Forschung & Entwicklung

Blick aus der Wissenschaft

Werden Sie «Akademiker des Alltags»!

Wissenschaftliche Resultate sollen Lösungen für praktische Probleme aufzeigen. Das ist ein logischer Anspruch. Andererseits kann aber auch die Berufspraxis profitieren, wenn «wissenschaftlicher» gearbeitet wird.
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In dieser Kolumne wird jeweils neuestes Wissen aus der Wissenschaft präsentiert und aufgezeigt, wie dieses Wissen für die Praxis nutzbar gemacht werden kann. Doch die Erarbeitung und Bereitstellung neuen Wissens ist nur einer der Mehrwerte, welche die Wissenschaft für die Berufspraxis bereithält. Vergessen gehen zumeist die wissenschaftlichen Denkweisen und Methoden – oftmals als «weltfremd» bezeichnet –, die ebenfalls grosse Mehrwerte für die Berufspraxis bieten. Diese Kolumne will Sie überzeugen, dass Sie – mehr als Sie denken – in Ihrem Alltag bereits als «Wissenschaftler» agieren und Sie Ihren Arbeitsalltag erfolgreicher gestalten, wenn Sie den «Wissenschaftler in sich» mehr ausleben.

Eine kleine wissenschaftliche Reise

Ich habe mich der Aufgabe verschrieben, Wissenschaft und Praxis anzunähern. Denn die wechselseitige positive Befruchtung habe ich in meiner Berufskarriere sowohl als Akademiker wie Praktiker stets unmittelbar gespürt. Einerseits erachte ich es als wichtig, dass wissenschaftliche Resultate Lösungen für praktische Probleme aufzeigen. Dieser Anspruch ist unmittelbar logisch und nachvollziehbar. Andererseits kann aber auch die Berufspraxis profitieren, wenn «wissenschaftlicher» gearbeitet wird. Im Folgenden möchte ich mich auf diesen oftmals vernachlässigten Aspekt konzentrieren, und auf die Mehrwerte eingehen, die das wissenschaftliche Arbeiten für die Berufspraxis bietet. Ich würde mich freuen, wenn Sie mich über die nächsten Zeilen auf eine kleine «wissenschaftliche Reise» begleiten würden.

1. Etappe: Stetes Interesse an den grund­legenden Zusammenhängen, auch über den Tellerrand hinaus

Für diese Reise brauchen wir eine Landkarte, und für eine Landkarte braucht es Wegmarkierungen. Deshalb sollen nun einige wissenschaftliche Arbeits­weisen und Fachwörter als «Wegmarkierungen» benannt werden, stets mit dem Verweis darauf, auf welche Art und Weise diese die Berufspraxis bereichern und wie sie uns im gelebten Alltag tatsächlich besser zum Ziel führen können. Ich erlaube mir gleich mit dem grössten zu beginnen: der Ontologie. Die Ontologie bezeichnet diejenige Denkhaltung, die wissenschaftliches Arbeiten überhaupt erst ermöglicht. Denn sie will den wesentlichen Zusammen­hängen auf den Grund gehen, will die einzelnen Bestandteile dieser Zusammenhänge auseinandernehmen und verstehen sowie untersuchen, was als Kern wohl bleibt und was sich in dieser Struktur der Zusammenhänge verändern wird.

Zu dieser Denkhaltung muss ich mich auch als Wissenschaftler stets «zwingen». Denn zu schnell gehen die grundlegenden Zusammenhänge im Tun des Alltags, in der Knappheit der Zeit und in den sich einstellenden Arbeitsroutinen unter. Wir kennen dies alle: Wir beginnen den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen. Und wir wissen alle: Dies beeinflusst die Qualität unseres Arbeitens negativ. Das Gegenmittel dazu ist das stete Interesse an der Ontologie, an den grundlegenden Zusammenhängen. Dies bedeutet wiederum ein stetes Sich-Interessieren und Sich-Beschäftigen mit Themen und Dingen gerade auch aus­serhalb des Berufsalltags: Gespräche mit Personen ausserhalb der eigenen Berufspraxis, das regelmäs­sige Lesen von Zeitung, Fachzeitschriften und Büchern, eine Affinität zu Kunst und Kultur oder Reisen. Es geht hierbei darum, immer wieder neue Perspektiven (auf das Gleiche) einzunehmen, Flughöhe zu gewinnen, sich dem Funktionieren der grundlegenden Zusammenhänge aus immer wieder anderer Richtung anzunähern. Dieses Sich-vom-Alltag Entfernen ist das beste Rezept für das Erlangen einer ontologischen Denkweise auch bezüglich der eigenen Berufspraxis und gegen «Betriebsblindheiten».

2. Etappe: Der Wahrheit möglichst nahe kommen

Aus der wissenschaftlichen Epistemologie können ebenfalls eine ganze Anzahl nützlicher Arbeitsweisen für die Berufspraxis abgeleitet werden. Die Epis­temologie beschäftigt sich mit der Frage, wie Wissen erarbeitet wird und was die Voraussetzungen für Wahrheit sind. Wissenschaftliches Arbeiten im Sinne der Epistemologie hat als Folge einerseits den Anspruch, der Wahrheit möglichst nahe zu kommen. Dies soll dadurch ermöglicht werden, dass die Realität valide, objektiv und reliabel abgebildet wird. Die Validität entspricht dem Anspruch, dass Aussagen über eine Stichprobe auch tatsächlich für die Gesamtheit aller zutreffen. Die Objektivität entspricht dem Anspruch, dass trotz verschiedener Rahmenbedingungen eine Untersuchung stets das gleiche Ergebnis hervorbringt. Die Reliabilität entspricht dem Anspruch, dass bei einer Wiederholung der Untersuchung sich wieder das gleiche Ergebnis zeigen würde.

In der Wissenschaft wird viel Aufwand betrieben, Untersuchungen valide, objektiv und reliabel durchzuführen. Denn wissenschaftliche Ergebnisse sollen schliesslich möglichst für alle und unter allen Rahmenbedingungen gültig sein. Im Berufsalltag ist ein derartiger Aufwand in der Regel nicht praktikabel, da dies sehr ressourcen- und zeitintensiv ist. Jedoch sollte auch im Berufsalltag der Anspruch bestehen, Entscheide auf einer möglichst validen, objektiven und reliablen  Informationsgrundlage zu treffen. Diesbezüglich sollten Sie sich stets fragen, ob in ausreichendem Masse (unterschiedliche) externe Zielgruppen und interne Anwendergruppen befragt und beteiligt, ob mögliche (externe und interne) Einflussfaktoren breit genug analysiert und berücksichtigt und ob etwaige Voreingenommenheiten auch genügend kritisch hinterfragt wurden. 

3. Etappe: Ergebnisse und Schlussfolgerungen infrage stellen

Andererseits hat wissenschaftliches Arbeiten im Sinne der Epistemologie den Anspruch der transparenten Darstellung, wie genau Ergebnisse erarbeitet wurden. Es geht also um die Möglichkeit der Falsifizierbarkeit der Ergebnisse durch die Offenlegung der Daten und Arbeitsschritte, die zur Formulierung der Ergebnisse führten. Auch hier ist es nicht zweck­mässig, dass im Berufsalltag der gleiche Aufwand betrieben wird wie in der Wissenschaft, um Falsifizierbarkeit zu ermöglichen. Aber auch hier geht es um eine Grundhaltung. Es geht darum, ob folgende Fragen in Ihrem Arbeitsalltag Gültigkeit haben und Anwendung finden: Habe ich ausreichend Mut, meine Ergebnisse und Schlussfolgerungen infrage stellen zu lassen, indem ich anderen meine Daten und Informationsgrundlagen offenlege? Bin ich bereit dazu, vor einem finalen Entscheid die Informationsgrundlage nochmals zu ergänzen oder anzupassen, als Folge der Rückmeldung anderer? Und vor allen Dingen: Habe ich mich immer wieder hinterfragt in der Ableitung von Schlussfolgerungen von den von mir analysierten Daten und Informationen? Habe ich die grundlegenden Zusammenhänge berücksichtigt oder erkannt (ontologisches Denken)? Habe ich wirklich die einzig richtigen oder prioritären Schlussfolgerungen gezogen?

Ich bin überzeugt, dass die beschriebenen Wegmarkierungen unserer skizzierten kurzen «wissenschaftlichen Reise» – und die damit verbundenen kritischen Fragestellungen – für die Orientierung im Berufsalltag nützlich sind, weil sie bessere Entscheide und erfolgreicheres Handeln versprechen. Dieses Versprechen entsteht daraus, dass wissenschaftlich geprägtes Denken und Handeln dazu veranlasst, die Scheuklappen möglichst weit aufzumachen, möglichst viele unterschiedliche Stimmen zu berücksichtigen und möglichst fundierte Entscheide zu treffen. Und dem – so meine ich – möchten wir uns doch in unserem alltäglichen Denken und Handeln alle verpflichten, oder?

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