Forschung & Entwicklung

Fallstudie

Wie disruptive Technologien in der Produktentwicklung wirken

Disruptive Technologien – Innovationen, die bestehende Technologien oder Produkte er­setzen – prägen die Wirtschaft und die Gesellschaft. Welche Besonderheiten disruptive Technologien ausmachen und wie sie Produktentwicklungsprozesse beeinflussen, zeigt dieser Beitrag anhand einer Fallstudie aus der Fahrzeugindustrie in Deutschland.
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Der Begriff disruptive Technologie setzt sich zusammen aus den Begriffen Disruption und Technologie. Technologie beinhaltet Wissen, Kenntnisse und Fertigkeiten zur Lösung technischer Probleme sowie Anlagen und Verfahren zur praktischen Umsetzung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. Innovative Technologien führen zu einem technologischen Wandel, der in zwei Arten unterteilt wird:

  • kontinuierliche Verbesserung auf evolutionären Entwicklungspfaden: Die Technologien können sich dabei radikal oder inkrementell verändern;
  • disruptive Technologien auf neuen technologischen Entwicklungspfaden: Die Technologien können ein Resultat radikaler oder inkrementeller technologischer Innovationen sein.

Begriffserklärung

Nach dem S-Kurven-Konzept (Anm. der Redaktion: Das S-Kurven-Konzept ist ein Modell des strategischen Innovations­managements, dem die Annahme zugrunde liegt, dass Technik bezüglich ihres Weiterentwicklungspotenzials immer an technische Leistungsgrenzen stösst.) unterbricht eine technologische Diskontinuität durch revolutionäre Technologien bestehende Technologielebens­zy­klen und initiiert einen neuen Technologielebenszyklus in den bestehenden Anwendungs­feldern. Disruptive Technologien pene­trieren oder kreieren vollständig neue Industrien  durch Produkte oder Dienstleistungen in neuen Anwendungsfeldern, die dramatisch günstiger, besser und überzeugender sind als bisherige. Es werden neue Technologielebenszyklen auf neuen technologischen Entwicklungs­pfaden begründet. Sie resultieren meist in Produkten mit niedrigeren Kosten und schlechteren Eigenschaften als bisherige Produkte, gemessen an traditionellen Kriterien, jedoch weisen sie eine bessere Leistungsfähigkeit in anderen Leistungsdimensionen auf. Eine allgemeingültige, weitverbreitete Definition disruptiver Technologien gibt es nicht.

Weitere Probleme stellen die synonyme Verwendung der Begriffe disruptive Innovation und disruptive Technologie sowie die fehlende Unterscheidung zwischen Technologie und Technik in der englischen Sprache dar. Unter Bezugnahme auf die allgemeine Definition von Technologien sowie unter Beachtung der identifizierten Merkmale ergibt sich folgende Definition disruptiver Technologien: Disruptive Technologien sind durch Begründung neuer technologischer Entwicklungspfade entstehende neue oder bestehende naturwissenschaftlich-technische Erkenntnisse, die zur Lösung technischer Probleme in Produkten und Prozessen in neuen Anwendungsfeldern herangezogen werden, welche aufgrund ihres technologischen Potenzials vorhandene Marktordnungen zerstören können.

Praxis-Beispiel: Elektrofahrzeug

Ein Beispiel für disruptive Technologien ist die elektrische Antriebstechnologie, die das Produkt Elektrofahrzeug kennzeichnet. Auch das Mikromobil, mit welchem einzelne Personen transportiert werden, weist insbesondere in Ballungszentren mit hoher Schadstoffbelastung und Parkplatzmangel ein disruptives Potenzial auf. Auch die Technologie des autonomen Fahrens erfüllt die Charakte­ristika einer disruptiven Technologie. Werden alle Technologien kombiniert, beispielsweise in einem autonomen Mikromobil mit Elektroantrieb, wird der disruptive Effekt und die Marktattraktivität annahmegemäss verstärkt. Solche technologischen Entwicklungen erfordern Veränderungen im Produktentwicklungsprozess. Daher soll zunächst der Produktentwicklungsprozess in der Automobilbranche vorgestellt werden.

Die Anwendung

Die Innovative Mobility Automotive GmbH ist ein innovatives Start-up-Unternehmen aus der Fahrzeugindustrie mit der Zielsetzung, das entwickelte Produkt Colibri in die Serienproduktion zu überführen. Die Geschäftsidee basiert auf dem zukünftigen Nutzungsverhalten aufgrund veränderter Umweltbedingungen (Ur­banisierung, steigende Rohölpreise, Feinstaubbelastung in Städten etc.) und zukünftigen technologischen Möglichkeiten. Zur Lösung der technischen Probleme werden mehrere disruptive Technologien genutzt:

  • die elektrische Antriebstechnologie,
  • Leichtbautechnologie mit neuen Materialien,
  • Autonomes Fahren (geplant).

Bei den genannten Kerntechnologien wird die technologische Führerschaft im Marktsegment der Mikromobile angestrebt, sodass proaktives Handeln bereits in der Produktentwicklung nötig ist.

Kooperation mit externen Partnern

Innovationsnetzwerke werden durch Inspirationsquellen, Entwicklungspartner sowie Tester und Kritiker beeinflusst. IMA hat bei seiner Produktentwicklung ein umfassendes Innovationsnetzwerk aus Partnerunternehmen für die Entwicklung. Dabei nimmt IMA die Position des Netzwerkleiters in einem Netzwerk von fünf bis zehn Netzwerkpartnern ein.

Notwendigkeit von Prozessinnovationen

Der Produktentwicklungsprozess disruptiver Technologien ist bei IMA durch eine Reduzierung von Prozessen bei gleichzeitiger Erhöhung von Freiheitsgraden gekennzeichnet. Dennoch muss der Produktentwicklungsprozess einer klaren Struktur folgen. Hier wurden Prinzipien des Projektmanagements genutzt.

Neue Wettbewerbsstrukturen

Disruptive Technologien verändern Wettbewerbsstrukturen und treten häufig auf neuen Märkten mit anderen Märkten in Konkurrenz. Konkurrenten für das disruptive Produkt Colibri sind nicht andere Automobilhersteller und herkömmliche Fahrzeuge. Vielmehr sind es Produkte, die gleiche Funktionen in ähnlicher Weise erfüllen. So können Anbieter überdachter Motorroller oder kleiner Zweisitzer als Konkurrenten identifiziert werden.

Berücksichtigung von Kundenwünschen in der frühen Phase der Produktentwicklung

Empirische Analysen zeigen, dass die Kundenintegration in den frühen Phasen der Produktentwicklung von entscheidender Bedeutung ist, weil dadurch technische Unsicherheiten und Marktun­sicherheiten reduziert werden, was sich positiv auf den Projekterfolg auswirkt. Der IMA hat zunächst Innovatoren in der Pflegedienstleistung identifiziert, weil der Einsitzer ihrem Nutzungsverhalten gerecht wird. Zunächst wurde das Fahrzeug durch ein im Massstab 1:1 konstruierten Versuchsmodell für die Aufgabe getestet, später wurde der Prototyp durch Optik und Haptik ergänzt.

Definition von Zielmarkt, Marktpotenzial und Zahlungsbereitschaft schwierig

Disruptive Technologien setzen sich häufig auf neuen Märkten durch, und zunächst nicht auf Kernmärkten. Das führt zu Herausforderungen beim Einschätzen des Marktpotenzials und der Zahlungsbereitschaft. Dieser Effekt wird dadurch verstärkt, dass sich Produkte auf Basis disruptiver Technologien häufig nicht mit bisherigen Produkten vergleichen lassen. Wird ein autonomes Fahrzeug als Taxi genutzt, entfallen die Personalkosten, und der hohe Anschaffungspreis von 140 000 Euro amortisiert sich nach wenigen Jahren. IMA hat Kostenrechnungen herangezogen, die einen Kostenvergleich mit Produkten und gleicher Funktion ermöglichen.

Besondere Schleifen im Innova­tionsprozess anwenden: Assoziieren, Hinterfragen, Beobachten, Networking, Experimentieren

Erfolgreiche disruptive Innovatoren verfügen über besondere innovative Fähigkeiten. IMA hat verschiedene Feedbackschleifen implementiert und Experimentalbauten von Kunden bewerten lassen. Eine ausgeprägte Kritikfähigkeit und Offenheit für Neues sind entscheidende Eigenschaften bei der Entwicklung disruptiver Technologien. Um Expertenfeedbacks zu erhalten, wurden Online-Umfragen, qualitative Interviews und Designtests auf Messen durchgeführt.

Wechselnde, heterogene Teams mit externen Experten

Wechselnde, heterogene Teams tragen dazu bei, bestehende Denkmuster aufzuweichen und fördern die Innovationsfähigkeit. Das Team von IMA besteht auf vier Mitarbeitern mit verschiedenen Charaktereigenschaften und Ausbildungsständen. Interne Fachdiskussionen sowie die Einbeziehung externer Verbundpartner in den Produktentwicklungsprozess führen regelmässig zu neuen Sichtweisen.

Besondere Marketingkompetenzen

Disruptive Technologien stellen Unternehmen vor die Herausforderung, sich in den neuen Märkten richtig zu bewegen, um Produkte zu vermarkten. Als entscheidende Erfolgsvoraussetzung für die Marktforschung bei disruptiven Technologien wurde die Wahl der richtigen Forschungsmethode identifiziert. Erste Marketingerfolge bei potenziellen Zielgruppen konnte IMA durch das Ausstellen des Colibris auf Messen erzielen. Aus­serdem wurden Marktstudien beauftragt mit einer besonderen Fragetechnik, die eine Erfüllung der Kundenanforderungen in den Vordergrund stellt und nicht die Produkteigenschaften.

Zusammenfassung

Die Automobilbranche ist durch eine hohe Disruptionsreife gekennzeichnet. Unternehmen sind gefordert, ihren Produktentwicklungsprozess anzupassen, um erfolgreiche Produkte auf Basis disruptiver Technologien zu entwickeln. Dieser Beitrag stellt auf Basis der erarbeiteten Definition disruptiver Technologien Handlungsfelder für Anpassungen im Produktentwicklungsprozess vor: die Berücksichtigung von Kundenwünschen bereits in der frühen Phase, erhöhtes Marktrisiko, besondere Innovationsfähigkeit, die Teamzusammensetzung und die Marketingkompetenz.

Ein Weg, auf welche Weise Unternehmen im Produktentwicklungsprozess die Erkenntnisse umsetzen können, wird durch die in der Fallstudie des Start-up-Unternehmens Innovative Mobility Automotive GmbH genannten Methoden vorgeschlagen.

Porträt