Forschung & Entwicklung

Blick aus der Wissenschaft

Virtuell führen – wie geht das richtig?

Virtuelle Führungsarbeit birgt viele Chancen, ist jedoch komplex und vielschichtig. Welche Kompetenzen müssen eingebracht werden, um die Vorteile nutzen zu können?

Wie sieht kompetente Führung von Projekten und Mitarbeitenden unter Zu­hilfenahme virtueller Kommunikations- und Informationstechnologien aus? Entsprechendes Praxiswissen ist im Moment enorm gefragt. Dies als Folge des Pandemie-Jahres; aber auch als Folge des Entscheids zahlreicher Unternehmen, auch zukünftig verstärkt auf Anwesenheitspflicht und Reisetätigkeiten zu verzichten und stattdessen virtuell zu interagieren. Ich habe es mir nun zur Aufgabe gemacht, entsprechend meiner Rolle als Wissenschaftler, für einmal zusammenzufassen, welche Erkenntnisse diesbezüglich denn als wirklich gesichert gelten können; denn man hört und liest ja diesbezüglich im Moment viel in den Medien. 

Herausforderungen und Chancen des virtuellen Führens
Dieser Beitrag dient also der Zusammenfassung derjenigen Best Practices virtueller Führung, die sich in Studien als nachweisbar nützlich erwiesen haben. Denn gute Führung – auch virtuelle Führung – hat zwar viel mit Intuition zu tun, aber die im folgenden präsentierten Forschungsergebnisse helfen ergänzend, diese Intuition kritisch und faktisch zu hinterfragen und etwaige blinde Flecken auszuleuchten. 

Für die Formulierung konkreter Vorschläge ist es zunächst wichtig, zu verstehen, wo gemäss empirischer Studien die grössten Herausforderungen und Chancen des virtuellen Führens liegen, das heisst des Führens über Distanz unter Zuhilfenahme virtueller Kommunikations- und Informationstechnologien. Die Herausforderungen liegen hierbei insbesondere darin, dass sich (a) virtuell geführte Teams schneller bilden, verändern oder auflösen als analog geführte Teams; (b) virtuell geführte Team-Mitglieder in der Regel einer grösseren Anzahl an Einzelprojekten zugeordnet sind, mit einer grös­seren Anzahl an überlappenden und gleichzeitigen Prioritäten; (c) das Risiko einer minimierten Team-Performance grösser ist als in analog geführten Teams; (d) die Ausbildung belastbarer Beziehungs- und Vertrauensverhältnisse erschwert ist beziehungsweise einen zusätzlichen Effort und zusätzliche Zeit benötigt; (e) der Abgleich von gemeinsam zu tragenden Zielsetzungen und entsprechenden Massnahmen schwerer vorzunehmen ist; (f) als Folge all der zuvor genannten Punkte der Koordinationsaufwand in virtuell geführten Teams höher ist. Diesen Herausforderungen stehen folgende Vorteile gegenüber: (a) ökologische Vorteile, da Reisetätigkeiten minimiert werden können; (b) Kreativitäts- und Innovationsvorteile, da virtuelle Teams in der Tendenz diverser zusammengesetzt sind und diese inhärente Diversität für Analyse- und Lösungsprozesse genutzt werden kann; (c) Motivationsvorteile, weil virtuell geführte Team-Mitglieder aufgrund der Distanz zumeist einen höheren Autonomiegrad in ihrer jeweiligen Arbeitsgestaltung besitzen; (d) Kommunikationsvorteile, weil auf einfache Art und Weise auch mit vielen Mitarbeitend­en gleichzeitig kommuniziert werden kann; (e) Rekrutierungsvorteile, weil Talente nicht unbedingt aufgrund ihrer geografischen Nähe ausgewählt werden müssen; (f) Informa­tionsmanagementvorteile, weil das Management von Informationsflüssen und -dokumentationen unmittelbar in die verwendete Kommunikations- und Informationstechnologie eingebettet werden kann. 

Grundlegenden Aufgaben, personenbezogene und technologische Kompetenzen 
Als Folge dieser Herausforderungen und Chancen ergeben sich folgende grundlegenden Aufgaben angesichts der virtuellen Führung von Projekten und Mitarbeitenden: (a) Balance der Führungsstruktur: Virtuelle Führung hat einerseits mit einer klaren Strukturierung, Priorisierung und mit klaren Arbeitsroutinen zu tun; andererseits aber gleichzeitig mit flachen Hierarchien, das heisst, der Delegation von Verantwortung, um dezentral vor Ort die jeweils richtigen Entscheide und Massnahmen treffen zu können; (b) sozial verankernde Führungshaltung: Führungspersonen kompensieren für die mangelnde Nähe und investieren besonders in aktives Zuhören, Feedback einholen, das proaktive Öffnen auch informeller Kommunikationskanäle und in das Sich-Einfühlen, im Sinne einer strategischen «Überkommunikation».

Aus diesen grundlegenden Aufgaben 
können wiederum folgende personenbezogene Kompetenzen, Interaktionsmuster und Verhaltensweisen der virtuellen Führungsarbeit als besonders nützlich abgeleitet werden: (a) Agile Führungstechniken zeigen sich in Studien als effektiv für die virtuelle Führungsarbeit, das heisst, Pro-Aktivität, Design-Thinking-Mentalität, Kreativitätstechniken, Balance zwischen Prototyping und Scaling, Networking Skills, transparentes und schnelles Informationsmanagement, Ermutigung zum Selbst-Denken, Trial-and-Error-Haltung; (b) ebenfalls zeigen sich interkul­turelle Führungstechniken als unterstützend in virtuellen Führungskontexten: Vorhandene Diversität wahrnehmen, hervorheben und nutzen, Mitarbeitende befähigen zum Dialog zwischen diversen Perspektiven; (c) proaktives Verlangsamen ist als notwendig zu erachten, um die erhöhte Gefahr von Missverständnissen in Arbeits- und Entscheidprozessen zu reduzieren, und um emotionalen und sozialen Themen – neben rein aufgabenbezogenen – Raum zu geben; weiterhin sind wichtig (d) die Ermutigung zur Autonomie und Übernahme von Verantwortung sowie authentisches Vorleben einer Fehlerkultur, jenseits von Detailkontrolle; (e) die Ermutigung und Ermöglichung zu Abgrenzung und «Abschalten», im Sinne eines sogenannten «Boundary Managements», sodass sich virtuelles Arbeiten nicht hin zu einer ermüdenden Dauerverfügbarkeit entwickelt; (f) regelmässige Nutzung von bildgebenden Kommunikationskanälen, als Ergänzung reiner schriftlicher Interaktionsroutinen.

Neben diesen personenbezogenen Kompetenzen sind schliesslich folgende technologischen Kompetenzen nötig, als zusätzliche Grundlage guter virtueller Führungsarbeit: (a) die Kompetenz zur Evaluation technologischer Trends und Entwicklungen, um Opportunitäten zur weiteren Verbesserung virtueller Führungsarbeit zu evaluieren; (b) die Kompetenz zur Mitgestaltung einer Applikationsumgebung und einer nutzstiftenden IT-Architektur, in Interaktion mit internen und externen IT-Spezialisten; (c) die Kompetenz zum Schnittstellenmanagement zwischen mehreren gleichzeitig genutzten technologischen Lösungen; (d) die Kompetenz zur (sozialen) Kontextualisierung von Software, angepasst an den jeweiligen Arbeits- und Aufgabenbereich.

Vorgehensweisen virtueller Führungsarbeit
Aus den oben erwähnten Hinweisen ergeben sich konkrete Vorgehensweisen bezüglich einer guten Führungsarbeit in virtuellen Kontexten. Explizit möchte ich aber auch hinweisen auf Themen virtueller Führungsarbeit, über die die Forschung überraschenderweise noch relativ wenig weiss: (a) Das virtuelle Führen über internationale/interkulturelle Distanz ist nach wie vor stark untererforscht, trotz der Tatsache, dass virtuelle Kommunikations- und Informationstechnologie gerade auch zur Überbrückung internationaler Distanz genutzt wird (siehe dazu mehr in meiner Wissenschaftskolumne im KMU-Magazin 03/21); (b) das virtuelle Führen direkt durch virtuelle Technologie selbst; oder genauer: durch Artificial-Intelligence-Systeme, die mit ihrer jeweiligen eingebetteten künstlichen Intelligenz unabhängig von einer menschlichen Führungskraft Führungstätigkeiten wahrnehmen (was bereits in überraschendem Ausmass geschieht, wahrgenommen durch Avatare, Chat-Bots, Work-Tracking-Systeme und Dash-Boards).

Aus den obigen Ausführungen werden die Komplexität und Vielschichtigkeit guter virtueller Führungsarbeit unmittelbar deutlich. Denn eine Führungsperson muss Führungsbeziehungen im Kontext der zum Teil schwierig greifbaren Drei-Dimensionalität von Distanz, Ort und Zeit sowie unter Berücksichtigung der Charakteristiken der jeweils genutzten Informations- und Kommunikationstechnologie gestalten.

Diese Zusammenfassung von durch Forschung validierter Praxis wollte einen Beitrag dazu leisten, wie wir diese Herausforderungen virtueller Führungsarbeit effektiver und effizienter bewältigen könnten. Denn eines ist, scheint mir, sicher: Wir werden in Zukunft eher mehr als weniger virtuell führen. Und dafür sollten wir uns vorbereiten. 

Porträt