Forschung & Entwicklung

Blick aus der Wissenschaft

Unternehmensführung im Paradigmenwechsel

Wie hat sich Unternehmensführung verändert, und was bedeutet das für die moderne Führungsarbeit in der Zukunft? Einige Leitgedanken.
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Das letzte Jahr habe ich diese Wissenschaftskolumne der übergeordneten Frage gewidmet, was sich im Zusammenarbeiten in Unternehmen verändern wird, und was dies für die Unternehmensführung gerade in KMU bedeutet. Hierbei habe ich aus verschiedenen Perspektiven Forschungsergebnisse referenziert und daraus konkrete Empfehlungen für die Unternehmenspraxis abgeleitet: Wie führe ich richtig, wenn ich mit Mitarbeitenden in erster Linie virtuell in Kontakt trete; wie führe ich in internationalen Kontexten, wenn es schwierig ist, geografische Distanz zu überbrücken; wie führe ich ein Unternehmen in die und in der Post-Corona-Zeit. Rückblickend auf diese Fragestellungen stellte sich mir in der grösseren Ruhe des Sommers nun die übergeordnete Frage, wie sich Un­ternehmensführung ganz grundsätzlich und vielleicht kategorisch verändert hat. Daraus sind einige Leitgedanken entstanden, die die Haltung betreffen, mit der moderne Führungsarbeit in Zukunft wahrgenommen und die bei der Rekrutierung und Entwicklung von Führungsnachwuchs berücksichtigt werden sollten: (1) das gleichzeitige Vorhandensein von Kontexten und von Kontextlosigkeit; (2) die Philosophie eines menschenzentrierten und wertschätzenden Arbeitsansatzes; (3) das gleichzeitige Vorhandensein von Handlungsimpuls und Vorherbestimmtheit; (4) die Denkweise einer unternehmerischen Zufälligkeit statt einer strategischen Rationalität. 

Kontext versus Kontextlosigkeit

Wir machen täglich die Erfahrung, dass in verschiedenen Kontexten – das heisst, in verschiedenen Organisationen, Regionen, Kulturen, Branchen, Märkten – verschiedene Gepflogenheiten herrschen und entsprechend berücksichtigt werden müssen. Jeweilige kontextuelle Faktoren spielen also bei der Ausgestaltung von Unternehmensführung eine grosse Rolle. Andererseits erkennen wir aber auch, dass gewisse ökonomische und gesellschaftliche Entwicklungen so stark sind, dass sie übergeordnete Wirkung entfalten, über die Unterschiede von Kontexten hinweg. Hierbei sind beispielsweise die Globalisierung und die Digitalisierung von Märkten zu nennen, aber ebenfalls Kundenerwartungen bezüglich einer nachhaltigeren Unternehmensführung. Hieraus ergibt sich der Leitgedanke, dass Führungskräfte heute sowohl stark kontextbezogen – den jeweiligen Routinen und Gepflogenheiten eines spezifischen Kontexts entsprechend – sowie stark kontextübergreifend denken und handeln müssen, das heisst übergeordnete Trends antizipierend. Dieses gleichzeitige Vorhandensein von Kontext und Kontextlosigkeit hat konkrete Auswirkungen auf die Arbeit der Unternehmensführung: Weil die Zahl der internen und externen Stakeholder, mit denen Entscheidungsträger zusammenarbeiten, zunimmt; die Arten von Kontextgrenzen, über die hinweg Führungskräfte interagieren müssen, komplexer werden; und die Notwendigkeit, gleichzeitig lokale Reaktionsfähigkeit und übergeordnete Koordination in Einklang zu bringen, steigt.

Menschenzentrierte Wertschätzung

Der zweite Leitgedanke beginnt mit der sehr einfachen Aussage: Es kommt auf den einzelnen Menschen an. Dies gilt auch für die Unternehmensführung. Damit will ich ausdrücken, dass die Erlangung von Geschäftserfolg nicht nur als Folge strategischer und operativer Lösungen verstanden werden darf. Vielmehr sollte sich der Fokus zusätzlich und konsequent gerade auch auf die Perspektive einer einzelnen Führungskraft beziehungsweise einzelner Mitarbeiter richten, als individuelle Treiber von Handeln und Veränderung. Denn die betriebswirtschaftliche Forschung schenkt der Rolle des unternehmerischen Individuums oftmals weniger Aufmerksamkeit als abstrakten betriebswirtschaftlichen Mechanismen. Ein solch nötiger Fokus auf das Veränderungspotenzial Einzelner ist hierbei zu ergänzen mit einem zusätzlichen wertschätzenden Fokus. Dies bedeutet, dass die Unternehmensführung einer Haltung bedarf, die auf die Kraft von Menschen vertraut; dass nämlich jeweilige Lösungen im Kontext anstehender Herausforderungen hervorgebracht werden, als Folge des Handelns und der Kompetenz der in einer Organisation arbeitenden Menschen, und weniger bzw. nicht in erster Linie als Folge abstrakterer strategischer, operativer und verwaltungstechnischer Konstellationen.

Gleichzeitiges Vorhandensein von Handlungsimpuls und Vorherbestimmtheit

Aus dem Leitgedanken einer menschenzentrierten Wertschätzung folgt, dass Einzelne in der Tat wirkungsvolle Treiber des Wandels in ihren jeweiligen Kontexten sein können. Diese Überzeugung in den Handlungsimpuls Einzelner entspricht der Haltung, dass die Welt stets im Entstehen begriffen und daher durch menschliches Handeln gestaltbar ist. Gleichzeitig wissen wir aber alle aus eigener Erfahrung, dass Unternehmensführung in hohem Masse von kontextuellen Faktoren abhängig ist (siehe oben); oder eben sogar durch diese Faktoren vorherbestimmt ist. Diese Dualität des Potenzials für engagiertes Handeln einerseits, aber von Vorherbestimmtheit andererseits bedeutet, dass Unternehmensführung gleichzeitig durch mutige Potenzialentfaltung, aber ebenfalls durch relativierende Bescheidenheit geprägt ist. In der Wissenschaft sprechen wir hierbei von einer Soziomaterialität unseres Tuns, das heisst, dass wir einerseits über Handlungsimpulse verfügen und diese ausleben sollten, gleichzeitig aber strukturell gebunden und zuweilen in unseren Handlungsoptionen stark reduziert sind. Mit diesem Leitgedanken einer gleichzeitigen Existenz von treibendem Handeln und materialistischer Gebundenheit wird deutlich, dass erfolgreiche Unternehmensführung einerseits von sachkundigen, geschickten und verantwortungsbewussten Akteuren abhängt, die aber gleichzeitig die Begrenztheit des Gestaltungsrahmens kennen und konstruktiv akzeptieren.

Unternehmerische Zufälligkeit versus strategische Rationalität

Dieser letzte Leitgedanke geht davon aus, dass erfolgreiche Unternehmensführung im Wesentlichen auf Verhaltensweisen des Entrepreneurship zurückzuführen ist. Dies tönt banal, beinhaltet aber doch Weitreichendes. Denn dieser Leitgedanke betont damit implizit, dass erfolgreiche Unternehmensführung weniger mit einer strategisch rationalen als mit einer opportunistischen Denkweise zu tun hat (die angesichts der sich erhöhenden Komplexität und Geschwindigkeit von Unternehmensprozessen stets wichtiger wird). Erfolgreiche Unternehmensführung hat also gerade auch damit zu tun, ob sie sich in der Lage zeigt, flexibel und instinktiv auf sich bietende Gelegenheiten und auch Zufälle zu reagieren, ­basierend auf der Einsicht, dass kontinuierlicher Wandel jede gegenwärtige Situation kennzeichnet. Dieser Fokus auf ­Entrepreneurship ist implizit ebenfalls eine Abkehr von einem traditionellen Verständnis der Unternehmensführung als ein eher strategisches oder schema­tisches betriebswirtschaftliches Paradigma. Bei der Unternehmensführung geht es also weniger um die lineare und stringente Umsetzung strategischer und operative Leitlinien, sondern vielmehr um das schnelle Erkennen von Chancen und deren geschickte Skalierung in Zusammenarbeit mit Mitarbeitern und Partnern. 

Die hier formulierten Leitgedanken führen unmittelbar zur Aussage, dass Un­ternehmensführung in erster Linie mit der Suche nach Möglichkeiten zu tun hat, und mit dem Prozess der Entdeckung, Bewertung und Nutzung dieser Möglichkeiten durch die Handlungsimpulse Einzelner, im gleichzeitigen Abgleich mit den Regeln und Gepflogenheiten eines determinierenden Kontextes. Banal ist diese Aussage nicht. Denn sie stellt dar, wie genau jeder von uns sich demjenigen Geschehen über positionieren kann, das uns als Folge der oftmals empfundenen Komplexität, Geschwindigkeit und Determiniertheit immer wieder auch limitierend erscheint. Dem entgegengesetzt ist der agierende Mensch mit seinem Potenzial für positive und wirksame Handlungslösungen.

Porträt