Forschung & Entwicklung

Blick aus der Wissenschaft

Was macht eigentlich Sinn?

Warum die Suche nach Sinn auch in der Unternehmensführung eine entscheidende Grundlage für Erfolg und ­Erneuerung sein kann.
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Wir sehnen uns nach Sinn. Hierbei scheinen oftmals vermeintliche Gegensätze aufeinanderzuprallen. In einem sich beschleunigenden Alltag suchen wir das Bleibende. In der Vielfalt und Di­versität suchen wir das Bedeutsame. In der Selbstverwirklichung suchen wir Verbundenheit. In der Freiheit suchen wir den Zweck. Dieses Sehnen nach Sinn kann uns in eine Sackgasse führen. Dann nämlich, wenn wir uns zu voreilig mit dem Naheliegendsten und Eindimensionalen begnügen. Die Suche nach Sinn kann aber – wenn substanziell praktiziert – entscheidende Grundlage für Erfolg und Erneuerung sein; auch in der Unternehmensführung. 

Der grosse Unterschied zwischen «sinnvoll» und «sinnhaft» 

Mit Sinn und der Suche nach Sinn beschäftigen sich Philosophen und Theologen seit Jahrhunderten. Was hat das nun mit der Unternehmensführung zu tun? Um dies zu verdeutlichen, erlaube ich mir kurz abzuschweifen. Ich habe Chat-GPT getestet mit der Aufforderung: «Schreibe eine Kolumne im Stil von Ingo Stolz für das schweizerische KMU-Magazin». Erstellt wurde tatsächlich eine Kolumne in einem meiner Themenfelder, mit einer angemessenen Argumentation. Mehrheitlich hätte ich das kopieren können. Aber so wirklich zufrieden war ich nicht. Neben der Tatsache, dass dieser Text ja nun wirklich nicht von mir geschrieben war, störte mich der fehlende Funke, der von einem Text auf den Leser überspringen könnte. Ich stellte dann weitere Fragen an Chat-GPT, die ich schon lange einmal bearbeiten wollte: «Was können Konzernleitende von improvisierenden Jazz-Musikern lernen?»; «Stellen die Geisteswissenschaften für KMU relevante Werkzeuge bereit?»; «Hat die Entwicklung der künstlichen Intelligenz hin zum Menschlichen gleichzeitig eine Entwicklung der menschlichen Intelligenz hin zum Künstlichen zur Folge?» Stets waren die Antworten nuanciert und durchaus einsichtsvoll. Aber ohne Funken. Ich fragte mich, warum der Funkte wohl fehlte. Meine Antwort führte mich zum Thema «Sinn». Denn ich empfand die von Chat-GPT erstellten Antworten als «sinnvoll», aber nicht als «sinnhaft». Das heisst, dass die Antworten sinnvoll ihren Zweck erfüllten, effizient, pragmatisch und «gut genug». Aber sie trugen keine tiefere Bedeutung in sich, sie hatten keine innere Kohärenz oder Konsistenz in Bezug auf eine übergeordneten Sinnaussage, das heisst, sie waren nicht behaftet mit Sinn. Zu lesen war eine Aneinanderreihung von sinnvollen Inhalten, aber ohne übergeordneten tieferen sinnhaften Zusammenhang. Wenn man aber zum Beispiel weiss, dass unser heutiges Wort «Sinn» vom indogermanischen Wort «sent» (reisen; fahren) und vom lateinischen «sentire» (empfinden; wahrnehmen) stammt, so wird deutlich, dass dem Sinn durchaus etwas Tiefes und Bedeutungsvolles innewohnt, das zunächst erfahren und erschlossen werden muss.

In Unternehmen regiert das Sinnvolle

Und damit sind wir nun mittendrin in ­einer wesentlichen auch berufspraktischen Konstellation. Denn mir drängt sich der Eindruck auf, dass wir in unserem Berufsalltag stark darauf getrimmt sind – und immer stärker darauf getrimmt werden –, stets pragmatisch und umsetzungsorientiert sinnvolle Lösung zu identifizieren und zu implementieren. Das Sinnvolle regiert. Weil es eben einen unmittelbaren Zweck effizient erfüllt. Das bedeutet aber, dass für wesentliche Fragen zu oft zu wenig Zeit und zu wenig Energie aufgewendet wird. Wesentliche Bedeutungsfragen werden oftmals nicht reflektiert (zum Beispiel: ist ein auftre­tendes Problem wirklich Anlass, eine unmittelbare Lösungsantwort zu formulieren, damit es möglichst schnell gelöst ist; oder wäre es angesichts des Problems vielleicht angebracht, das bisher gewählte Vorgehen grundsätzlicher zu hinterfragen). Zusammenfassend erscheint mir also eine Tendenz deutlich zu werden: Dass im Kontext der beschriebenen Komplexität, Schnelligkeit, Diversität und Entwicklungsvielfalt paradoxerweise zumeist das «Sinnvolle» im Zentrum des Entscheidens und Handelns steht und die Beschäftigung mit dem «Sinnhaften» oftmals als zu aufwendig und langsam empfunden wird. Dies könnte dann eben zur Folge haben, dass wir uns in eine Sackgasse hineindenken, weil wir tiefere und breitere Varianten zu wenig durchdenken. 

Techniken für das Sinnstiften

Dabei wissen wir aus der Organisationsforschung, dass gerade angesichts der Komplexität, Schnelligkeit, Diversität und Entwicklungsvielfalt die Auseinandersetzung mit dem Grundsätzlichen und Sinnhaften wichtig ist, weil gerade dadurch Erfolg und kontinuierliche Erneuerung entstehen kann. So hat beispielsweise Karl E. Weick mit seinem Konzept der «Sinnstiftung» schon seit 1995 gezeigt, wie in Unternehmen gerade in komplexen und schnellen Veränderungssituationen der Mut zur Beschäftigung mit dem Sinnhaften zu besseren Umsetzungslösungen und zu nachhaltigerem Unternehmenserfolg führt. Sein Fokus auf das Sinnstiften stellt sich hierbei der Tendenz entgegen, möglichst schnell lediglich sinnvolle Lösungen zu suchen. Dafür hat er Techniken entwickelt: (1) Zeitslots explizit bereitstellen für die grundlegende retrospektive Reflexion (d. h. auf gemachte Erfahrungen zurückblickend) über gesetzte Ziele und Massnahmen, durch das Einbringen verschiedener Perspektiven im gegenseitigen Austausch; (2) den Aufwand nicht scheuen, zur Verfügung stehende Informationen zu kategorisieren – auch im ­gegenseitigen Austausch –, um grundlegende Muster und Zusammenhänge zu identifizieren; (3) «Narrative schaffen», das heisst, Werte und übergeordnete Ziele so zu klären und erklären, dass sie für alle (auch sich selbst) wirklich verständlich sind; (4) Rituale und Rou­tinen für den ­gegenseitigen Austausch ­etablieren, sodass dieser Austausch wirklich nicht vergessen geht. Die Forschung zeigt, dass die Investition in diese Techniken zu fundierteren Entscheiden führt, durch den Raum für Reflexion und Dialog der Widerstand gegen Veränderungen verringert wird, durch das bessere Verstehen von Chancen und Risiken Innovationspotenziale geschaffen werden, ein grösseres Zugehörigkeits­gefühl der Mitarbeitenden zu ihrem Unternehmen entsteht und sich die Veränderungsfä­higkeit und
-geschwindigkeit der Organisation insgesamt erhöhen.  

Das Alleinstellungsmerkmal im Kontext des Unternehmerischen

Weil durch die Auseinandersetzung mit dem Sinnhaften die Lösungsfindung scheinbar verlangsamt wird, muss man sowohl mutig wie auch geduldig genug sein, es trotz drängendem Tagesgeschäft dennoch zu tun. Auch dafür stellt Karl E. Weick Techniken zur Verfügung: Halte deine anfängliche Ungeduld und Unsicherheit einfach einmal aus, und schaue, was gemeinsam Überraschendes entstehen kann. Sage dir hierbei, dass chaotisches Agieren stets einem ordentlichen Nicht-Agieren zu bevorzugen ist. Ein objektives «Richtig» gibt es eh nicht. 

Sage dir weiterhin, dass nicht alles, was wirklich Substanz hat, von vornhinein unmittelbar sinnvoll oder nützlich erscheint und dass die rückblickend offensichtlichsten Entscheide in der aktuellen Entscheidsituation die oftmals am wenigsten offensichtlichen sind. Für eine solche Denkhaltung braucht es aber bei allen Beteiligten entsprechende geduldige Verhaltensweisen, das heisst eine entsprechende Verhaltenskultur. 

Gerade in dieser komplexen und schnellen Zeit regiert das Sinnvolle. Und das ist ja auch nicht per se schlecht. Denn wir sind alle auf pragmatische Lösungen angewiesen. Aber wir müssen uns davor bewahren, dass wir uns als Folge des Drangs zum Sinnvollen, zum Naheliegenden und auch Eindimensionalen in eine Sackgasse manövrieren. Denn das Sinnvolle wird uns immer schneller und mundgerechter aufgetischt. Es ist uns nun möglich, mit Chat-GPT auf Knopfdruck in wenigen Sekunden scheinbar sinnvolle Lösungen zu generieren. Auch ist es sehr einfach, irgendwo im Internet oder auf Social Media die eigene Meinung als sinnvoll bestätigt zu finden. 

Gerade angesichts dieser drängenden Kraft des scheinbar Sinnvollen braucht es für fundierte Entscheide und Handlungsweisen Mut und Zeit zur Auseinandersetzung mit dem Sinnhaften. Denn letztlich ist die Auseinandersetzung mit dem grundsätzlichen Sinn ein Alleinstellungsmerkmal des Menschlichen und auch ein Alleinstellungsmerkmal im Kontext des Unternehmerischen.

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