Forschung & Entwicklung

Blick aus der Wissenschaft

Vorsicht, Aneignung

Das Thema «Aneignung» erhitzt seit Monaten die Ge­müter. Das Einnehmen einer organisationssoziologischen ­Perspektive könnte für Abkühlung sorgen.
PDF Kaufen

Themen des Management und der Unternehmensführung faszinieren mich. Vor dem Ausleben dieser Faszination habe ich mich beruflich aber mit Literatur ­beschäftigt; mein Erststudium war die Litera­turwissenschaft. Aus diesem «früheren Leben» ist geblieben, dass mich Sprache ­besonders interessiert. Zum Beispiel: Welche Worte wählen wir für die Beschreibung der Komplexität unseres Alltags. Denn die Wortwahl sagt bereits viel darüber aus, wie wir diese Komplexität bewältigen. Aufgefallen ist mir in den letzten Wochen und Monaten diesbezüglich die kontroverse sprachliche Verwendung des Verbs «sich etwas aneignen». Über dieses Verb werden Hohelieder gesungen, werden Zeitungsspalten gefüllt, finden Twitter-Shitstorms statt, gehen Karrieren zu Ende. Mit diesem sprachlichen Phänomen möchte ich mich in diesem Beitrag beschäftigen. Um zu zeigen, dass wir auch in unseren Organisationen die sprachliche Kraft dieses Verbs ernst nehmen sollten. Und weil eine solche Organisationsperspektive durchaus konstruktiv zu den zuweilen hitzigen Diskussionen über «Aneignung» beitragen kann.

Zwischen wünschenswert und übergriffig

Auf den ersten Blick erscheint das Verb «sich etwas aneignen» unkontrovers, ja sogar sehr gewünscht. Denn es kann ­darauf hinweisen, dass wir etwas hin­zulernen, was wir vorher noch nicht konnten oder wussten. Und das ist doch gut! Beispielsweise beschäftigt sich das Berufsfeld der Pädagogik und Didaktik stets mit der Frage, wie Lernende sich am besten etwas aneignen können, um das angeeignete Wissen oder die angeeig­neten Fähigkeiten anschliessend nutzenstiftend einsetzen zu können. Gerade aus dieser Perspektive eines individuellen Lernenden wird das «Sich-etwas-Aneignen» positiv empfunden. 

Jenseits dieser individuellen Perspektive, aus einer gesellschaftlichen Sichtweise, kann das «Sich-etwas-Aneignen» aber durchaus problematisch gesehen werden. Über die Sommerwochen wurde beispielsweise hitzig diskutiert, ob es sein darf, dass Teile der Musikgruppe «Lauwarm» – aus hellhäutigen Band-Mitgliedern bestehend – mit Rastas auftreten. Der Vorwurf war, dass sich die Band-Mitglieder mit dem Tragen von Rastas un­berechtigterweise und übergriffig etwas kulturell angeeignet hätten, was ihnen nicht zustehe. Die Verantwortlichen der Berner Brasserie Lorraine hatten als Folge dieser als unbotmässig empfun­denen Aneignung einer kulturellen Ausdrucksform, die «Menschen [gehöre], die unter dem strukturellem Rassismus in diesem Land leiden» (Facebook-Mitteilung der Brasserie vom 26.07.2022), das Konzert von «Lauwarm» in ihrem ­Lokal abgebrochen. Über diesen Entscheid wurde dann erneut hitzig auf ­Social Media und in den Medien diskutiert, weit über die Grenzen der Schweiz hinaus. In diesem gesellschaftlichen Kontext kann also das «Sich-aneignen» als übergriffig und als unbotmässige Machtausübung empfunden werden.

Wertneutrales Verständnis in der Organisationswissenschaft

Die zuvor genannten Beispiele zeigen, dass das Verb «sich etwas aneignen» ­grosse Emotionen hervorrufen kann, sowohl sehr positive wie sehr negative, je nach Kontext. Und diese Emotionen haben dann wiederum grossen Einfluss auf unser Handeln und Denken; oder anders formuliert: diese Emotionen steuern, wie wir mit der jeweiligen Komplexität der Situation umgehen. Damit wir aber wiederum unsere Emotionen besser steuern können, möchte ich als Organisations­forscher die oben genannten Beispiele auf individueller Ebene (tendenziell positiv empfunden) und gesellschaftlicher Ebene (durchaus auch negativ empfunden) mit einer organisationssoziologischen Perspektive ergänzen, das heisst aus Perspektive zusammenarbeitender Menschen in einer Unternehmung. Diese organisationale Perspektive ist neutraler, weil Zusammenarbeit in Unternehmen in der Regel durch Pragmatik und der Notwendigkeit zur Lösungsfindung geprägt ist. Eine solche unternehmerische Pragmatik und Lösungsfokussierung kann die emotionalen Diskussionen über «Aneignung» also einerseits sachlich befruchten. Andererseits lernen wir aber auch, dass die sprachliche emotionale Kraft der Aneignung auch in Organisa­tionen eine Rolle spielt und genutzt werden kann.

In Organisationen findet «Aneignung» täglich statt. Und das ist gut! Denn Or­ganisationen verändern sich fortwährend. Und sobald sich etwas verändert, sobald etwas Neues entsteht, muss es von den Menschen «angeeignet» werden, so dass das Neue auch wirklich durch diese Menschen umgesetzt und gelebt werden kann. In der Wissenschaft bezeichnen wir diese Form der Aneignung von Neuem in einer Organisation mit dem Fachwort Appropriation. Eine Appropriation – eine «Aneignung» – wird in der Organisationswissenschaft damit ganz wertneutral verstanden, nämlich einfach als Suche von Menschen nach neuen Verhaltenslösungen in einem sich ver­ändernden Umfeld. Die Wissenschaft empfindet es also zunächst einmal als ganz normal, dass Menschen ihr Umfeld beobachten; in ihrem Umfeld stets Neues und Interessantes wahrnehmen; über­legen, ob und in welcher Form sie auf ­dieses Neue reagieren sollen; evaluieren, in welchem Verhältnis dieses Neue zu ­ihnen persönlich steht; zu einer für sie sinnvollen Einschätzung kommen, wie sie sich dem Neuen gegenüber positionieren wollen; und schliesslich neue ­Verhaltenslösungen erlernen und entwickeln, um im neuen Umfeld erfolgreich handeln zu können. Kurz: Das Studienfeld der ­Appropriationen erlaubt die neutrale und tiefe Analyse, wie und mit welchen Auswirkungen Menschen in Organisa­tionen auf Veränderungen reagieren. Meines Erachtens könnte die zuweilen hitzige Diskussion über «Aneignung» ­gerade von dieser Neutralität und dem tiefen Analysefokus profitieren. Um jeweils die Frage zu beantworten, warum etwas in welcher Form von wem und als Reaktion auf was angeeignet wird. Die Beschäftigung mit dieser Frage würde der eigentlichen Komplexität und Tiefe menschlichen Handelns und menschlicher Wahrnehmung gerecht werden.

Vielfältige Aneignungsprozesse

Gleichzeitig nimmt aber auch die Wissenschaft ernst, dass im «Sich-aneignen» etwas sehr Subjektives und Emotionales steckt. Denn wenn eine Appropriation stattfindet, wenn also ein Mensch sich etwas aneignet, dann ist ja nicht von vornherein klar, wie und mit welcher Haltung diese Aneignung stattfindet. Die Wissenschaft unterscheidet deshalb verschiedene Qualitäten einer Appropriation: eine direkte und damit vollständige Aneignung des Neuen (und damit eine vollständige Verhaltungsänderung im Sinne einer formulierten Veränderungsabsicht); die nur teilweise Aneignung (das heisst, Verhaltensweisen werden nur teilweise und punktuell angepasst, da nur ein Teil der Veränderungsabsicht als sinnvoll erachtet wird); die verbindende Aneignung (das Neue wird nicht vollständig übernommen, sondern bewusst mit dem Bisherigen und Bestehenden kombiniert); die vergrössernde Aneignung (das Neue wird vollständig übernommen, gleichzeitig aber als Vorwand genommen, um die Veränderungsabsicht noch viel weiter zu treiben); die kontrastierende Aneignung (das Neue wird zwar übernommen, aber nur für einen Teil der Organisation, während andere Teile der Organisation beim «Alten» bleiben); eine sich erklärende Aneignung (etwas Neues wird zwar angenommen, ohne aber zu wissen, was die Veränderungsabsicht wirklich sein soll; vielmehr wird die Veränderungsabsicht im Tun erarbeitet); oder eine negierende Aneignung (es wird aktiv Widerstand gegen das Neue geleistet). Diese verschiedenen Formen der Aneignung machen deutlich, dass die Reaktionen auf und die Aneignung von Neuem so verschieden stattfindet, wie Menschen verschieden sind. Das «Sich-Aneignen» ist also tatsächlich ein höchst individu­eller und emotionaler Prozess. Und die Wissenschaft bestätigt, dass diese Verschiedenheit und Emotionalität ganz normal ist, ja sogar eine Chance birgt. 

Das Verständnis von Aneignungsprozessen in all ihrer Vielfalt kann erhellend wirken. Dann nämlich, wenn nicht nur die Aneignung an sich beurteilt wird, sondern die Gründe und Formen dieser Aneignung aus individueller Perspektive ebenso beleuchtet werden. Mit dieser breiter ab­gestützten Beurteilung einer Aneignung werden wir als Menschen, in Organisationen und als Gesellschaft sprachfähiger und können die Komplexität unseres Alltags besser gemeinsam verhandeln.

Porträt