Eine Zielsetzung, welche beinahe zu jeder ERP-Einführung definiert wird, ist die «Umsetzung konsequent im ERP-Standard». Das Statement kommt nicht von ungefähr, haben doch viele ihr ERP-System während und /oder nach der Einführung derart individualisiert, dass sie nun mit hohen Kosten, Intransparenz, Releaseunfähigkeit und risikoreicher Ablösung konfrontiert sind. Die Zielsetzung, nahe am ERP-Standard zu bleiben, macht also durchaus Sinn – aber ist sie wirklich umsetzbar?
Ehrgeizige Zielsetzung
Obschon das Ziel praktisch für jede neue ERP-Einführung definiert und propagiert wird, wird es nur selten wirklich erreicht. Meist wird trotz der Zielsetzung mächtig programmiert und individualisiert. Einige schaffen es, noch bis zur Abnahme der Detailspezifikation weitgehend im ERP-Standard zu bleiben, doch spätestens in der Umsetzung wird das noble Ziel öfters verdrängt, elegant wegargumentiert, und mehr und mehr Ausnahmen zugelassen. Ist die Umsetzung nahe am ERP-Standard also nur eine Illusion? Ein toller Vorsatz, welcher unmöglich einzuhalten ist?
Es ist bekannt, dass ERP-Einführungen weitab vom Standard zu erheblichen Herausforderungen im Projekt und im nachgelagerten Betrieb führen können. Daher hat sich das Ziel «Umsetzung konsequent im ERP-Standard» praktisch für jedes ERP-Projekt eingebürgert. Es gehört zum guten Ton, das Ziel zu formulieren. Denn wer dieses Ziel nicht nennt und nicht als zentralen Erfolgsfaktor für das Projekt propagiert, wird schnell als «blauäugig» taxiert.
Doch es ist das eine, das Ziel aufzuführen, etwas anderes, es auch umzusetzen. Meist wird das Ziel viel zu leichtfertig formuliert, ohne sich ausreichend Gedanken zu machen, welche weitreichenden Konsequenzen dies zur Folge hat, ob es im spezifischen Fall des Unternehmens tatsächlich Sinn macht und wie es sich denn auch umsetzen lässt.
Machbarkeit prüfen
Bevor man sich also dem Ziel der «Umsetzung konsequent im ERP-Standard» verschreibt, gibt es drei zentrale Prüfpunkte, welche sehr sorgfältig und überlegt zu klären sind:
Prüfpunkt 1 – Ist man bereit, Organisation und Prozesse zu verändern und den Systemmöglichkeiten unterzuordnen?
Die Einführung/Ablösung eines neuen ERP-Systems ist eine grosse Chance, Prozesse und Organisation zu verbessern. Versucht man den Ist-Zustand in neuen Systemen abzubilden, sind die Erfolgschancen erfahrungsgemäss sehr tief. Unabhängig davon, ob man sich dem ERP-Standard verschreibt oder nicht, setzt ein ERP-Projekt daher die Bereitschaft voraus, Organisation und Prozesse zu verändern. Denn ein ERP-Projekt ist kein IT-, sondern ein Re-Engineering- respektive Change-Management-Projekt.
Doch damit nicht genug. Verschreibt man sich dem ERP-Standard, geht man noch einen bedeutenden Schritt weiter. Eine Ausrichtung am ERP-Standard bedingt, dass die Prozesse auf die Möglichkeiten im ERP-Standard ausgerichtet werden. Dies setzt Folgendes voraus:
Bereitschaft, die Vorstellungen des Zielzustands den ERP-Möglichkeiten unterzuordnen. Will man nahe am ERPStandard bleiben, werden präzise Zielvorstellungen über die Prozessabläufe, Formulare, Reports etc. nicht immer erfüllt. Die Zielerfüllung fokussiert sich auf das «was wollen wir erreichen», nicht das «wie wollen wir dies erreichen». Dies bedingt eine hohe Flexibilität und Akzeptanz, Prozesse zu teilen anders als vorgesehen abzuwickeln.
Bereitschaft, die Organisation bei Bedarf an den ERP-Möglichkeiten auszurichten, auch in Bereichen, wo man sich dies anders wünschte. Prozessänderungen setzen oft organisatorische Anpassungen voraus. Dies auch in Bereichen, wo man gar keine organisatorischen Anpassungen wünscht.