Forschung & Entwicklung

Blick aus der Wissenschaft

Zum Führen lernen gehört Lernen führen

Die sogenannte Andragogik bringt Erkenntnisse, wie Erwachsene lernen. Von dieser können grundlegende und zeitüberdauernde Führungscharakteristiken abgeleitet werden.
PDF Kaufen

Was macht eine gute Führungsperson aus? Was sollte sie tun, um Mitarbeitende gut zu führen? Diese Fragen sind stets präsent: bei Leadern, die mit ihren Teams Ziele erreichen wollen, und bei Mitarbeitenden, die jeweilige Führungsstile unmittelbar zu spüren bekommen. Eine Vielzahl an Führungsmodellen adressiert diese Fragen immer wieder (scheinbar) neu, mit stets neuen Bezeichnungen wie Agile Leadership, Ludic Leadership, Transformational Leadership etc. Aber ist gute Führung wirklich so schwer zu beschreiben, beziehungsweise muss diese immer wieder neu erfunden werden? Nicht unbedingt. Ein Perspektivwechsel ist hilfreich zur Identifizierung grundlegender und zeitüberdauernder Führungscharakteristiken – ein Perspektivwechsel weg von der Führungsperson und deren Führungsstil hin zu den «Geführten» und ihrer Lernfähigkeit. Denn gerade aus Erkenntnissen aus dem Lernen von («geführten») Erwachsenen – der Andragogik – können grundlegende und zeitüberdauernde Führungs­charakteristiken abgeleitet werden.

Die Andragogik beschäftigt sich mit der Art und Weise, wie Erwachsene lernen. Die Anwendung von Erkenntnissen der Andragogik auf Führungssituationen erscheint auf den ersten Blick überraschend. Aber nur auf den ersten Blick. Denn auch in Führungssituationen geht es insbesondere darum, dass erwachsene «Geführte» sich Verhaltensweisen und Kompetenzen aneignen zum Zweck einer koordinierten Zielfindung und Umsetzung. Und diese Aneignung geschieht in Situationen guter Führung idealerweise eben nicht als Folge von Zwang, sondern als Folge eines Prozesses des gemeinsamen Erlernens. Wenn wir also besser verstehen, wie Erwachsene gut lernen können, so können auch die Prozesse des gemeinsamen Erlernens in Führungssituationen besser gesteuert werden; und dies wiederum ermöglicht besseres Führen. Was sind also die grundlegenden Erkenntnisse der Andragogik, und wie lassen sich diese in Führungssituationen anwenden? Im Folgenden möchte ich vier grundlegende Erkenntnisse der Andragogik vor- und den Bezug zu guter Führung herstellen. 

Die richtige Balance aus Loslassen und Unterstützen

Zum Ersten wissen wir aus der Andragogik-Forschung, dass Erwachsene dann am besten lernen, wenn sie dies möglichst selbstgesteuert tun können. In gewissen Situationen kommen aber auch erwachsene Lernende an ihre Grenzen und fühlen sich überfordert, was die Fähigkeit zum selbstständigen Handeln dann logischerweise reduziert. In diesen Situationen ist dann Unterstützung erwünscht, zum Beispiel indem Hürden abgebaut oder bisher nicht vorhandene Kompetenzen entwickelt werden. Angewendet auf Führungssituationen bedeutet dies, dass stets die richtige Balance aus Loslassen und Unterstützen gefunden werden muss. Mitarbeitende entfalten sich dann am besten, wenn sie dies im grösstmöglichen Mass selbstgesteuert tun können. Dafür muss eine Führungsperson die entsprechenden Rahmenbedingungen und Vertrauen bereit­stellen. Und die Führungsperson muss dann präsent sein und unterstützen, wenn Mitarbeitende an ihre Grenzen kommen; weil sie beispielsweise nicht wissen, was das Arbeitsziel überhaupt ist, in der Umsetzung auf Widerstände stossen oder schlicht nicht über genügend Wissen oder Kom­petenzen verfügen. Wenn diese Balance zwischen Loslassen und Unterstützen richtig gewählt wird, dann entsteht ein Klima für Lernen, und damit eine gute Führungssituation. 

Der Bezug zur Praxis

Zum Zweiten ergibt sich aus der Andragogik-Forschung, dass Erwachsene am besten lernen, wenn dies mit direktem Bezug zur eigenen Praxis geschieht. Übertragen auf Führungssituationen bedeutet dies, dass Führungspersonen ihre Mitarbeitenden dann ideal fordern und fördern, wenn sie diesen ermöglichen, sich direkt im Berufsalltag immer wieder neu zu beweisen. Es geht hierbei um das Hineinführen in eine Situation, für die ein jeweiliger Mitarbeitender vielleicht noch nicht alles Nötige mitbringt; aber nun eben die Möglichkeit zur selbstständigen Erarbeitung des für die Situation Notwendigen erhält. Diese Erarbeitung findet dann unmittelbar in der Berufspraxis statt, also dort, wo Erwachsene am besten lernen. Die Herausforderung der Führung besteht diesbezüglich einerseits darin, das richtige Mass zu wählen, das heisst, Mitarbeitende nicht in Situationen zu führen, die sie komplett überfordern, sondern tatsächlich ihrem nächsten möglichen Lernsprung entsprechen. Andererseits geht es wiederum um die Bereitstellung von Unterstützungsleistungen, nämlich dann, wenn Mitar­beitende Hilfestellung bei ihrer weitgehend selbstständigen Lösungsfindung benötigen. Eine solche Unterstützungsleistung kann die Form von regelmässigen Coachings, der Zur-Seite-Stellung eines erfahrenen Mentors oder die Wahl einer geeigneten und praxisbezogenen Weiterbildung annehmen. 

Selbstständige Zielsetzung

Zum Dritten gibt die Andragogik-Forschung den Hinweis, dass erwachsene Lernende dann besser lernen, wenn sie Lernziele selbst wählen und für sich als notwendig und sinnvoll erachten. Die Relevanz dieser Erkenntnis für Führungssituationen ergibt sich unmittelbar: Eine gute Führungssituation entsteht dann, wenn Führungspersonen und Mitarbeitende in regelmässigem Austausch stehen über die Qualität des bisher Geleisteten und Erreichten sowie über zukünftige Lernbedürfnisse; und die Mitarbeitenden aufgefordert werden, sowohl neue Lernziele wie mögliche Lernwege für sich zu formulieren. Es soll also ein durch die Führungsperson moderierter Prozess entstehen, bestehend aus der Evaluation des Bisherigen und einem diesbezüglichen konstruktiven Feedback, der davon abgeleiteten Formulierung von neuen Lernzielen und -wegen, dem Lernen direkt anhand der Erarbeitung neuer Lösungen – sowie schliesslich der Evaluation des neu Erreichten.

Individuelle Lernziele ermitteln

Schliesslich steuert die Andragogik-Forschung die Erkenntnis bei, dass Erwachsene dann am besten lernen, wenn bisherige Lernerfahrungen berücksichtigt werden. Denn alle Erwachsenen verfügen über mehrjährige Lernerfahrungen und haben als Folge Lernroutinen und Lernstrategien entwickelt. Die Lernstile unterscheiden sich also zum Teil erheblich; während die einen eher distanziert, beobachtend und zuhörend lernen, lernen andere durch das Sich-Hineinwerfen in soziale Interaktionen und in einem Trial-and-Error-Verfahren. Übertragen auf eine Führungssituation ergibt sich daraus einerseits die Herausforderung, dass Führungskräfte den jeweiligen Lernstil der Mitarbeitenden zunächst identifizieren; zum Beispiel unter Zuhilfenahme eines Lernstil-Tests. Andererseits entsteht die Herausforderung, je nach Lernstil und Entwicklungsziel den richtigen Entwicklungsweg vorzuschlagen und auch Toleranz aufzubringen für Lernwege, die man für sich selbst vielleicht nicht wählen würde.

Führen hat in erster Linie mit Menschen zu tun. Menschen wollen in der Regel Neues lernen. Die Herstellung eines guten Lernklimas ist deshalb auch in Organisationen wichtig. Die Verantwortung dafür tragen die Führungskräfte. Denn wenn Führungskräfte verstehen, wie Mitar­beitende am besten lernen, und ihren Führungsstil entsprechend darauf ausrichten, dann kann gute Führung entstehen. Die grundlegenden und zeitüberdauernden Führungscharakteristiken haben deshalb insbe­sondere auch mit der Fähigkeit zu tun, Erwachsenen in ihrem jeweiligen Arbeitskontext das Lernen zu ermöglichen.

Porträt