ICT & Technik

ERP-Einführung

Umsetzung im ERP-Standard hat Konsequenzen

ERP-Einführungen weit ab vom Standard können zu erheblichen Herausforderungen im Projekt und im nachgelagerten Betrieb führen. Daher hat sich das Ziel «Umsetzung konsequent im ERP-Standard» praktisch für jedes ERP-Projekt eingebürgert. Wie realistisch dieses Ziel ist und wie dessen Machbarkeit zu prüfen ist, zeigt nachfolgender Beitrag.
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Eine Zielsetzung, welche beinahe zu jeder ERP-Einführung definiert wird, ist die «Umsetzung konsequent im ERP-Standard». Das Statement kommt nicht von ungefähr, haben doch viele ihr ERP-System während und /oder nach der Einführung derart individualisiert, dass sie nun mit hohen Kosten, Intransparenz, Releaseunfähigkeit und risikoreicher Ablösung konfrontiert sind. Die Zielsetzung, nahe am ERP-Standard zu bleiben, macht also durchaus Sinn – aber ist sie wirklich umsetzbar?

Ehrgeizige Zielsetzung

Obschon das Ziel praktisch für jede neue ERP-Einführung definiert und propagiert wird, wird es nur selten wirklich erreicht. Meist wird trotz der Zielsetzung mächtig programmiert und individualisiert. Einige schaffen es, noch bis zur Abnahme der Detailspezifikation weitgehend im ERP-Standard zu bleiben, doch spätestens in der Umsetzung wird das noble Ziel öfters verdrängt, elegant wegargumentiert, und mehr und mehr Ausnahmen zugelassen. Ist die Umsetzung nahe am ERP-Standard also nur eine Illusion? Ein toller Vorsatz, welcher unmöglich einzuhalten ist?

Es ist bekannt, dass ERP-Einführungen weitab vom Standard zu erheblichen Herausforderungen im Projekt und im nachgelagerten Betrieb führen können. Daher hat sich das Ziel «Umsetzung konsequent im ERP-Standard» praktisch für jedes ERP-Projekt eingebürgert. Es gehört zum guten Ton, das Ziel zu formulieren. Denn wer dieses Ziel nicht nennt und nicht als zentralen Erfolgsfaktor für das Projekt propagiert, wird schnell als «blauäugig» taxiert.

Doch es ist das eine, das Ziel aufzuführen, etwas anderes, es auch umzusetzen. Meist wird das Ziel viel zu leichtfertig formuliert, ohne sich ausreichend Gedanken zu machen, welche weitreichenden Konsequenzen dies zur Folge hat, ob es im spezifischen Fall des Unternehmens tatsächlich Sinn macht und wie es sich denn auch umsetzen lässt.

Machbarkeit prüfen

Bevor man sich also dem Ziel der «Umsetzung konsequent im ERP-Standard» verschreibt, gibt es drei zentrale Prüfpunkte, welche sehr sorgfältig und überlegt zu klären sind:

Prüfpunkt 1 – Ist man bereit, Organisation und Prozesse zu verändern und den Systemmöglichkeiten unterzuordnen?

Die Einführung/Ablösung eines neuen ERP-Systems ist eine grosse Chance, Prozesse und Organisation zu verbessern. Versucht man den Ist-Zustand in neuen Systemen abzubilden, sind die Erfolgschancen erfahrungsgemäss sehr tief. Unabhängig davon, ob man sich dem ERP-Standard verschreibt oder nicht, setzt ein ERP-Projekt daher die Bereitschaft voraus, Organisation und Prozesse zu verändern. Denn ein ERP-Projekt ist kein IT-, sondern ein Re-Engineering- respektive Change-Management-Projekt.

Doch damit nicht genug. Verschreibt man sich dem ERP-Standard, geht man noch einen bedeutenden Schritt weiter. Eine Ausrichtung am ERP-Standard bedingt, dass die Prozesse auf die Möglichkeiten im ERP-Standard ausgerichtet werden. Dies setzt Folgendes voraus:

Bereitschaft, die Vorstellungen des Zielzustands den ERP-Möglichkeiten unterzuordnen. Will man nahe am ERPStandard bleiben, werden präzise Zielvorstellungen über die Prozessabläufe, Formulare, Reports etc. nicht immer erfüllt. Die Zielerfüllung fokussiert sich auf das «was wollen wir erreichen», nicht das «wie wollen wir dies erreichen». Dies bedingt eine hohe Flexibilität und Akzeptanz, Prozesse zu teilen anders als vorgesehen abzuwickeln.

Bereitschaft, die Organisation bei Bedarf an den ERP-Möglichkeiten auszurichten, auch in Bereichen, wo man sich dies anders wünschte. Prozessänderungen setzen oft organisatorische Anpassungen voraus. Dies auch in Bereichen, wo man gar keine organisatorischen Anpassungen wünscht.

Bereitschaft, den Einführungspartner in der Definition des Zielzustands sehr früh und eng einzubinden. Prozessablauf-Spezifikationen, bei welchen der Einführungspartner nicht intensiv involviert ist, lassen sich nicht im ERP-Standard umsetzen. Eine frühe und enge Zusammenarbeit mit einem Partner, welcher es versteht, «smarte» Lösungen für individuelle Kundenbedürfnisse im Standard zu finden, ist daher entscheidend.

Im Fall von globalen Rollouts: Bereitschaft, die Prozesse und Organisationsstrukturen global zu vereinheitlichen. Systeme in einer heterogenen Prozess- und Organisationsstruktur zu standardisieren, funktioniert erfahrungsgemäss nicht. Der Gaul kann nicht von hinten aufgezäumt werden.

Prüfpunkt 2 – Ist man wirklich bereit, zu verzichten? Es funktioniert nur mit «Leading by Example».

Oft stellt man fest, dass der gute Vorsatz «Konsequente Umsetzung im ERP-Standard» vom Management selbst als Erste über Bord geworfen wird. Währenddem die Zielsetzung einfach über die Lippen springt, ist deren Umsetzung oft schmerzhaft. Umsetzung im Standard heisst oft auch Verzicht. Dieser Verzicht trifft auch das Management, welches sich wenig gewohnt ist, seine Vorstellungen unterzuordnen. Doch genau hier werden die Weichen gestellt. Hält das Management am Vorsatz nicht fest und gewährt eine «Ausnahme», ist das Zeichen in der Organisation gesetzt und der Grundstein für weitere Anpassungen gelegt.

Für die meisten Anpassungen finden sich bei deren Einzelbetrachtung gute und wirtschaftliche Argumentationen, warum die Ausnahme gewährt werden sollte. Doch die Tragweite einer Anpassung wird dabei oftmals unterschätzt und nicht oder nur un­ge­nügend in der Betrachtung der Wirtschaftlichkeit miteinbezogen. Ist man also wirklich bereit, auch selbst zu verzichten? Es funktioniert nur mit «Leading by Example».

Prüfpunkt 3 – Ist «ERP-Standard» für das Unternehmen überhaupt das Richtige?

Vor lauter Hype um das Ziel «Umsetzung im ERP-Standard» werden nicht selten die Unternehmensstärken verkannt. Wie passend ist eigentlich «Standardisierung» für das Unternehmen? Es gibt Unternehmen, die differenzieren sich über das Produkt oder den Preis. Der Prozess steht also nicht im Vordergrund, die Standardisierung der Prozesse kann daher durchaus Sinn machen. Gerade in der Schweiz gibt es jedoch auch viele Unternehmen, beispielsweise im Grosshandel, welche sich stark über den Prozess differenzieren.

Extra-Services und Added-value-Feinheiten, welche es ausmachen, warum die Kunden dieses Unternehmen über deren Konkurrenz wählen. Standardisierung der Prozesse in solchen Situationen muss überlegt und differenziert erfolgen, man läuft ansonsten Gefahr, vor lauter Standard die zentralen Stärken des Unternehmens wegzurationalisieren. Wie also differenziert sich das im Fokus stehende Unternehmen? Sind es vorwiegend die Prozesse, muss kritischer differenziert werden. Eine Ausrichtung am Standard ist sicherlich immer noch von Vorteil, wo immer möglich, aber zu teilen sollte zugunsten des Marktvorteils bewusst darauf verzichtet werden. Nicht immer ist das Allerheilmittel «Standard» das richtige.

Fazit

Das Ziel «Konsequente Umsetzung im ERP-Standard» ist keine Illusion, sondern durchaus ein sinnvolles und wichtiges Ziel, welches einen wesentlichen Beitrag zum Projekterfolg liefern kann. Die Zielsetzung greift jedoch nur dann, wenn von Beginn weg das Bewusstsein für die Konsequenzen vorhanden ist und die Bereitschaft einer konsequenten Umsetzung vorliegt.

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