Das Idealbild agilen Arbeitens kann so skizziert werden: Interdisziplinäre und selbstorganisierte Teams verfolgen ein gemeinsames, übergeordnetes Ziel. Sie arbeiten in kurzen Zyklen, die vorher geplant und nachher in Feedbackschlaufen reflektiert werden. Es werden zwei Feedbackschlaufen unterschieden: eine zur Zusammenarbeit und eine zum Produkt.
Dadurch wird eine kontinuierliche Verbesserung der Arbeitsabläufe und des Produkts sichergestellt. Die Teams priorisieren ihre Aufgaben nach der Frage: Was bringt den grössten Wert für den Kunden?
Theorie …
Um sich selbst zu organisieren und zu prüfen, ob sie die richtigen Entscheidungen getroffen haben, herrscht eine grosse Transparenz bezüglich Kennzahlen (Umsatz, Nutzerzahlen, Kundenzufriedenheit etc.). Die Arbeit und den eigenen Fortschritt halten die Teams auf Boards und Charts fest.
Die Unternehmensführung sorgt für die notwendigen Rahmenbedingungen (personelle und finanzielle Ressourcen, Ausbildungs- und Informationssysteme etcetera), damit die Teams ihre Arbeit möglichst fokussiert zum Gewinn des Kunden umsetzen können.
… und Praxis
Herr Müller arbeitet bei der KMU AG. Vor vier Monaten wurde in seinem Bereich die agile Methode Scrum eingeführt. Ein Mitglied der Geschäftsleitung kannte Scrum von seinem früheren Arbeitgeber und hat deshalb die Einführung übernommen. In halbtägigen Schulungen wurde den Mitarbeitenden gezeigt, wie die Methode umgesetzt wird, und zum Nachschlagen wurde ein Manual abgegeben. Nach den ersten «Gehversuchen» der Teams mit der neuen Arbeitsweise wollte die Geschäftsleitung gerne wissen, wie es läuft, und definierte deshalb Kennzahlen, die von den Teams erhoben werden sollten. So wurden die Anzahl der in einem Sprint abgearbeiteten Aufgaben und der Zielerreichungsgrad jedes Sprints festgehalten und an die Geschäftsleitung berichtet.
Im Team von Herrn Müller machte sich bereits kurz nach der Einführung Unmut breit, da die Teammitglieder nicht einsahen, warum sie plötzlich anders arbeiten sollten als bisher – es hat bei ihnen ja
immer gut funktioniert. Sie taten sich schwer mit der neuen Methode Scrum, die viele Meetings beinhaltet: Jeden Morgen ein Stand-up, dann Planning Meetings vor jedem Sprint und am Ende sollten sie in einem Feedback-Meeting auch noch über ihre Zusammenarbeit reflektieren. Das alles hielt sie ja nur vom eigentlichen Arbeiten ab. Nach einem Monat beschlossen sie, die Stand-ups sein zu lassen, und nach zwei Monaten führten sie auch keine Retros mehr durch. Eigentlich arbeiteten sie nun wieder fast wie zuvor.
Denkweisen verändern
Ähnlich wie in diesem Beispiel wird in Unternehmen bisweilen agiles Arbeiten eingeführt. Es zeigt sich ein deutlicher Unterschied zwischen dem umgesetzten agilen Arbeiten in der KMU AG und dem Idealbild. Und wie in vielen Transformationen treten auch in diesem Beispiel Probleme auf. Geht man diesen Umsetzungsproblemen auf den Grund, landet man meist bei den gleichen Ursachen: Widersprüche zwischen den Werthaltungen der Beteiligten sowie Widersprüche in den Strukturen und Arbeitsbedingungen.
Das Team von Herrn Müller sollte eine neue Form der Zusammenarbeit umsetzen, die stark auf die Autonomie des Teams und dessen Selbstorganisation setzt. Von der Geschäftsleitung wurden Herr Müller und seine Kollegen aber mit der gleichen «Command and Control»-Haltung behandelt wie bisher, wenn etwa Details über Aufgaben und Zielerreichungsgrade fortlaufend gemeldet werden müssen.
Hier prallen unterschiedliche Welten aufeinander, die sich nicht vereinen lassen. Auf der einen Seite die traditionelle Welt, die sehr hierarchisch strukturiert ist und in der Mitarbeitende gewohnt sind, Projekte zuerst genau durchzuplanen und diesen Plan dann Punkt für Punkt umzusetzen. Auf der anderen Seite die agile Welt, die Selbstorganisation als einen zentralen Wert versteht und Projekte Schritt für Schritt plant und umsetzt und dazwischen immer wieder Abgleiche mit den Bedürfnissen der Kunden ermöglicht.
Diesen Wechsel hinzukriegen, bedingt eine Veränderung der Denkweise. Aus diesem Grund ist es bei der Einführung von agilem Arbeiten unabdingbar, dass in einem ersten Schritt zuerst die Frage nach dem «Wozu?» beantwortet wird. Oder anders gesagt: Welches Problem soll agiles Arbeiten eigentlich lösen? Denn agiles Arbeiten darf niemals Selbstzweck, sondern immer nur Mittel zum (Unternehmens-)Zweck sein. Also nur wenn allen Unternehmensakteuren klar ist, wozu das agile Arbeiten eingesetzt wird, welches Ziel damit verfolgt wird, kann Interesse und Motivation dafür entstehen. Das ist die Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Veränderung.