark gestiegenen Löhne weder Chinas Produktionskosten gesteigert noch die Konkurrenzfähigkeit im Export gemindert haben. Deswegen sind die steigenden Lohnkosten auch nicht der Hauptgrund für die Abwanderung aus China und die Verschiebung der Produktion in andere Billiglohnländer.

So erwirtschaftet zum Beispiel die Textilindustrie in China ständig wachsende Profite. Und das, obwohl die Textilbranche zu den sensibelsten gehört, was die Steigerung der Lohnkosten anbelangt. Aufgrund der Arbeitsintensität zählen Textilunternehmen normalerweise zu den ersten, die in Billiglohnländer abwandern. Im Jahr 2013 war China für 37,1 Prozent der weltweit produzierten Textilien verantwortlich. 80 Prozent aller handgemachten Fasern werden ebenso in China hergestellt. 2013 wuchs Chinas Textilindustrie um 8,3 Prozent, für 2014 wird ein Wachstum von 7,4 Prozent prognostiziert.

China versus USA

Anstatt wachsender Umsätze und Profite müssten wir aber sinkende Gewinne und langsameres Wachstum sehen, wenn die Industrie wirklich unter starkem Druck durch die Abwanderung von Unternehmen stehen würde.

Werfen wir einen Blick auf jene Textil­unternehmen, die ihre Produktion zurück in die USA verlegt haben. Die Kosten der Herstellung von Bekleidung sind vor allem aufgrund der Arbeitsintensität in den USA immer noch bedeutend höher als in Asien (bis heute wurden noch keine Roboter oder Maschinen erfunden, die Bekleidung herstellen können).

Obwohl die Stoffe in den USA günstiger sind, sind die Gesamtkosten in Asien immer noch um 20 Prozent niedriger. Dieser Unterschied ist aber nicht gross genug, um die Entscheidung für die Herstellung in Asien zu einem Kinderspiel zu machen.

Die Nähe zum Kunden und die Fähigkeit, schnell zu liefern und damit auf Mode- und Kundentrends eingehen zu können, die Risikominimierung in Sachen Lagervorräte – all das sind Gründe, die für die Produktion in den USA und gegen einen wochenlangen Transportweg auf hoher See sprechen. Deswegen expandieren einige Kleidungshersteller in den USA und in Europa. US-Textilexporte wuchsen 2012 um satte 37 Prozent. Ein wichtiger Faktor für diesen (noch moderaten) Aufschwung ist die neue Konkurrenzfähigkeit der Produzenten von Stoffen und Textilien. Sogar chinesische Unternehmen eröffnen Spinnereien in den USA. Ein Beispiel ist die Hangzhou Ke’er Gruppe, die zurzeit eine Baumwollgarnfabrik in South Carolina baut. Das Spinnen von Baumwolle ist in den USA also wieder zu einem lukrativen Geschäft geworden, das sogar Private-Equity Investoren anlockt. Doch was hat sich geändert?

Das Beispiel einer amerikanischen Baumwollspinnerei, die in den 90er-Jahren geschlossen und 2010 (von Parkdale Mills in Gaffney, South Carolina) wieder eröffnet wurde, liefert einen wichtigen Hinweis. Es gibt nämlich einen fundamentalen Unterschied in der Produktion dieser Spinnerei: Heute werden pro Woche mit 140 Arbeitskräften 1,1 Tonnen Garn erzeugt. 1980 waren für denselben Output mehr als 2000 Arbeitskräfte nötig.

Im Bereich der Baumwollspinnerei hat die USA gegenüber China Vorteile. Nicht nur durch die Effizienz durch bessere Technologien – amerikanische Baumwolle ist international konkurrenzfähig, die Energiepreise sind auf dem halben Level von China, und auch Gewerbeflächen sind günstiger als im Reich der Mitte. Die Haupterkenntnis ist aber: Für den Grossteil der Fertigungswirtschaft gilt, dass die Automation die Lohnkosten weniger relevant werden lässt, weil Fabriken mit immer weniger Arbeitskräften immer mehr produzieren können.

Hohes Potenzial für Automation

In anderen Worten ausgedrückt: Der Hauptgrund für die steigende Produktions-Konkurrenzfähigkeit von entwickelten Volkswirtschaften sind nicht unbedingt die wachsenden Lohnkosten in Entwicklungsländern. Einen viel grösseren Einfluss hat die Tatsache, dass die entwi­ckelten Volkswirtschaften immer mehr Arbeitskräfte durch Maschinen ersetzen. Dieser Prozess wird durch die technologischen Entwicklungen im Bereich der Informationstechnologie und künstlichen Intelligenz beschleunigt, während gleichzeitig die Preise rasch fallen. Heute kostet ein Roboter, der eine monotone Arbeit durchführen kann, zehnmal weniger als vor zehn Jahren.

Der Fokus auf Automation ist für Chinas Fertigungswirtschaft von entscheidender Bedeutung, wenn sie anhand von rasch wachsenden Lohnkosten konkurrenz­fähig bleiben will. Es ist nicht allzu bekannt, dass China im Jahr 2013 zum weltgrössten Markt für Robotik aufstieg und für 20 Prozent der weltweiten Roboter­verkäufe sorgt. Im Durchschnitt wuchs der Bestand an Industrierobotern in China zwischen den Jahren 2008 und 2013 um 36 Prozent pro Jahr. Dennoch wird China sein Potenzial noch lange nicht ausgeschöpft haben. Im Jahr 2013 hatte China noch fast 20-mal weniger Roboter pro Arbeitskraft im Einsatz als Südkorea.

Ein Blick in die Zukunft

Neben der offensichtlichen Schlussfol­gerung, dass China für Unternehmen im Bereich der Robotik und Automation ein gewaltiger Wachstumsmarkt ist, gibt es noch weitere interessante Konsequenzen. Zuallererst: Technologie wird für Unternehmen immer wichtiger, nicht nur in entwickelten Volkswirtschaften, sondern auch in China. Auch die Dienstleistungs-branche erhält durch Technologie enorme Wachstumschancen, zum Beispiel durch die Verfügbarkeit von professionellen Konsumentendatenbanken, die optimierten Service für chinesische Kunden gewährleisten.

Die Nähe zu Kunden wird ebenfalls immer wichtiger. Wenn die Lohnkosten weniger relevant werden und die Technologie sowie gut ausgebildete Fachkräfte mehr entscheidend sind, werden sich die Erzeugungskosten an verschiedenen Orten angleichen. Können die Maschinen vor Ort individuell adaptiert und bedient werden, macht eine Produktion nahe am Kunden Sinn. Bei ähnlichen Kosten bietet die Nähe zum Kunden den entscheidenden Vorteil, die Kundenwünsche besser verstehen und erfüllen zu können. Mit der Produktion vor Ort fallen natürlich auch Zölle und Transportkosten weg, dazu wird Zeit gespart.

Aus diesem Blickwinkel betrachtet, schaffen Chinas enormes Marktpotenzial und die Anstrengungen im Bereich der Technologie die Möglichkeit, im Reich der Mitte eine noch stärkere Fertigungswirtschaft aufzubauen. Die anderen Entwicklungsländer mit grosser Bevölkerung werden Probleme haben, aufzuholen, wenn sie technologisch hinterherhinken.

Fazit für ausländische Firmen

Für ausländische Unternehmen bedeutet das, den Tochterfirmen Flexibilität zuzugestehen, um nahe an den Konsumenten zu sein und auf die Bedürfnisse der je­weiligen Kunden eingehen zu können. In der Swiss Center Shanghai-Studie «2014 China Business Survey» stuften die Befragten den «Mangel an Unterstützung und Verständnis vom Mutterunternehmen» als zweitgrösste Herausforderung für die China-Geschäfte ein. China wird auch weiterhin zu wettbewerbsfähigen Preisen produzieren.

Die momentane Exportstärke Chinas und das gewaltige Automatisierungs-Potenzial sprechen eine deutliche Sprache: Die Löhne können weiterhin wachsen, gleichzeitig werden aber auch mehr Arbeitskräfte durch Roboter ersetzt werden. Momentan zeichnet sich ein verlangsamtes Lohnwachstum ab. Es wird interessant sein, welche Ziele der nächste Fünfjahresplan in Sachen Mindestlöhne im Jahr 2016 festlegen wird.

Die internationale Konkurrenzfähigkeit hängt auch davon ab, ob es China gelingen wird, die Arbeitskräfte schnell genug auszu­bilden. Die Ausbildung von Fachkräften ist eine Herausforderung. China hat den Vorteil, auf einen riesigen Pool an Auslandsstudenten zurückgreifen zu können, die die Mängel des eigenen Bildungssystems ausgleichen sollen. Für eine langfristig erfolgreiche Entwicklung ist die Verbesserung des chinesischen Bildungssystems aber ein ganz zentraler Faktor.

Sowohl chinesische als auch ausländische Unternehmen sind deutlich effizienter geworden. Die Preise werden in den kommenden Jahren wahrscheinlich nicht wachsen. Zur gleichen Zeit werden die Kosten aber steigen. Deswegen müssen Manager nicht nur das Wachstum, sondern auch höhere Effizienz und Produktivität im Kopf haben.

Herausforderung für CH-Firmen

Schweizer Firmen haben zusätzliche Herausforderungen zu bewältigen – und zusätzliche Chancen tun sich auf. Die plötzliche Aufwertung des Schweizer Frankens bedeutet für diejenigen, die ihre Produkte im preissensiblen chinesischen Markt verkaufen wollen, umso mehr Fokus auf Effizienz legen zu müssen. Gleichzeitig werden chinesische Produkte in vielfältiger Hinsicht günstiger. Nicht nur durch den Wechselkurs, sondern auch die geringeren Produktionskosten und das Freihandelsabkommen machen chinesische Erzeugnisse günstiger. Das bietet eine Chance, durch Materialbeschaffung und Produktion in China den starken Franken auszugleichen.

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