Forschung & Entwicklung

Managementlehre

Wie Schweizer CEO ihre Arbeit strukturieren

Henry Mintzberg, Professor an der McGill Universität in Canada und prägender Denker der Managementlehre, stellte sich bereits 1973 gegen die gängige Vorstellung, die Managementliteratur widerspiegle die tatsächliche Managementpraxis. Die Hochschule Luzern hat deshalb untersucht, wie die Situation bei heutigen CEO aussieht.
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Im Jahr 1973 hat Henry Mintzberg in seinem Werk «The Nature of Managerial Work» mit der Vorstellung des systematisch planenden Managers gebrochen. Bis dahin wurden die Aufgaben des Managements wie folgt definiert: organisieren, koordinieren, planen und kontrollieren. Es herrschte die Vorstellung, dass die Führungspersonen langfristig planen, systematisch analysieren und nur wenig operativ tätig sind. Anhand einer eige­nen Untersuchung und durch die Aufarbeitung anderer Arbeiten zeigte Henry Mintzberg damals aber auch, dass diese Vorstellung weit entfernt war vom Alltag eines Managers.

Schnelle Information bevorzugt

Mintzberg belegte erstens, dass die Arbeit des Managements charakterisiert ist durch Schnelligkeit, Vielfalt und Diskontinuität: Manager müssen sehr viel Verschiedenes tun, haben dafür wenig Zeit und werden immer wieder unterbrochen. Zweitens konnte er zeigen, dass Manager sehr wohl repetitiver Arbeit nachgehen: Sie müssen nicht nur immer wieder neue strategische Entscheide fällen, sondern auch wiederkehrenden Tätigkeiten nachgehen, etwa Zahlungen freigeben oder Kunden zum Essen ausführen. Drittens macht das Management bei den täglichen Entscheidungen nur sehr selten Gebrauch von den komplizierten und vielfältigen Informationssystemen im Unternehmen, sondern verlässt sich dabei mehrheitlich auf Informationen, die es aus Interaktionen gezogen hat. Dazu gehören insbesondere auch Gerüchte, Tratsch und Spekulationen. Diese Informationskanäle sind deshalb wertvoll, weil sie schnell sind und sich dort Veränderungen und Entwicklungen abzeichnen, bevor sie festgehalten worden sind.

Arbeitsbelastung gestiegen

Seit der Studie von Mintzberg sind über 40 Jahre vergangen. Die Managementlehre hat sich in dieser Zeit weiterentwickelt und das Bild des Managers hat sich weiter professionalisiert. Den CEO, der an der Spitze des Unternehmens steht, stellen wir uns als eine Person vor, die Ziele vorgibt, verschiedene Strategien untereinander abwägt und wichtige, zukunftsweisende Entscheide trifft. Doch ist das die Realität? Haben die Entwicklung der Managementlehre und die Unmengen an akademischen Modellen die Tätigkeiten der CEO in ihrer täglichen
Arbeit beeinflusst?

Eine Forschungsgruppe der Hochschule Luzern – Wirtschaft hat dazu eine Studie in Schweizer Unternehmen durchgeführt.­ Sie hat die tägliche Arbeit von sechs CEO aus mittelständischen Unternehmen aufgezeichnet und auf dieselbe Art und Weise analysiert, wie es schon Mintzberg getan hatte. Es konnte nachgewiesen werden, dass auch der planende und strukturierte Manager mehr Wunschvorstellung denn Fakt ist. Im Vergleich der Führungspersonen in den 1970er-Jahren sind die Tätigkeiten heutiger CEO sogar noch fragmentierter, und die Taktung ist noch schneller.

Im Detail: Die Arbeitsbelastung, die Zahl der Kontakte pro Woche und die Informationsflut haben sich seit den 1970er-Jahren signifikant vergrös­sert. Pro Woche arbeiten die sechs befragten CEO durchschnittlich 55 Stunden und sind mit rund 160 verschiedenen Tätigkeiten konfrontiert. Zum Vergleich: Vor 40 Jahren waren es noch 109 Tätigkeiten und 44 Arbeitsstunden. Das Management hat damit heute noch weniger Kapazität, Berichte intensiv auszuwerten und strategische Entscheide darauf abzustützen, so wie es die Lehrbücher empfehlen. Vielmehr sind sie oft operativ tätig: Sie informieren und werden informiert, pflegen Kontakte, führen und treffen in kurzer Kadenz Entscheidungen.

Hoher Kommunikationsbedarf

Manager sind das Zentrum der Information. Gute Führungskräfte haben den Überblick über das Geschehen im Unternehmen, mehr als ihre Mitarbeitenden und sie müssen viel kommunizieren, nach innen und nach aussen. Pro Woche erhalten die Manager im Schnitt knapp 200 E-Mails. Über die Hälfte ihrer gesamten Arbeitszeit sitzen sie in Meetings und nur gerade Mal einen Drittel am Schreibtisch. Diese Zeit hat sich zwar seit den 1970er-Jahren vergrössert, allerdings bedeutet das nicht, dass Manager in ihrem Büro vor allem Rapporte und Berichte studieren können, vielmehr führen sie hauptsächlich Telefonate, und zwar doppelt so viele wie noch vor 40 Jahren. Insgesamt ist die Zunahme der wöchentlichen Kontakte wohl die eindrücklichste Veränderung: Während die von Mintzberg untersuchten Manager pro Woche durchschnittlich 251 Kontakte pflegten, sind es heute 400. Damit stehen den heutigen CEO gerade mal sieben Minuten pro Kontakt zur Verfügung.

In der Art des Informierens und Informiert werden sind insbesondere zwei Veränderungen auffällig: Es wird viel Zeit für geplante Meetings aufgewendet (durchschnittlich 96 Minuten pro geplantem Meeting). Als Konsequenz bleibt weniger Zeit für ungeplante, spontane Gespräche. Tatsächlich gaben vier der beobachteten Geschäftsführer an, dass sie sich zu 100 Prozent an den vordefinierten Tagesablauf gehalten hätten.

Die Untersuchung zeigt ferner, dass Meetings, Gespräche und Telefonate dem schriftlichen Verkehr eindeutig vorgezogen werden. So verwenden die beobachteten CEO viel mehr Zeit in Meetings und mit Gesprächen als mit dem Studium von Dokumenten (nur 12 Prozent der ­E-Mails und 19 Prozent des zusätzlichen schriftlichen Verkehrs werden genauer analysiert). Dies kann damit erklärt werden, dass schriftliche Dokumente nur in sechs Prozent der Fälle sofortiges Handeln verlangen. Es zeigt aber auch, dass Gespräche und Meetings für die befragten CEO wertvoller sind. In persönlichen Interaktionen werden Informationen ungefiltert vermittelt und sind zudem oftmals aktueller und informeller als jene Angaben, die schriftlich festgehalten wurden.

Kontakte pflegen und führen

Heutige Leadership-Ansätze vermitteln das Bild, dass ein CEO oder das Management vor allem Kontakte pflegt, um zu führen. Ein Blick in den Alltag der befragten CEO zeigt jedoch anderes. Nur gerade 43 Prozent der verbalen Kontakte betreffen Mitarbeitende. Der CEO ist demnach neben seiner Rolle als Führungsperson genauso Repräsentant des Unternehmens und Vernetzer nach aussen. Das bestätigt Jörg Lienert, über 30 Jahre CEO seines gleichnamigen Unternehmens im Bereich Personalvermittlung. Lienert ist sogar überzeugt davon, dass CEO heute noch stärker als Botschafter gefragt sind als früher. «Mit den neuen Medien hat sich nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Notwendigkeit ergeben, individueller zu kommunizieren.»

Verglichen mit den 1970er-Jahren haben sich diese Rollen noch weit deutlicher verstärkt und sind viel wichtiger geworden. Heute prägen Geschäftsführer und CEO noch viel mehr das Gesicht des Unternehmens und vertreten ihr Geschäft gegenüber Kunden, Lieferanten oder stehen im Kontakt mit Kooperationspartnern und Konkur­renten.

Positiv aufgefallen ist der Forschungsgruppe auch die Tatsache, dass die beobachteten CEO aktuell deutlich mehr Zeit für Betriebsrundgänge und ­damit mehr Zeit für Kontakte zu ihren Mitarbeitenden einsetzen. Immerhin werden dafür pro Woche durchschnittlich 4,4 Stunden aufgewendet. Zu Zeiten der Mintzberg-Studie waren es lediglich 1,3 Stunden. Diese Aufgaben haben vielfach einen routi­nierten und zeremoniellen Charakter.

Es sind also Aufgaben, die meist sehr ähnlich ablaufen, jedoch durch die Ausführung durch den CEO einen Vorbildcharakter bekommen Es sind aber auch Aufgaben, die dabei helfen, den Kontakt zum operativen Geschäft nicht zu verlieren und dazu beitragen, dass der CEO informiert bleibt.

Entscheiden und handeln

In den persönlichen Kontakten und mit den darin zugetragenen Informationen muss das Management Entscheidungen treffen. Im Entscheidungsprozess der Unternehmen spielen die Geschäftsführer die Hauptrolle. Viel Zeit bleibt ihnen dafür jedoch nicht. Denn die Arbeitsbelastung der Manager ist immens, unter gros­sem Zeitdruck müssen sie jeden Tag viele, oft kurz dauernde Aufgaben ­erledigen: 90 Prozent der Tätigkeiten der beobachteten Manager dauern weniger als eine Stunde. Bei über einem Drittel ­ihrer Aufgaben brauchen sie sogar weniger als zehn Minuten. Die Konsequenz: Das Management kann sich nicht intensiv mit der Analyse von Daten beschäftigen, weil das schlicht zu viel Zeit beanspruchen würde. Oftmals werden die CEO ausserdem bei ihren Tätigkeiten unterbrochen. Dies wird durch folgende Aussage von Ralph Müller gestützt: «Während meiner sechs Jahre als CEO bei der Schurter AG war ich sozusagen der Chefkümmerer, betreute wichtige Projekte und Kunden.»

Gespräche bilden Strategien

Andererseits sagen die CEO von sich, dass sie vor allem strategische Aufgaben wahrnehmen würden, die weit über die Hälfte ihrer Arbeitszeit in Anspruch nehmen. So sagt Ralph Müller, der heute Leiter der Schurter Gruppe ist: «Ich bin nicht mehr ins Tagesgeschäft involviert und viel stärker strategisch tätig.» Gleichzeitig gaben die Assistentinnen und Assistenten der beobachteten Manager an, dass sich keiner ihrer Vorgesetzten mehr als 50 Prozent der Arbeitszeit mit strategischen Entscheidungen beschäftigen würde.

Was bedeutet es, wenn die befragten Manager davon ausgehen, dass sie ihre Zeit vor allem für Strategiefragen investieren, die Studie jedoch zeigt, dass sie mehrheitlich mit operativen Tätigkeiten beschäftigt sind? Heisst das, dass das Management sich falsch einschätzt? Wahrscheinlich nicht. Es bedeutet vielmehr, dass die strategischen Überlegungen immer mitlaufen. Viele Entscheidungen werden demnach nicht durch die akribische Analyse von Akten, Daten und Kennzahlen getroffen, sondern durch die eigene Erfahrung im Betrieb. Grundlage dafür sind Gespräche mit Mitarbeitenden und Externen.

Management verstehen

Was ist aus der Untersuchung der täglichen Arbeit der sechs Schweizer CEO zu schliessen? Managementtheorien, die vom Management verlangen, vor allem Daten und Berichte zu studieren und auf deren Grundlage strategische Entscheide zu treffen, schlagen fehl. Sie werden dem komplexen und schnellen Alltag der CEO nicht gerecht. Eine Managementtheorie, die das Management in seiner Arbeit, auch der strategischen, unterstützen will, müsste aber gerade das tun. Vor allem müsste die hohe Bedeutung der Kommunikation, insbesondere der informellen Kommunikation, berücksichtigt werden. Auch ist die Rolle des CEO als Repräsentant des Unternehmens und seine Verwurzelung im Geschäftsalltag stärker miteinzubeziehen. Das bedeutet: Die Managementlehre müsste viel mehr auf der operativen Ebene ansetzen, um dem Management tatsächlich eine Vereinfachung und Unterstützung für Entscheidungen bieten zu können.

Die Ergebnisse der Untersuchung haben noch eine zweite Implikation, die insbesondere für die Qualität der Weiterbildungen an Managerschulen wie Hochschulen oder Universitäten von Bedeutung ist: Wenn das Management nicht hauptsächlich organisiert, koordiniert, plant und kontrolliert, sondern viel stärker operativ tätig ist und wenig Zeit für Entscheidungen zur Verfügung hat, sollte das auch Auswirkungen auf die Art und Weise, wie das Management aus- und weitergebildet werden sollte, haben.

In modernen Managementlehrgängen müsste also – nebst Organisation, strategisches Management und Marketing und so weiter – auch operative Führung und Entscheidungsfindung in schnellen Geschäftszyklen geschult werden. Denn eine der Hauptkompetenzen von CEO scheint die Fähigkeit zu sein, operativ viele Bälle in der Luft zu halten und dabei die langfristige Entwicklung des Unternehmens durch seine unterschiedlichsten Entscheide positiv zu beeinflussen.

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