Forschung & Entwicklung

Blick aus der Wissenschaft

Wie wird China langfristig wachsen?

Das Wachstum der chinesischen Wirtschaft in den kommenden Jahrzehnten ist entscheidend für die globalen Kräfteverhältnisse. Warum die hohen Wachstumsraten der Vergangenheit künftig moderater werden dürften.
PDF Kaufen

Es lassen sich leicht zwanzig oder mehr Studien zu den langfristigen Wachstumsaussichten von China finden. Viele gehen davon aus, dass sich die Dynamik der ­jüngeren Vergangenheit bald fortsetzt, sobald die Probleme mit dem Corona-­Virus gelöst sind. Danach, so viele dieser ­Auguren, würde die chinesische Wirtschaft langfristig mit fünf oder sechs ­Prozent jährlich weiterwachsen. Tatsäch­lich dürfte Covid-19 bei den Ausblicken bis ins Jahr 2050 und darüber hinaus nicht entscheidend bleiben. Momentan je­doch verstellt das Virus den Blick auf die ­Geschehnisse, denn es ändern sich gerade andere wichtige, langfristige Einflussfaktoren grundlegend.

Wenige Prozente werden die Welt prägen

Das Lowy Institute, ein australischer Think-Tank, wollte es genauer wissen und hat die verschiedenen Wachstumsfaktoren für die chinesische Wirtschaft gründlicher unter die Lupe genommen. Lowys Prognose liegt mit einer Wachstumserwartung von zwei bis drei Prozent jährlich bis 2050 deutlich tiefer als die meisten Vorhersagen von fünf oder mehr Prozenten. Über einige Jahrzehnte hinaus macht dies einen riesigen Unterschied. Zwar dürfte China in beiden Szenarien noch vor 2030 die USA als die grösste Volkswirtschaft überholen. Bei einer Wachstumsrate von durchschnittlich fünf Prozent wäre Chinas BIP 2045 bereits doppelt so hoch wie jenes der USA. Manche trauen China ein noch schnelleres Wachstum zu, so dass Chinas Wirtschaft nach 2050 sogar vier Mal grös­ser als die der USA würde. In solchen Szenarien hätte auch das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen in China ein ähnliches Niveau wie in den USA oder in Westeuropa. 

Sollte aber das Lowy Institute recht behalten, dann würde die chinesische Wirtschaft nach 2030 nicht mehr deutlich grösser werden als die US-amerikanische. Sie wäre um 2050 gerade noch ungefähr 20 Prozent grösser, was angesichts der wesentlich grösseren Bevölkerung Chinas mit einem Pro-Kopf-Einkommen weit unter dem unsrigen einherginge. Aus geopolitischer Sicht ist ohne Übertreibung festzuhalten: Ob China in den nächsten dreissig Jahren eher zwei bis drei oder eher fünf bis sechs Prozent wachsen wird, beeinflusst die globalen Märkte und Kräfteverhältnisse sehr entscheidend.

Wende bei den Arbeitskräften

Es gibt eine Reihe von Wachstumstreibern, die in China den Schwung verlieren. Ein Thema, das auch in unseren Längengraden ein Problem darstellt, ist der Rückgang der verfügbaren Arbeitskräfte. Derzeit leben in China etwas über eine Milliarde Menschen im Alter zwischen 20 und 65 Jahren. Während der 1990er- und 2000er-Jahre nahm diese Zahl jedes Jahr um rund zehn ­Millionen zu, doch seit etwa 2015 kehrt dieser Trend. Zwar gilt die Ein-Kind-­Politik längst nicht mehr. Die Fertilitätsrate liegt in China aber weiter bei sehr tiefen 1,3 Kindern pro Frau, unter den 1,5 in der Schweiz und weit entfernt von den für einen stabilen Bevölkerungsaufbau erforderlichen 2,1. Bis zum Jahr 2030 ist die Abnahme der Menschen im Arbeitsalter noch eher langsam, danach aber dürften die verfügbaren Arbeitskräfte ebenso rasch wieder abnehmen, wie sie um das Jahr 2000 herum zugenommen hatten. Bis etwa 2050 dürften sie wieder unter 800 Millionen fallen, den Stand von 1992.

Demographische Prognosen sind längerfristig recht zuverlässig, vorausgesetzt bei der Ein- und Auswanderung passieren keine unerwarteten Sprünge. Theoretisch könnte China die ausfallenden Arbeitskräfte durch Immigration ersetzen. Aber dies ist für ein so riesiges Land kaum möglich – woher sollten denn all diese Menschen kommen? Aus­serdem dürfte das politische und gesellschaftliche Klima mögliche Einwanderer nach China abschrecken. In China selbst gibt es noch die Binnenwanderung, bei der die zahlreiche Landbevölkerung in die chinesischen Metropolen übersiedelt. Doch selbst dieser Trend verlangsamt sich derzeit deutlich. 

Investitionen nehmen an ­Grenznutzen ab

In ihrem Buch «The Great Demographic Reversal» beschreiben auch Charles Goodhart und Manoj Pradhan, wie das Arbeitskräftewachstum den Aufstieg Chinas zur Werkstatt der Welt beschleunigt hatte. Mit Folgen für die ganze Welt. Dies drückte auf die Preise und liess Zinsen weltweit tief bleiben. Gleichzeitig war das Ausmass der Investitionen in China lange bemerkenswert hoch. Zum Beispiel hat China in den 2010er-Jahren über fünf Prozent seines BIPs in Strassen und Schienen investiert. Ein normaler Wert für ein OECD-Land liegt dagegen bei vielleicht einem Prozent. Investitionen in öffentliche Infrastrukturen haben sich in China in den letzten Jahren auf Werte zwischen 15 und 20 Prozent des BIPs summiert. Auch Investitionen in Wohnhäuser nahmen seit der Jahrtausendwende laufend stark zu und erreichten nach 2010 bis zu 14 Prozent des BIP. 

Doch es fragt sich, ob diese Wachstumstreiber weitere Jahrzehnte in diesen Sphären verbleiben können. Die öffentliche ­Infrastruktur ist immer weiter ausbaubar, aber der Grenznutzen für weitere Projekte nimmt zusehends ab. Ähnliches gilt für die Geschäftsinvestitionen, die auch unter einer zunehmenden China-Skepsis ausländischer Investoren leiden.

Bei den Wohnimmobilien passiert derzeit Bemerkenswertes. Es gibt Chinesinnen und Chinesen, die sich weigern, ihre Hypotheken zu bedienen – im Überwachungsstaat China ein grosses Wagnis. Grund dafür ist, dass diese Menschen ihre Eigentumswohnung Jahre vor deren Erstellung schon voll bezahlt hatten, nun aber bloss einen Rohbau erhalten haben. Es gehört zum Geschäftsmodell grosser chinesischer Baukonzerne, dass sie sich über Vorauszahlungen eigenfinanzieren und so zu weiteren Bankkrediten kommen. Nicht nur das Beispiel Evergrande: Zahlreiche weitere unfertige Bauprojekte untergraben derzeit das Vertrauen der Menschen in Immobilieninvestitionen, die vorher unhinterfragt als sicher und lukrativ galten. Damit dürfte auch dieser Boom zumindest abflachen.

Wie geht es mit der Produktivität weiter?

Wenn Chinas Wirtschaft im gleichen Tempo wachsen sollte wie bisher, dann müsste das Land folglich bei der Produktivität stark zulegen. In den rückblickend erkennbaren Daten lässt sich aber kein chinesisches Produktivitätswunder beobachten. Zu Beginn seines Wirtschaftsaufstiegs hat China zwar bis zu fünf ­Prozent mehr Effizienz beim Einsatz der Produktionsfaktoren pro Jahr erreicht. In anderen Beispielen wie Japan oder den sogenannten Tigerstaaten war dies aber anfangs mindestens gleich ausgeprägt, und überall nahmen die jährlichen Produktivitätsfortschritte mit dem Heranreifen der Wirtschaft allmählich ab. Chinas Produktivitätszuwachs liegt momentan auf einem mediokren Niveau zwischen einem und zwei Prozent. 

Nur wenig spricht dafür, dass hier ein ­entscheidender Sprung nach vorne geschieht. Die technologische Verflechtung mit dem Westen gerät in politische Schwierigkeiten, man denke zum Beispiel an die Verbannung von Google-Apps auf Huawei-Smartphones. Diese laufen immer noch, der Produktivität sind solche Schnitte aber abträglich. ­Steward Black und Allen Morrison, die Auto­ren von «The Global Leadership Challenge», beschreiben den Führungsstil vieler chinesischer Manager als veraltet und damit ungeeignet, bedeutende Effizienzgewinne zu erreichen. Auch im Bildungssystem herrschen eher rückständige Lehrmethoden vor. Universitäten sind zwar riesig und zahlreich, die Top­adressen sind aber im Westen zu fin­den. Ein hierarchisches, auf Kontrolle und Gleichschaltung erpichtes politisches Umfeld hat die Kreativität einer Wirtschaft noch selten gefördert. Kreativität ist jedoch Voraussetzung für eigene, echte Innovation. 

China ist in vielen Hinsichten speziell, schon wegen seiner Grösse, und Vergleiche zu anderen Ländern mögen hinken. Wie sich die Produktivität langfristig entwickeln wird, ist in jeder Langfristprognose die grosse Unbekannte. Trotzdem spricht einiges dafür, dass es China nicht anders ergehen könnte als Japan und den Tigerstaaten nach 1998, oder Westeuropa nach 1973: Eine fulminante Wachstumsphase erschöpft sich eines Tages.